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Dienstag, 2. Februar 2021

MyLife 1989 - 1992

Das Leben ist wie eine Triebfeder, die sich bis zum Ende immer wieder selbst neue Energie gibt.

Das Jahr 1989 begann in der Kursredaktion der Börsen-Zeitung. Diese Zeit endete allerdings bereits Ende Januar. Es folgte ein Stressdurchlauf verschiedener Abteilungen der Wertpapier-Mitteilungen. 

Meine Probezeit wurde verlängert. Nicht nur, dass ich die geforderte Gehaltserhöhung bekam, sondern es wurde diese auch vor allem in Hinblick auf meine engagierte Einarbeitung und in Anerkennu8ng meiner guten Leistungen gewährt, wie es in einem Brief hieß, den mir der Geschäftsführer, Herr E., persönlich übergab. Ein ganz anderer Ton also, als der den ich ein Jahr zuvor zu hören bzw. zu lesen bekam. Es geisterten allerdings Gerüchte in der Abteilung herum, die eine Assistenz meinerseits mit gewissen Prüfungsfunktionen beinhalteten. Dabei hatte ich noch am Anfang meiner Eingabetätigkeiten unter Augenflimmern gelitten. Ich musste mich erst an die blau und grüne Schrift auf den Bildschirmen gewöhnen. Im Widerspruch zu meiner Belobigung stand allerdings der Zustand meiner jeweiligen Arbeitsplätze. Es kam sogar vor, dass sich eine Kollegin dafür einsetzen musste, dass ich wenigstens einen halbwegs anständigen Schreibtisch bekam. 

Musik machte ich immer noch gern. Der Kräfteverschleiß war allerdings schon bemerkbar. Ich litt zudem unter Störungen beim Autobahnfahren, musste ab und an das Steuer entnervt abgeben. Aufgrund meiner Schwierigkeiten, die Augen zum räumlichen Sehen auf eine Achse zu bringen, wusste ich manchmal nicht, ob ich bei langen Geradeausfahrten bergauf oder bergab fuhr. Die Augenmuskeln waren bei dem abweichenden Auge oft rot.

Zur Musik schrieb ich: "Die Musik ist wie eine Sucht und das Auftreten Wollen letztlich eine Verlockung, der ich nicht widerstehen kann."

Je mehr Anforderungen ich real zu bewältigen hatte, desto mehr lebte ich traumhaft meine Fantasien aus. Das konnte neben sexuellen Verlockungen auch reale Bezüge enthalten und auch die Realität führte mich manchmal in Versuchung.   

"Heute Nacht fuhr ich mit der U-Bahn nach Island, um von dort zum Nordpol zu gehen. Obwohl oberirdisch Schnee lag, hatten die U-Bahnstationen Palmenpflanzen und tropische Gewächse aufzuweisen. Wir hatten ein schönes Zimmer und wurden freundlich empfangen.-"

"Man hätte uns die Scheibe unseres Golf eingeschlagen und eine Kiste Mist auf den Rücksitz gestellt. Ich sehe die Scheißwürste noch vor mir. -"

Wir machten eine Busfahrt zu den Schlössern der Loire.

"In Orleans französische Frauen studiert. Wetter heute schwül bis gewittrig. Bin ziemlich mitgenommen gewesen vom gestrigen Abend. Es gab einen Aperitif und dummerweise habe ich noch Bier getrunken. Unsere Reiseleiterin ist die Tochter des Bäckers Girault, der mir noch aus Zeiten des Lang Verlags in Eschersheim bekannt ist. -"

"Busreisen - nie wieder. Die Leute haben uns fast ignoriert, nachdem wir uns einen Ruhetag gegönnt haben. irgendwie versauen einem diese verkalkten Typen immer alles, obwohl so eine Scheißbesichtigungstour eigentlich nicht schlecht ist, wenn sie menschenwürdiger organisiert würde. -

Zur Liebe: "Ich bereite den Menschen, die mich lieben, nicht viel Freude, aber umso unnachsichtiger gehen sie mit mir um, was die menschliche Liebesfähigkeit doch sehr in Frage stellt. -"

"Heute meine Traumfrau gesehen, schwarzes Kleid, schlank, blond, blaue Augen, setzte sich in der U-Bahn mir gegenüber und warf mir beim Aussteigen einen sehnsüchtigen Blick zu. -"

Zweifel: "Ich überlege, ob ich die Eintragungen in diesem Buch nicht beende, denn sooft ich nach lese, ist nur von Stress und ähnlichen negativen Dingen die Rede und das entspricht auch nicht meiner eigentlich positiven Einstellung. Es führt zu einer Überbewertung der Mühen, die ein Leben nun einmal beinhaltet, soll es einigermaßen sinnvoll sein. Verschiedenes ist zum Abschluss gekommen.                  "- Manchmal denke ich an meine Eltern als fast harmlose, liebe nette, Menschen, wenn ich das verstockte, hinterhältige Bauerngebaren mancher Leute betrachte. -"

Nachklapp Lang Verlag: " ,The Great Escape' gibt es nun nicht mehr, denn die Frauengilde des Verlags hat sich erst im Juli von mir verabschiedet, nicht ohne mir ihre Eingeschnapptheit zu zeigen. Ich bin zu resigniert, den Trieb zu verfolgen. Keine Peepshows, keine Videokabinen, stattdessen kaufe ich in der Mittagspause Briefmarkenalben und lese in der Pause Fachbücher. -"

Ab und zu traf ich noch meine ehemaligen Kolleginnen vom Lang Verlag. Sie waren mit der Situation im Verlag nicht zufrieden, beneideten mich um meine neue berufliche Zukunft. Mit Irene M. speziell gab es mehrere Telefonate.  

Kassel: "Ich werde nun nicht mehr zuhause anrufen, habe ohnehin das Gefühl, das dies nicht mehr notwendig ist, seit mein Vater in Vorruhestand ist und kein Lückenbüßer für meine Mutter mehr erforderlich ist. -"

Frankfurt interessierte mich und stieß mich ab: "Am Freitag Fotoapparat mitgenommen und Fotos vom Messeturm gemacht. -"

"Überhaupt die Leute hier. Neulich gehe ich zum Hauptbahnhof und will, wie jeden Abend, meine Fahrkarte am Automaten ziehen. Eine Frau sagt mir: der Apparat ist kaputt. Ein Mann wird aufmerksam und fragt: wie viel haben Sie denn eingeworfen? Ein Fünfmarkstück. Er: ja, da müssen Sie oben zum FW-Schalter gehen. Ich frage wo, denn ich kenne nur den FVV in der B-Ebene der hautwache. Trotzdem lasse ich mich verwirren und ziehe Leine. Er verklebt die Einwurfschlitze auch noch einiger anderer Apparate. Anschließend holen er und noch ein anderer Blaumann die Geldstücke aus dem Automaten. Oben laufe ich an geschlossenen DB-Schaltern vorbei, natürlich kein FVV-Schalter zu sehen. Da ich kein Kleingeld für den Automaten mehr besitze, fahre ich schwarz zur              Konstableıwache. -"

Sommerurlaub wieder einmal auf Mallorca: "Seit gestern sind wir hier in Cala d'Or, Mallorca, im Hotel Rocador. Die Betten sind hier spanisch, alles verrutscht. Das Zimmer hat den üblichen Steinfußboden und ist sehr hellhörig. Gestern nervten die Nachbarn mit lautem Säufergeplärre. Unser Blick vom Balkon geht auf einen Teil dieser Bucht und die Pinien der Gartenanlage. -"

Weitere Selbstzweifel: "Während eine nervige Fliege über meine Füße krabbelt, versuche ich meine Gedanken zu ordnen. Wenn Jesus heute am Kreuz hinge und fragen würde: Mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Was könnte er antworten, etwa: Weil ich solche dürren Jammerlappen wie Dich nicht leiden kann. Die dickbäuchigen, zufriedenen, mit ihren kleinen Sorgen beschäftigten, Menschen sind mir lieber. Die ihren Weg klaglos gehen, alles akzeptieren, die schweigende Mehrheit, die Du zu kritisieren wagst, die dafür sorgen, dass alles weitergeht und große Änderungen, die ich nicht wünsche, auch nicht statt finden. Die Menschen wollen kein Seelenheil, keine reine Lehre. Sie wollen Farbfernseher, Videorecorder, Autos etc., wie Du sehen würdest, wenn Du 2000 Jahre Zeit hättest. -

Immer noch Urlaub: "lm Wasser der kleinen Buchten um Cala d'Or braucht es nachmittags kaum noch Schwimmzüge, um oben zu bleiben. Die Sonnenmilch und das -öl trägt, Fett schwimmt eben immer oben. Es zeigt sich außerdem in außer Form geratenen menschlichen Daseinszuständen und deren Verkörperungen. - So erklärt sich manches Gläschen und ich glaube, ich habe das auch bald nötig, bevor ich den letzten Rest Verstand in der Sonne verbraten lasse. -"

Abschied: "Film ab. Der Zug rollt gen Frankfurt. Es ist dunkel, sodass ich nicht viel sehe. Mein Vater bleibt mit hängenden Schultern am Gleis zurück." "Ich grabe und hebe Erde aus. Die Erde ist mit feinen Wurzeln durchsät. Als ich einen Teil der Erde abgetragen habe, merke ich, dass es sich um die Form eines Menschen handelt. Trotzdem empfinde ich kein Entsetzen und keine Angst, grabe weiter bzw. nehme mit bloßen Händen Zugriff und löse die Erdklumpen mit den feinen Verwurzelungen."

Grenzöffnung 1989 - für mich als Kasselaner etwas Besonderes: "Heute in Kassel und Hann. Münden gewesen. In Kassel Trabis fotografiert. -" Jubelszenen haben wir in Kassel nicht erlebt.  


Das Herrhausen-Attentat: "Vorweihnachten, ich möchte Konflikte lösen und schenken. Sonntag in Homburg gewesen, beim Herrhausen-Haus. In Gedanken und tatsächlich erstmals den Weg nachvollzogen, wenn man sich dann vorstellt: plötzlich eine Explosion und alles aus. Noch vor kurzem war ich, wenn auch kurz, zum Sonnen in der Taunus-Therme. Der Platz ist mir also vertraut. Das erste Mal habe ich bei einem Anschlag das Gefühl, betroffen zu sein. -"

Wiedervereinigung?: "Macht hoch die Tür, aber den Geldbeutel schön weit. Inmitten des menschlichen Nihilismusgetöses faselt ein Vorsitzender etwas von Vereinigung und die Menge ruft: Helmut, rette uns. Das ganze Leben georbeidet.. sächselt es uns entgegen. "

Weihnachten: "Gambacher Kreuz und Einmündung in die Menge der roten Heckleuchten, die sich einer Schlange gleich durch den Taunus windet. Diese Lichter sind Belastung und Wärme zugleich. Die Weihnachtslichter waren dieses Jahr kalt. Brachten keine Bewegung von außen. Am Heiligabend spielten wir in Kalbach in der Kirche und nachdem ich tagsüber noch einmal geprobt hatte, klappte es sehr gut. Es machte viel Spaß, an diesem Tag aktiv zu sein. Wie überhaupt das Schlimmste an den Weihnachtsfeiertagen die Passivität und das Rumsitzen Müssen ist. -"

Auch 1990 träume ich weiter: "Draußen tobt nun schon der vierte orkanartige Sturm der letzten Tage. lm Bett liegend, fühle ich wie der Wind durch die undichten Fenster der Wohnung dringt. Der Sog wird stärker, ich greife zum Schalter meiner Nachttischlampe. Als ich den Schalter in der Hand halte und das licht anknipsen will, zieht der Sog die Leitung aus meiner Hand, wird immer stärker und reißt an allen Gegenständen. Plötzlich bricht das Fenster des Schlafzimmers und ein Feuerstrahl bricht kreisförmig durch. Ich schreie und wache auf, ohne besonders erschreckt zu sein. Das alles nach einem Weltuntergangszenario im öffentlich-rechtlichen Programm des Fernsehens, unterstützt von den chaotischen Wetterverhältnissen dieses Winters. -"

"Wir sind irgendwo bei Zwickau. Wir fragen nach dem Weg, wollen weiter. Die Luft ist schweflig gelb. Erde wird verbrannt, dann in eine Kiste getan. Dazu kommen Flaschen mit Roséwein. Das alles soll vergären zu etwas ganz Leckerem. Mir kommt die Erde so fruchtbar vor, fast essbar wie das Leben. Ich sehe die feuchten Krumen. Vermischt mit irgendwelchem Abfall. Neues soll daraus entstehen. -"

"Ein schmales Frauengesicht sieht mich an. Ich habe Angst vor der zudringlichen Art und der schlangenhaften Umklammerung. Versuche mich zu entwinden, wende Gewalt an. Immer wieder Gegenangriffe. Ein langer Kampf. Dann das Gefühl, sie verlassen zu können. Ich schicke einen Löwen in den Kampf, um sie an meiner Verfolgung zu hindern. Ich verlasse sie auf einem umzäunten Grundstück und beobachte, dass sie, den Löwen an die Leine nehmend, sich zurück zieht. Naja, Raubtiere sind unberechenbar. Ob ich sie wiedersehe, denke ich und fahre. -"

Doch real passierte auch einiges. Wir fuhren über Fladungen in die DDR , tranken Kaffee auf der Burg Landsberg, einem ehemaligen Renommierrestaurant. Bedrückende Eindrücke sammelten wir beim Anblick der Computerfabrik "Robotron" in Zella-Melis. Über Mellrichstadt ging es zurück. In der Firma kämpfte ich immer noch um einen anständigen Stuhl, den ich mir gegen den Widerstand meiner direkten Vorgesetzten mittels orthopädischen Rezepts verschaffte. Auf Oscar Lafontaine wurde ein Attentat verübt, es war der einzige Politiker, der auf die Kosten der möglichen deutschen Einheit hinwies.

Verspätet erfuhr ich vom Tod meines Halbonkels Siegward. Er war nach drei Wochen an Tumoren in der Lunge und der Blase verstorben. Sicher wusste meine Mutter früher davon, da sie in telefonischen Kontakt mit seiner Frau Jenny stand. Wieder drängte sich mir die Frage auf: " Wer war der Vater meines Vaters? .. Was mich erbittert, das ist das die Generation der älteren Dreyers, z.B. ein Herr Egbert Dreyer in Peine darüber keine Auskunft geben will. Hätte Paula Dreyer sie gegeben? Aber wie kann man Siegward dafür verantwortlich machen, der letztlich schon zu alt war, um meinen Vater ein Bruderersatz sein zu können." Auf Kosten der Familie machte sich Vater stark für die sinnlose Fehde mit ihm. "Vielleicht ist es aber auch eine Krankheit, die nicht zum Ausbruch kommt und sich in meinem Bruder Frank äußert." mutmaßte ich. Entgegen aller Ankündigungen gingen meine Eltern nicht zur Beerdigung und besuchten auch seine Witwe nicht. Im Gegenteil, für meinen Vater war die Sache Siegward seit 20 Jahren erledigt. Umso mehr bedauerte ich es, Siegwards Einladung zu seinem 70. Geburtstag im Vorjahr urlaubsbedingt nicht angenommen zu haben. Er kannte sehr viele Leute in Kassel und hatte im besten Hotel am Platz. Sein schwermütiger pommerscher Humor bleibt in meiner Erinnerung. 

Mein Schwiegervater feierte seinen 75. Geburtstag, Anzeichen von Parkinson waren bei ihm nun deutlich bemerkbar. Wir setzten uns schnell von der Feier ab. Ich joggte, wo immer es ging. Auch in Lemgo, von Matorf aus, wo unser Hotel war, über Entrup und Leese wieder zurück. Wir flüchteten auch wegen der Anekdote des Bruders meiner Schwiegermutter: "Man brauche nur einer Ratte mit einer glühenden Forke sie Augen auszustechen, ihre Schreie würden die anderen vertreiben. Dann lachte er noch schriller, als es meiner Schwiegermutter überhaupt möglich wäre." Vermutlich hat man das in Ostpreußen früher so gemacht.      

Während ich zuhause sehr viel mit Renovierungsarbeiten beschäftigt war, lief es bei den Wertpapier-Mitteilungen unrund. Meine Zeit in der Abteilung "Deutsche Aktien" lief ab. Es gab Widerstand bei der Einarbeitung und Beschwerden dagegen schadeten meine Ruf. Der Rundlauf war nicht gut für mich, denn niemand arbeitet gern Kollegen ein, die bald wieder verschwinden. Zudem wurde es bald so hingestellt, als sei das alles meine Idee gewesen.   

Ich beschäftigte mich mit Mutter: "Sie fragt immer direkt und ich wundere mich, warum sie noch so gut gelaunt ist. Obwohl nichts mehr stimmt. Oft erkenne ich meine eigene idealistische, ja weltfremde und doch so reale Welt in ihr wieder. Du liebst den Müßiggang und gute Gespräche, bist offen und zeigst Gefühl, frei von Argwohn. Du liebst und tust nichts dafür. Entwaffnend und frei von Konventionen. Doch Du zahlst dafür, wenn Du sprichst, drehen Menschen ab. Sie scheuen sich, Gefühle zu sehen. Sie strafen für die Sehnsucht nach Kontakt. Sie beobachten und lassen im entscheidenden Augenblick allein. Sie lesen in Dir und sind einen Schritt voraus. Sie erkennen sich in Dir selbst und haben Angst davor. Sie glauben. Dich gefahrlos verletzen und missachten zu können, nur weil Du Dich nicht verbirgst. Tust Du es doch, so strafen sie. Die Liebe, die sie vermeintlich geben, ist vernichtend, weil sie Deine Persönlichkeit nicht erkennen und glauben, Du hättest kein Bewusstsein, nur weil Du Dich nicht verstellst. Deine Worte sind wahr und doch werden sie nicht beachtet. Du hast die Wahl zwischen der weiten und doch so unerbittlichen Mauer der Einsamkeit und dem dichten Netz eines Liebenden. Eines ist sicher: Du gehst daran zugrunde. Möge die Kraft mit uns sein.-"

Da war dieses Gefühl des Verständnisses für meine machtlose Mutter. Ich fuhr unangemeldet nach Kassel. "Zuvor folgte ich einer fixen Idee und fuhr zum Hauptfriedhof, um das Grab von Rudolph Ullrich zu besuchen. Ich fragte eine ältere Dame, wo die Urnengräber wären (aus den Siebziger Jahren) und sie zeigte mir das bereitwillig. Meinte, ja verbrennen wäre auch besser. Man müsse sich, wenn man alt sei, darüber Gedanken machen. Derartig eingestimmt suchte ich die Reihengräber ab, ohne auf den Namen Ullrich zu stoßen. Verschiedene Plätze waren leer. Mir kam der Gedanke, dass er sich unter Umständen bei seiner Schwester hat bestatten lassen. Das bleibt also von einem Menschen. Wenn die Gräber nicht gepflegt werden, wächst alles zu und je nach Material der Platte ist die Schrift kaum noch zu lesen. -"

Die Hoffnung stirbt zuletzt: "lm Keller liegen zwei weiße Skelette. Ob die wohl jemand als Modelle gekauft hat oder ob sie echt sind? Ich sehe Ullrich, der an der Wand lehnt, auf der Erde sitzend. Er will sterben, ich sehe förmlich, wie er mit weit aufgerissenen Augen ringt. Ich beschwöre ihn, am Leben zu bleiben. Merke, wie ich mich innerlich anspanne, um Kraft auf ihn zu übertragen. Es gelingt und ich bin erschöpft."

"Eigentlich stirbt man von Geburt an. man verliert eine Hoffnung nach der anderen. Und muss sich doch dagegen wehren. -"

Mein Kassel-Besuch bei meinen Eltern und Frank, der noch zuhause wohnte, führte zu einer Zurechtweisung durch meinen Vater. Er hatte es nicht verwunden, dass wir Siegward noch im Vorjahr in seiner Wohnung besucht hatten und dabei erwähnten, dass wir nicht bei ihm waren. Meine Schwägerin holte mich abends in Kassel ab und wir fuhren nach Lemgo weiter. Abends meinte sie, ich würde mich mit meinem  Alten messen wollen, was gar nicht ginge, da er mich nicht verstehen könne. Ich solle ihn gewähren und seine Freude an gelegentlichen Triumphen lassen. Nachgiebigkeit war nicht meine Stärke. Dafür entwickelte ich eine Flugangst, die zur Abbuchung eines geplanten Portugal-Urlaubs führte. Dafür urlaubten wir am Weißenhäuser Strand an der Ostsee und bekamen Einblicke in die DDR. Wismar, die Insel Poel und Schwerin waren unsere Stationen. Auf der Insel Poel schlecht, aber billig gegessen. An der Wand des Lokals hingen Ostmarkscheine eingerahmt. Vom außenliegenden Kloohäuschen hatte man Ausblick. 

In der Firma verstand ich mich wieder mal gut mit einer Kollegin. Angeblich tranken wir sogar Brüderschaft anlässlich eines abendlichen Zusammenseins mit weiteren Kollegen. Ich hatte einen ordentlichen Filmriss, der uns aber nicht davon abhielt, am nächsten Tag nach Levico in Italien zu fahren. Kleines Hotel mit hervorragender Küche gefunden. Wir machten eine größere Exkursion bis zum Gardasee , über Costermano bis Lago di Garda. In Costermano den Hinweis auf den deutschen Soldatenfriedhof gesehen, auf dem mein Namensvetter begraben liegt. Der Ort liegt sehr schön auf einem Hügel und bietet einen herrlichen Blick auf den Gardasee. Geht fast ohne Übergang in den Lago di Garda über. 


Ab November war ich in der Abteilung "Ausländische Aktien" tätig. Die Abteilungsleiterin war der Liebling eines der vier Geschäftsführer und für mich wurde nichts besser. Außer einem alten, meist schlecht gelaunten Mitarbeiter, gab es dort nur Frauen, die alle als Müslifans verschrien waren. Erst im Lauf der Zeit gelang es mir bis zur Mitte des Jahres 1991 ein machbares Verhältnis zur Gruppe aufzubauen. Im Juni bekam ich ein recht ordentliches Zwischenzeugnis. Zudem bekamen wir neue Büromöbel in einem neuen Arbeitsraum. Nun war ich auch offiziell dort Sachbearbeiter. Ich wertete u.a. italienische Wirtschaftszeitungen aus. Lesen konnte ich es halbwegs. Dennoch blieb da eine Wand mir gegenüber seitens der Kolleginnen. Zuhause dagegen war ich zufrieden, hatte die Wohnung in Schuss gebracht, war mit unseren Autos zufrieden und arbeitete nun auch privat am PC. Ich konnte kleine Batchdateien schreiben und kam mit der Textverarbeitung gut klar.  

"Ich schreibe bald einen großen Roman: der Editor oder Zeilenausgleich und kein Ende. Will aus der Gewerkschaft und dem Kunstverein austreten. -"

In Lemgo hatte es sich angedeutet, dass mein Schwager wohl Haus und Grundstück der Eltern erbt und für Ruth und ihre Schwester allenfalls ein kleiner finanzieller Ausgleich vorgesehen war. Zudem verschlechterte sich die Stimmung bei unseren Besuchen. Meine Schwiegermutter war immer voll des Lobes für ihren Sohn. Eine Mutterliebe, die ich nie erfahren durfte. "Es ist anstrengend, in dem alten Fachwerkhaus zu übernachten. Es ist kühl und feucht und fördert die Herzbeschwerden meiner Schwiegermutter sicherlich. Sie klagte wieder über ihn. Er sieht Männer bei ihr im Bett und beobachtet sie nachts Die Männer verschwinden dann durch die Wand. "

Das Weltgeschehen belastete mich, es war Krieg im Irak. lm Fernsehen wurden die Leute ständig in Panik gehalten. Das entschlossene Angreifen der USA bewegte mich. Es wurde jeden Tag demonstriert gegen die USA. Wenn Nostradamus den dritten Weltkrieg voraussagte, dann sollte er vom Nahen Osten ausgehen. Es sieht so aus, als behielte er recht. In den arabischen Ländern demonstrierte man für Krieg. Berlin sollte nun die deutsche Hauptstadt werden. An die Steuergelder durfte man nicht denken. 

"Nach dem Peter-Prinzip bin ich drauf und dran, die Stufe meiner Unfähigkeit durch freiwillige Selbstbeschränkung zu vermeiden. -"

Aus unserem Gran Canaria-Urlaub schrieb ich eine Karte nach hause. Sie kam wohl noch nicht an. Auf dem Hinflug filmte uns ein Fernsehteam im Flieger. Meine Eltern sahen mich im fertigen Bericht nicht, wir waren auch nur kurz zu sehen. Sie hielten sicher wieder irgend jemand anders für mich. Nachträglich ärgerte mich die grob geratene WDR-Etikettierung von Gran Canaria als Billigabsteige mit Müllproblemen. 

In der UdSSR hat es einen Putsch gegeben, der nun heute endgültig zugunsten Gorbatschows wurde. Jelzin dürfte der neue starke Mann sein. Die Republiken werden jetzt noch selbstständiger. 

Hier sitze ich nun, ich armer Tor und bin so schlau wie eh zuvor. Vom Geschäftsführer Herrn E. wurde mir die Stelle eines Gruppenleiters in der Kursredaktion angeboten. Das Ganze entpuppte sich als großer Bluff.  "Herr E. meinte, Herr B. habe seine Bewerbung betrieben, aber er habe ihm den Wind aus den Segeln genommen. Angeblich erhalte ich Bescheid. -" "Herr E. hat mir auf mein Drängen hin nun endlich mitgeteilt, wie er sich die Arbeit in der Abteilung vorstellt. An die Ernennung eines Gruppenleiters nicht mehr denkend."

Nebenbei war ein große Zahnoperation notwendig, bei der die alten Amalganfüllungen größtenteils entfernt wurden. Die Überkronung der Zähne kostete über 7000 DM.

Herr E.  verschränkt bei Besprechungen  die Arme hinter dem Kopf, gibt Anweisungen mit gesenktem Kopf und nach Kratzen unter der Achselhöhle. Wie ich erfahren habe, will er nun doch eine direkte Dateneinspielung aus dem WM-Datenbestand.  Er ist aber gegen jeden Komfort, so nennt er eine bessere Anwenderfreundlichkeit. Sagen tut er das natürlich nicht. Mein Vorstoß bei unserem anderen Geschäftsführer Herrn P. war also erfolgreich. Nachdem ich ihm meine Gedanken schriftlich vorgelegt hatte, fragte er nur: "Warum wird das nicht gemacht?"

Gestern fühlte es sich an, als könnte ich alle Fräulein V's gleichzeitig befriedigen. Morgen hole ich mir das ersehnte Plakat vom Kunstverein Der Kunstverein war kaum zu finden. Die Frau wusste schon, welches Bild ich wollte und rollte es in Pappe ein. Es zeigte ein sehr erotisches Bild einer schlanken nackten Frau. Kunst eben..

Die Eltern besuchten Frank mit dem Taxi von Kassel aus und bezahlten dafür 85,-DM. Frank ist in einer gläsernen Zelle untergebracht, er darf weder Messer, noch Batterien für das Radio bekommen. Er steht unter Überwachung und geht in Begleitung von Pflegern zum Baden und zur Toilette.  Frank hatte einen älteren Mitpatienten im Krankenhaus Merxhausen aus nichtigem Anlass geschlagen. Das Krankenhaus erstattete Strafanzeige. Die Folge war ein gerichtlicher Beschluss, den auch ich trotz mehrerer Eingaben sowohl beim behandelnden Arzt als auch beim Richter nicht verhindern konnte. Die Ärzte gingen von einer Minderbegabung Franks aus, die zu seinen psychischen Störungen geführt hat. Die Akten des Stadtkrankenhaus in Kassel zu seiner Behandlung als Säugling wurden nicht eingesehen, obwohl die lebensbedrohliche Situation Franks damals bekannt war. 

Wir selbst hatten genügend Probleme. Ruth kämpfte wegen des neuen Geschäftsführers um eine Abfindung und bei mir ging es wegen der Kursteilumstellung in der Firma sehr turbulent zu.            "Ich fragte Herrn E., warum von dem Vorschlag eines Gruppenleiters abgegangen wurde und er wies daraufhin, das mir alle Entwicklungsmöglichkeiten offen ständen. Somit war das Gespräch beendet.-"Heute Nachmittag das Problem V. gelöst, es kam zur Aussprache. Sie war wieder unverschämt, warf mir infantiles Verhalten vor, sprach von Leuten meines Schlages und gab im Prinzip zu, mit anderen über mich geredet zu haben. Prinzipiell haben wir die Sache begraben, weil wir nicht weiter kamen. Konnte aber nun durchsetzen, dass wir feste Verteilungen kriegen. -"

Meine Eltern betätigten sich als Tierquäler: "Von meiner Mutter erfuhr ich heute, dass mein Vater die Katze auf den Balkon gesperrt hat. Ein Fall für den Tierschutz. - Gestern, gegen 18.30 Uhr, ist unsere Katze eingeschlafen. Sie war zuletzt im Bad eingesperrt. -" Mir ging das sehr nahe. Unsere Katze war ganz klein zu uns gekommen und ich hatte gern mit ihr gespielt. Später musste sie die Missachtung meiner Eltern ertragen und Frank ging nicht gerade zimperlich mit ihr um.                                            Ich kam dennoch zu folgender Einsicht: "Welcher Satz ging mir vorhin durch den Kopf, als ich Procol Harum hörte, an meinen Vater dachte: wenn man Menschen so sehr liebt wie ich, will man nichts mehr mit ihnen zu tun haben.-"

Urlaubserlebnisse gab es weiterhin: "Österreich hatte uns bereits auf der Anreise gegrüßt. Wegen Lawinengefahr war die Zufahrt durch das Lechtal an einer Stelle gesperrt. Die Umleitung war nicht genau ausgeschildert, sodass wir unser Auto durch Schlammberge und vereist schneematschige Stellen eines kleinen Wegs fuhren, wo es einmal aufsetzte. Als wir dann in der Ortschaft wieder auf die Hauptstraße fahren wollten, versperrte uns ein Einheimischer den Weg. Er musste erst aussteigen und uns sagen, dass das alles nicht passiert wäre, wenn wir auf der Hauptstraße geblieben wären. Mittlerweile sagte mir abends mein mittags im Tannheimer Tal verspeistes Wiener Schnitzel "Guten Tag" oder "Grüß Gott". -"

"Vier Sterne in Österreich: stierig blöde Schwimmbadbenutzer, ansonsten das ewige "Was haste, was kannste, was biste-Getaste" und Skifahren - natürlich das einzig Wahre. -"

Und sonst: "Heute Nacht ein schweres Erdbeben verpasst. Gegen drei Uhr muss es so schwer gerappelt haben, dass Ruth wach wurde. Ich kann mich nur an ein Klappern der Rollläden erinnern. -"

Ich selbst unterzog mich einer urologischen OP und war erstmals stationär in einem Krankenhaus.    "Der erste Tag im Krankenhaus. Heute morgen um ca. 8.30 Uhr hier angekommen. Eigentlich wollte ich gleich wieder weg. Der Pfleger auf der Station redete über mich als Sechunddreißigenjährigen, der wie dreiundzwanzig aussieht. - Morgen am späten Vormittag soll die Operation sein und allmählich werde ich nervös." Alles ging schließlich gut. "Das Zimmer ist mit fünf Mann belegt, zwei davon halbtot. Glaube, das ich noch einmal in den Park gehe. Die Art und Weise, wie man sich hier über alles äußern muss, ist gewöhnungsbedürftig. Ebenso der Anblick von Patienten, die ihren Urin in einer Plastiktasche bei sich tragen und von anderen, die ständig stöhnen. - Die Versorgung funktioniert hier nach dem Zufallsprinzip. Nicht jeder kriegt hier, was er braucht, schon gar nicht von den Ärzten. Erst der Pfleger gestern abends war in der Lage, dem Dauerhuster etwas gegen seinen Husten zu geben und zu veranlassen, dass der Patient, der ständig aufs Kloo musste, endlich einen Katheder gesetzt bekam. - Wenn man sieht, wie Menschen verzweifeln, wenn sie ans Bett gefesselt werden von einem Tag auf den anderen, gewinnt man andere Eindrücke über die wichtigen Dinge im Leben. " Nicht vergessen werde ich die grünen Augen der OP-Schwester und die angenehme Hand auf meiner Wange, die in mir die Überzeugung weckte, ich könne alles überstehen.-

"Als wir heute Richtung Lemgo fuhren, über die Landstraße nach Kassel, überkamen mich wieder heimatliche Gefühle und der Wunsch, meine Eltern zu sehen. Frank ist mir bis auf ca. 50 km nahe gekommen, ich werde ihn besuchen. Am Rasthof Bühleck hinter Kassel meinte einer: "Da kenne ich mich doch usse, Holzminden, der schärfste Strip, nachdem vorher ein Mädchen nach dem Weg dorthin gefragt hatte. Ob sie nach Warburg oder Marburg müsse. Das war dann das Ende meiner heimatlichen Gefühle. -"

"Mein Telefonat mir meiner Mutter offenbarte nur, dass sie weiter auf Geld von ihrer verstorbenen Schwester Gertraud spekuliert. Sie wollen sich ein Mietauto nehmen und nach Gießen zu meinem Bruder und nach Mainz zu meiner Großmutter zu fahren. Nüchtern kommen die eigentlichen Absichten bei ihr besser und unverblümter herüber.-"

"Ab morgen wird mein Name im Impressum der Zeitung erscheinen. Meine Anregung diesbezüglich wurde nun doch verwirklicht. -"

"Das Kursteilprojekt läuft und momentan herrscht für mich gute Stimmung. -"

"Wir schauen nun wieder nach Eigentumswohnungen. Die Preise sind noch einmal angezogen, unter 200000,- DM gibt es selbst gebraucht nichts mehr. Die Zinsen gehen dabei auf 10% zu. -"

"lm Impressum unserer Zeitung steht nun die halbe Firma. -"

"Mit meiner Mutter gesprochen, gab sich sehr moderat. Er soll Gicht haben. Das Haus wird wohl renoviert. Sie zahlen 650,- DM kalt. -"

"Heute habe ich es endlich gepackt und bin allein nach Kassel gefahren. Ich war ganz gut in Form, es gab keine Spannungen. Das Essen war schlimm, trockenes Fleisch (zwei Stunden gekocht) und gleich einen Riesentopf voll Soße. Die schmeckte sehr fad, nur ein bisschen salzig. Wenn ich die Uralttöpfe sehe, mit denen gekocht wird, wird mir schlecht. -"

"Der Kursteil macht wirklich Fortschritte. Die Legenden sind eingebaut, die Sonderzeichenproblematik gelöst, die Bereinigungsarbeiten am Datenstamm gehen voran, obwohl mir die Datenbank wie ein Fass ohne Boden vorkommt. -"

Das war nun tatsächlich mein Baby: die Schnittstellenautomation, mit der Daten von einer Datenbank in die andere übertragen wurden. Die automatische Erstellung des Kursteils, was die Stammdaten anbelangte, rückte in greifbare Nähe. Natürlich würden verschiedene manuelle Eingaben erforderlich sein wegen der zeitungsgerechten Formatierung. Aber diese würden nun bei uns in der Abteilung und nicht mehr extern erfolgen.

"Die Umstellung wird per 23.10.92 wohl vollzogen. Vorher soll ein neuer Rechner angeschafft werden und die DWZ dank BÖGA die Kurse früher liefern. -"

"Die Stadt ist voll von durchgeistigten Buchhändlern, die zu den Frankfurter Banktürmen aufblicken. -"

"Buchmesse: unser Testbesuch beim Lang Verlag war leider wenig erfolgreich. J. lauerte wieder wie ein Luchs auf Kundschaft. Zwei weitere mir unbekannte Personen hielten sich am Stand auf. Aus Kostengründen scheiterte unser Versuch, auf der Messe zu essen. -"

"Gestern habe ich das formuliert, was alle meinen. Die Aufteilung der Zuständigkeiten und die Urlaubsvertretungssituation der KR. Herr E. meinte heute, das sehe gut aus und man müsse abwarten.-"

"Mein Vater sucht eine offene Kneipe. Wir waren heute abends in der Stadt und haben das Geläut der Frankfurter Glocken gehört. Es war einmal eine andere Art Heiligabend. Der Platz vor dem Römer war recht voll. -"

"Ansonsten beschäftige ich mich mit Horoskopen und Collagen. Das eigentlich komplizierte an der Horoskopiererei scheint die Deutung der ermittelten Werte, ihrer Gewichtung entsprechend. Mit dem rechnerischen Teil bin ich fertig."

So endete wieder mal ein Jahr. Viele Bemühungen waren umsonst, andere mühevoll erkämpft. Die von mir angestrebte Betreuung meines Bruders fand keine Unterstützung. Er hatte einen gerichtlichen Beschluss bekommen und saß in der gerichtlichen Psychiatrie in Gießen, danach wieder in Haina. In der Firma gab es personelle Veränderungen und ein Rätselraten über die Politik des für uns zuständigen Geschäftsführers. Immerhin, alle am Projekt Kursteil Beteiligten bekamen eine Gratifikation. Auch der Bereich Investmentfonds mussten wegen des sprunghaften Anstiegs der Anzahl von Fonds neu strukturiert werden. Die Datenerfassung erfolgte in unsere Datenbank im Haus. Die beiden Erfasserinnen waren sich nicht grün und spielten uns als Kollegen wegen der unklaren Hierarchie in der Abteilung ständig gegeneinander aus.                                                                                                    Ruth hatte ihre Abfindung durchgekämpft, einen Nachfolgejob schon aufgegeben und war nun in einer gut bezahlten Teilzeitbeschäftigung. Fern war die Versöhnung mit meinem Vater. Also alles wie gehabt.

Das Jahr endete in Lemgo nach einem Besuch bei Frank, der sich nun in Haina befand. "Es geht ihm offensichtlich nicht so gut, obwohl er sagt, es gefiele ihm besser als in Gießen. Der Speichel läuft unkontrolliert aus seinem Mund und er schämt sich dafür. Sein Zustand rein äußerlich: blass, ungekämmt und zu viel Gewicht. Er hatte keine Uhr mehr, fragte nach meiner Swatch. Ruth will ihm zum Geburtstag die Uhr zukommen lassen." 

In Leese einen Spaziergang mit meinem Schwiegervater gemacht, der sich aufgrund seiner Parkinson-Erkrankung kaum gerade halten konnte, aber die kleine Runde Richtung Papenhausen gut durch hielt. Zuviel gegessen, gesessen und geredet. 



Montag, 19. Oktober 2020

Der Ullrich kommt

Der Ullrich kommt hieß es früher zuhause. Da kam ein alter Mann mit Baskenmütze und abgetragenem braunen Mantel. Er brachte eine Butterbrotstüte gefüllt mit Keksen mit und mir in der Regel viel Arbeit. Zwei Jahre mußte ich nachmittags sofort nach dem Essen meine Schulaufgaben machen, unter seiner Aufsicht und mit Nachhilfe, wenn ich nicht alles verstanden hatte. Nach zwei Jahren war ich aus dem gröbsten raus. Die Kurzschuljahre komprimierten den Stoff und da ich eher die Tendenz hatte, in der Schule nichts zu lernen und das später zuhause nachzuholen, weiß ich nicht, ob ich es ohne Ullrich geschafft hätte. Bei Ullrich mußte alles gleich klappen, sonst wurde er nervös. Er zitterte und heulte auch schon mal. Also strengte ich mich an. Ich war ja schließlich sein Jüngelchen. Ullrich hatte sich seit meiner Geburt in den Kopf gesetzt, mich zu unterstützen. Das wurde zwar gern angenommen, aber nicht unbedingt von meinen Eltern gern gesehen. 

Ullrich hieß eigentlich Rudolph Ullrich und war 1899 irgendwo bei Eisenach in Thüringen geboren. Er kam aus ärmlichen Verhältnissen. Erwerbsquelle war wohl die Stoffherstellung, es gab Jutespinnereien. Er war zu eigentlich zu jung für den 1. Weltkrieg. Aber weil das Vaterland rief, wurde ihm das Abitur früher geschenkt und er durfte einrücken. Er kämpfte an der Westfront und bekam Tapferkeitsauszeichnungen. Irgendwann war dann der Krieg zu Ende, ohne das es an der Front jemand richtig gemerkt hätte. Aus dieser Zeit stammen wohl seine Aussprüche von einem Kriegskameraden: "Henner, ducke Dich, es kimmet 'ne Granate" (Heinrich, ducke Dich, es kommt eine Granate) und "Vom Arsch die Brie", was eine Verunstaltung des französischen "Frommage de Brie" sein sollte. Mehr Französischkenntnisse brauchte er als Landser wohl nicht. Der Hunger muß das Wesentliche seiner jungen Jahre gewesen sein. Es gab nichts zu essen, dafür die Inflation nach dem Krieg und neben den Tapferkeitsauszeichnungen hatte er Papiergeld aus jener Zeit in einer alten Schachtel gesammelt. Ullrich war ein Selfmademan. Er arbeitete sich hoch und war es gewohnt, mit dem Rechenschieber umzugehen. Er hatte eine Schwester und später eine Nichte. Er verließ Kassel aus beruflichen Gründen und verbrachte eine Zeit in Neuß am Rhein und später in Amerika. Darüber erzählte er nicht viel. Von Beruf war er nun Textilingenieur. Ob es je eine Frau in seinem Leben gab, wußten wir nicht. Es ist zu vermuten, denn er war ein wütender Gegner der Nazis, später Sozialdemokrat. Gleichwohl war er kein Widerstandskämpfer. Auch in den zweiten Weltkrieg wurde er später noch eingezogen. Aus der Zeit hatte er später noch hellbraune Notizzettel mit einem Soldatenkopf, die er wohl bis zu seinem Tode benutzte. Er sagte mir immer: lerne alles, was Du lernen mußt, vor 40. Danach fällt das Lernen schwer. Den Spruch "safety first" benutzte er häufig.

Safety ließ er bei seinen Bekannten allerdings oft außer Acht, denn in seinen späten Jahren lieh er oft Geld an Leute, ohne es wieder zubekommen. So unterstützte er einen holländischen Handwerker, der sich selbständig machen wollte. Der verschwand mit seinem Geld. Meinen Vater lernte Ullrich 1954/55 kennen. Zu der Zeit war er  bei der Kurhessischen Milchverwertung in besserer Position angestellt. Er verhalf meinem Vater zu einer Ausbildung als Kesselheizer. Er stopfte finanzielle Löcher unsere jungen Familie immer wieder, mein Vater besuchte ihn oft, selten wohl ohne Geld zu bekommen. Ullrich wohnte in einem Haus in absoluter Waldrandlage mit Straßenbahnanschluß in die Stadt. Noch heute erinnere ich mich gern an die schöne Umgebung und den Gesang der Vögel. Anfangs wohnte Ullrich mit seinem Vater dort, der dann verstarb und in Wahlershausen bei Kassel zusammen mit der bereits verstorbenen Mutter beerdigt wurde. Mit gegenüber war Ullrich wie ein Vater in geistiger Hinsicht, das ganze Gegenteil meiner Eltern. Extrem genußfeindlich, sparsam und ehrgeizig. Er suchte nach einer privaten Absicherung für sein Alter und kaufte ein Haus ein weiteres Haus für sich, in das wir alle einziehen sollten. Das hielt aber nur für zwei Jahre. Dann gab es von meiner Mutter mit geschürte Streitigkeiten zwischen meinem Vater und Ullrich. Wir zogen in eine 3-Zimmer-Neubau-Wohung vor den Toren der Stadt um, in der meine Eltern heute noch leben. Ich fühlte mich da nie heimisch. Verstanden hat den Umzug von unseren Eltern niemand. Mir, aber insbesondere meinem jüngeren Bruder, hat er schwer geschadet. Ullrich verkaufte das Haus für nicht viel Geld. Er legte Wert darauf, daß ich Englisch lerne und finanzierte mir aufwendige Sprachferien zunächst in Feldafing. Dabei reiste ich mit ihm allein durch Bayern, er quartierte sich in einem Frühstückszimmer ein. Wir fuhren zum Kochel- und Walchensee und besichtigten Schloß Linderhof. Das erste Mal sah ich etwas anderes als die unmittelbare Umgebung von Kassel. 1970 flog ich sogar nach England zu einem Sprachaufenthalt bei einer englischen Familie, desgleichen 1972 mit dem Zug. Auf die Neidgefühle meines Bruders wurde da wenig Rücksicht genommen. Meine schulische Bildung stand schließlich unserem Familienleben entgegen. Es war der Beginn der Entfremdung. Mit wem sollte ich über meine Eindrücke sprechen ? Mit Ullrich am ehesten, er war wie ich kein Bildungsbürger und hatte eher ein praktisches Denken an sich. Er beschäftigte sich mit der Technik und glaubte an den Fortschritt durch Prozessoren. Er war ratend zur Stelle, was meine weitere Schulbildung nach der Mittleren Reife anging. Er befürwortete die Fachoberschule für Wirtschaft, während ich mich relativ eigenständig für das Wirtschaftsgymnasium entschied. Wir unterhielten uns über aktuelle politische Themen, während er mal wieder mit einem Löffel die letzten Kekskrümel aus der Butterbrotstüte aß. In den Siebzigern wendete sich das Blatt immer mehr zu seinen Ungunsten. Die Schwester starb, der Schwager später. Ullrich quartierte sich in einem Wohnheim mit ärztlicher Betreuung ein. In seinem 1-Zimmer-Appartment sahen wir uns regelmäßig. Ullrich nähte sogar Hosen. Ich verlangte nie Geld, brauchte aber welches. Ein zweiter schwerer Herzinfarkt brachte ihn ins Krankenhaus, wo ich ihn besuchte.  Später wurde ihm Leukämie diagnostiziert. Ein Standardsatz von ihm war, "wenn ich dann noch lebe". Er beschäftigte sich oft mit seinem Ableben und er hatte Angst. Manchmal konnte er den ganzen Tag mit niemanden reden. Eine Frau Köhler kam und umsorgte ihn ein bißchen. Ullrich hatte viele alte Goethe- und Schillerbände vom Ende des 19. Jahrhunderts, überhaupt viele alte Bücher. Die sollte ich später bekommen. Doch daraus wurde nichts. Nachdem ich den Wehrdienst hinter mir hatte und das erste Geld verdiente, gab es zuhause Spannungen. Mein Vater verlangte von mir, daß ich mein ganzes Geld abgeben sollte und wollte mir ein Taschengeld zu teilen. Ich war müde von seinen  Schikanen während meiner Bundeswehrzeit. Ich wollte weg, und wieder war es Ullrich der das ermöglichte, wir fuhren zu ihm und fragten, ob er mich während meiner Lehrzeit unterstützen würde, in finanzieller Hinsicht so, das ich ein eigenes möbliertes Zimmer würde mieten können. Er tat das und regelte das testamentarisch. So zog ich mit einem festen monatlichen Zuschuß von zuhause aus. Das Ende meiner Lehrzeit und den erfolgreichen Abschluß meiner Buchhändlerlehre erlebte Ullrich nicht mehr. Er unterstützte noch finanziell meinen Besuch der Buchhändlerschule in Frankfurt, ein Jahr bevor ich selbst aus beruflichen Gründen Kassel in diese Richtung verließ. Ich pendelte zwischen meiner möblierten Eigenständigkeit und meinem Elternhaus, wo ich sonntags das Essen aus meinem Zuschuß von Ullrich bezahlen mußte, den Studentenkneipen und Ullrichs Appartment hin und her. Die Besuche bei ihm fielen mir nicht immer leicht, erlebte ich doch sowas wie das erste Aufblühen eines lockereren Daseins. Seine verknöchert wirkende Art, das Leben zu beurteilen, machte es nicht leicht für mich. Manchmal ertappte ich mich dabei, daß ich nur noch wegen irgendwelcher Zuwendungen, die ich nie erforderte, zu ihm fuhr. Manchmal sagte ich auch Besuche ab, einmal sogar schriftlich, um ihm einen neuen Termin mitzuteilen. Als ich an jenem Tag zu ihm kam, war alles anders: die Tür war versiegelt und ich mußte wieder gehen. Ich erfuhr über meine Eltern, daß Ullrich tot war. Tot, gefunden am Grab seiner Mutter, wahrscheinlich hatte er seine lebensnotwendigen Medikamente abgesetzt. Der Verdacht auf  Selbstmord war für den Zustand seiner Tür verantwortlich. Später durften mein Vater, mein Bruder und ich noch in die Wohnung, um irgendwelche Gegenstände, die wir gebrauchen konnten, mitzunehmen. Bei der Trauerfeier anlässlich seiner Verbrennung war ich der einzige Anwesende meiner Familie. Es war für lange Zeit der einzige Anlass dieser Art, an dem ich teilnahm. Seine Verwandtschaft in Gestalt der Familie seiner Nichte war anwesend, aber ich kannte sie nicht. Ullrich hatte immer davon gesprochen, mich mit Jackie, der Tochter bekanntzumachen. Ab und zu kamen sie ja nach Deutschland, aber irgendwie klappte es nie. Ich hörte hinterher nur über Frau Köhler, daß die Äußerung gefallen sei, man hätte den jungen Mann, der soviel von Ullrich profitiert hatte, gern kennengelernt. Geblieben ist mir ein alter Wecker der Fa. Müller aus Neuss am Rhein, eine alte Schreibmaschine mit RM-Taste und ein paar Seiten aus einem uralten Atlas sowie ein altes Reklamheft. Beim Durchstöbern der Wohnung fiel meinem Bruder eine Lampe auf den Kopf, ich nehme an, ohne großen Schaden. Alles andere war schon weg. Meine letzte Karte an ihn lag in der Wohnung. Er mußte sie erhalten haben, stillschweigend steckte ich sie ein. Außer Erinnerung bleibt nichts mehr. Die Postkarte ist weg. Der Anwalt. der früher in seinem Haus in der Hugo-Preuss-Str. als Mieter gewohnt hatte, regelte seinen Nachlass. Bis zum letzten Monat meiner Lehre bekam ich Unterstützung, drei Monate später zog ich weg. Wenn bei meinen Eltern von Ullrich geredet wird, dann nicht gut. Seine Nervosität erregte Spott, seine Unterstützung betrachteten meinen Eltern als selbstverständlich. Er hatte ja genug Geld, so als hätte er es sich nicht verdient. In Frankfurt verlor ich einen Teil meiner geringen persönlichen Habe beim Auszug aus meiner Jungesellenbude in die erste gemeinsame Wohnung mit meiner späteren Frau, unser VW-Bus wurde aufgeknackt, die Diebe haben wohl auch die Postkarte an Ullrich ganz einfach weggeschmissen. Nach vielen Jahren suchte ich das Urnengrab von Ullrich auf dem Kasseler Hauptfriedhof. Dort liegt er wohl garnicht, sondern in Wahlershausen. So verschwindet er mit einer gewissen Spurlosigkeit und wer bin ich ?      

Wenn Rudi diesen Text lesen könnte, würde er vielleicht mit einem Ausdruck des Erstaunens sagen: Du bist ja ein ricbtiger Künstler, oder seufzen: wenn ich noch leben würde. Aber vielleicht stenografiert er seine Korrekturen auch und ich habe so keine Chance, die Korrekturen zu erledigen. Du warst gegen meine Buchhändlerlaufbahn.


Sonntag, 22. September 2019

Was bleibt

Manche Dinge im Leben bleiben im Gedächtnis hängen wie zum Beispiel ein Papagei, der ständig seinen Namen und die Adresse Preis gibt: Fridolin Alberding, Goethestraße 64. In der Papageien-Wohnung lauschte ich ab und zu einem Mann beim Klavierspiel zu. Und war begeistert: „Das war aber ein schönes Lied.“ sagte ich und sorgte damit für Heiterkeit auch des Vaters.
Bei ihm sass ich eines schönen Sommertags vorn auf dem Motorrad. Ein kurzer Moment nur, der davon übrig bleibt. Er war es auch, der mich aus dem Krankenhaus abholte, wo ich wegen einer Platzwunde an der Stirn genäht werden musste. Zuvor hatte ich alle zusammen geschrien, die sich mir näherten. Im Diakonissenhaus, wo ich behandelt wurde, waren auch die Schwestern zuhause, die mich im Kindergarten in die Ecke stellten, nach dem ich ain Kinderlied textlich etwas verändert hatte. Bei mir schwammen nämlich „alle meine Entchen“ ins Klosett und nicht auf dem See. 
Einen Moment unter Wasser vergesse ich auch nicht, hier holte mich die helfende Hand meines Vaters noch rechtzeitig heraus. Apropos Wasser, Durst hatte ich sehr viel als Kind. So viel, dass ich meiner Mutter den Hals der Sprudelflasche aus dem Netz holte, den Bügelverschluß öffnete und noch auf der Straße trank. Auf der Straße war es dann, wo ich eines Tages den Scheinwerfer eines Autos in der Kniekehle hatte, als ich morgens die üblichen Besorgungen für Mutter erledigte.
An andere, an sich wesentlichere Ereignisse, erinnere ich mich kaum. weder die Einschulung noch unsere mehrfachen Umzüge blieben anscheinend eindrucksvoll.
Auch fallen mir die Inhalte der mittäglichen Bettgespräche mit Vater nicht mehr ein. Ich weiß nur, dass ich einmal bemerkte: „Das war aber ein schönes Gespräch.“ Was bleibt ist eben die Erinnerung an Momente, die man so leider nicht mehr erleben kann.

Dienstag, 20. August 2019

Remember me

Lange Zeit lief ich in einem Tunnel, über mir tobte ein Krieg. Der Weg schien endlos weit, die Kämpfe kaum nachzulassen. Irgendwann kam ich heraus aus der Dunkelheit, ein Mann mit Schlips und Kragen nahm mich in Empfang, er war sehr freundlich und meine Erleichterung entsprechend groß. Viele Klippen hatte ich überwunden, aber vergessen, wo ich anfing, zu laufen.
Jemand sagte, ich sei wohl immer in Bewegung, das sei mein Rezept.
Jeder bekommt, was er verdient, so heißt es. Wenn das stimmt, dann habe ich viel bekommen und wenig verdient. Ich werde mich erinnern an die Vögel im Wald, den Vater am Bahnhof, die Mutter, die sich ein letztes Mal abwendet und den Lauf, den niemand sieht, suchende Blicke und ein Tattoo, das niemals wird. An wen erinnern sich die Kinder von heute?

Dienstag, 28. Mai 2019

Kolberg- Adressbücher 1909 und 1920

Vor einigen Jahren habe ich für die Pommerndatenbank die beiden Adressbücher von Kolberg aus den Jahren 1909 und 1920 in Excel eingegeben. Über meine Homepage, die es nun nicht mehr gibt, waren die Daten auch einsehbar. Unter dem nachstehenden Link sind sie nun wieder verfügbar.
Bitte einfach mit der rechten Maustaste auf die Bezeichnung klicken und die Adresse erscheint.

Kolberg - Adressbücher 1909 und 1920

Donnerstag, 24. Januar 2019

Großmutter und Enkel


Links: Mein Großmutter (Bildmitte) in Kolberg 1928 (geb. 30.11.1914)     
       Rechts: Ich am Obersee 1969 ( geb. 12.9.1955)


Wir waren beide zum Zeitpunkt der Aufnahmen 13 Jahre alt.

Donnerstag, 8. Februar 2018

Memory





Remember, remember,
that day in December.
Remember that date,
before it's too late.
It followed April,
arose from free will.



Montag, 25. Dezember 2017

Frohes Fest

Weihnachten ist kein Fest der Liebe, es ist eins der Abrechnung. Leute, die Dich nicht leiden können, zeigen es Dir. Mein Vater pflegte zu sagen, er habe die Suppe auf dem Herd, wenn er mich nicht sprechen wollte. Das stimmte manchmal sogar. Jetzt sagte eine junge Dame zu mir, sie müsse zum Friseur. Mein vereinbarter Rückruf ging ins Leere. Aber auch Personen, die mir nicht nahe stehen, treiben es toll. Eine Leserin meines Kolberg-Blogs ist tatsächlich im Besitz eines Familienfotos, auf dem meine Großmutter und meine Großonkel zu sehen sind. Sie fotografierte es netterweise, wenn auch sehr unscharf, für mich ab. Nun hatte ich sie gebeten, mir doch eine bessere Kopie zu senden. Ich wollte für ev. Kosten aufkommen.
Kurz vor Weihnachten kam dann eine What's App mit einem Foto. Während Freude in mir aufkam, sah ich das Bild von ihrem Weihnachtsbaum. Bilder von Weihnachtsbäumen stehen nun nach geposteten Mahlzeiten aller Art ganz oben auf meiner persönlichen Hassliste.
Die Überraschung jedenfalls war ihr gelungen. Mein persönliches Fest werde ich auf dem Friedhof feiern, in dem ich eine Kerze für meine vor genau neunzehn Jahren verstorbene Mutter aufstelle.
Sie ist auch die Großmutter der Dame, die zum Friseur musste.


Montag, 16. Oktober 2017

Kolberger Gesichter

Da hat nun jemand meinen Kolberg-Beitrag in diesem Blog gelesen.
http://wolfgang-dreyer.blogspot.de/2012/08/Kolberg.html
Dieser Jemand ist eine Frau, die mit Adalbert Fabricius verwandt ist. Ihr Vater, Karl-Heinz Fabricius ist nach dem Krieg nach Kanada ausgewandert, zusammen mit seiner Frau, die er noch in Kolberg kennen gelernt hat. Er hatte danach noch eine weitere Ehe, aus der nun die Frau stammt, die mir geschrieben hat.
Sie ist im Besitz eines Familienfotos, auf dem zwei Personen, die nicht zur Familie Fabricius gehören, abgebildet sind. Da das Bild 1928/29 entstanden sein soll, handelt es sich dabei wohl um die Geschwister Frieda und Werner Dreyer, also um meine Großmutter und meinen Großonkel.
Beide dürften sich damals in der Obhut von Adalbert und Emilie Fabricius befunden haben, da die Eltern im Jahr 1929 beide an TBC erkrankten und nacheinander im gleichen Jahr verstarben.



Es ist das einzige, leider sehr verschwommene, Bild von meiner Großmutter, das ich je gesehen habe.
Ich bemühe mich um eine bessere Kopie, aber ob ich sie erhalte, das liegt nicht in meiner Hand. In Zeiten, in denen über "soziale" Netzwerke kommuniziert wird, ist leider nicht alles einfacher geworden. Auch der Kontakt zur noch lebenden ersten Frau des Werner Fabricius in Kanada scheint mir nicht zu gelingen Damit schließt sich erst einmal meine Recherche.



von links nach rechts: Werner Dreyer, Frieda Dreyer,
Karl-Heinz Fabricius, Emilie Fabricius, Adalbert Fabricius

Freitag, 26. Mai 2017

Frieda

26.5.2017 und die Zeit bleibt stehen,
ich habe ein Bild von Dir gesehen.
Diese Sekunde Ewigkeit hat mich
von meiner Imagination befreit.
Nun weiß ich, wer Du gewesen bist,
leider vergangen und so vermisst.

Mittwoch, 8. März 2017

Seniorenbeirat

Aus jungen Menschen werden mal ältere. So ergeht es auch mir. Vor 61 Jahren wurde ich im nordhessischen Kassel geboren. Wie so viele verschlug es mich dann aus beruflichen Gründen nach Frankfurt, wo ich lange Jahre gewohnt habe. 2005 schließlich verzog ich mit meiner Frau nach Schöneck, wo wir seit dem in Kilianstädten zuhause sind. Im Vergleich zu manchen Frankfurter Stadtteilen bietet Schöneck eine höhere Lebensqualität und vor allem ein lebendiges Vereinsleben. Sich hier zu engagieren, ist für mich selbstverständlich. Ich bin als Kassenwart in einem kleinen Verein tätig, der die Schönecker Bibliotheken durch die Organisation von Autorenlesungen und Bücherflohmärkten unterstützt. Aber auch in der Vergangenheit war mir das nicht fremd. Ich war Betriebsrat und pflege immer noch einen guten Kontakt zu "meiner" Firma.
Durch meine Mitarbeit im Seniorenbeirat der Gemeinde Schöneck möchte die bisher geleistete Arbeit weiterhin unterstützen und, wo möglich, neue Ideen einbringen. Viele Themenfelder, die das Leben der Senioren in Schöneck betreffen, sind ja bekannt. Sie müssen immer wieder neu in Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen in der Gemeinde beackert werden, damit Schöneck auch für Senioren die lebendige Gemeinde bleibt, für die im Internet geworben wird. Über ihre Unterstützung würde ich mich freuen.

Dienstag, 21. Februar 2017

Wenn ich eine hätte

Irgendjemand sagte zu mir, man müsse mindestens 20 Zigaretten am Tag rauchen. Ich weiß nicht genau, ob es um Zigarettenhandel oder um Zigarettenkonsum ging. 
("Der hat sich tot geraucht." Diese Aussage habe ich von einem überlebenden Pommer, der zum Zeitpunkt meiner Recherche in Köln lebte. Gemeint ist mein Urgroßvater, Johannes Dreyer, der in Kolberg einen Kolonialwarenladen betrieb.) 
Jedenfalls überlegte ich, nach hause zu fahren oder in eine Stadt, die merkwürdigerweise Schiffsstadt hieß. Nach hause wollte ich aber doch nicht. Ich bedachte, dass mein Vater dort sei und ich deswegen wohl nichts zu essen bekäme.

Samstag, 12. September 2015

6.30

Die Feier meiner Geburt müsste eigentlich um 6.30 Uhr stattfinden, denn um diese Zeit wurde ich im Kasseler Burgfeld-Krankenhaus geboren. Es ist in etwa die Zeit, zu der ich aufstehe, wenn ich arbeiten gehe. Vater wird, als er die Nachricht hörte, schnell von der Arbeit gekommen sein. Er war ein junger Mann und sehr auf die Gründung "seiner" Familie aus.
Über sechs Jahre später wurde, anfangs sehr misstrauisch von mir beäugt, mein Bruder zuhause geboren. Im Laufe der Jahre merkten wir, dass er behindert war, von Anfang an.
Er ist und bleibt aber mein Bruder. Auch wenn unsere Beziehung nicht "normal" sein kann.
Dieser Gegensatz zwischen Lebensrealität und Wirklichkeit prägt mein Leben. Es ist wie Kinder haben und doch nicht.
Eine eigene Wirklichkeit, die hatte ich immer. Es lohnt sich, um sie zu kämpfen.
Schon im Kindergarten war ich der Meinung, es sei besser, andere wüßten nicht, wer meine Freunde sind.
Viele Menschen mögen mich nicht, andere mögen mich sehr und zeigen es nicht. Was soll es mir bedeuten?
Ich habe immer Förderer gehabt, so wie den Freund unserer Familie, der sich bei meiner Geburt schwor, diesem Kind immer zu helfen. Bis 1977 war das so.
Auch in der Schule hielt man etwas auf mich und im Beruf gab es den ein oder anderen heimlichen
Protegist. "So einen Mitarbeiter wie sie findet man nicht auf der Strasse."
Das war freundlich, auch wenn es finanziell sich kaum lohnte.
"Augen liegen auf mir", so habe ich einmal geschrieben. Das entspricht auch in etwa meinem Konfirmandenspruch.
Dein Chef ist jünger als Du, so ist das jetzt. Die Förderer werden weniger, das Kind kann laufen. Wie lange noch, das liegt nicht in Menschenhand.

Donnerstag, 5. März 2015

Biographische Notizen zu meinem Bruder - oder Michael ist größer als ich

Mein Bruder heißt Frank und wurde am 24.1.1962 geboren. Zu der Zeit lebten wir in der Kasseler Hansastraße in der Nähe des Bebelplatzes. An der Ecke des Bebelplatzes befand sich noch ein Trümmer - Grundstück, das vom Zweiten Weltkrieg übrig geblieben war. Frank kam als Hausgeburt zur Welt. Meine Mutter hatte bereits vor Ihrer Schwangerschaft mit dem regelmäßig en Trinken einer Dreiviertel-Liter-Flasche Wein angefangen. Zuckerwürfel wurden heraus gelegt, damit der Klapperstorch ein Kind bringen sollte. Mir war das gar nicht so recht, fühlte ich mich doch als Mutters Liebling ganz wohl. Immerhin durfte ich ihr die Haare kämmen. Als das Baby dann da war, reagierte ich entsprechend verhalten.
Unsere Tage in der Hansastraße waren damit auch gezählt. Obwohl ich erst sechs Jahre alt war, musste ich morgens vor der Schule schon Fleischsalat, Brötchen und die Bild-Zeitung holen. Einmal passte ich dabei nicht auf und hatte einen Scheinwerfer eines Autos in meiner Kniekehle, ohne das mir viel passiert waere. Früh schon habe ich mich als Dienstleister betätigt. Meine Welt war vom Herumlaufen draußen (bis zum Tannnenwäldchen führten mich meine Wege) und den beiden,, wie ich fand, schönen Kirchen in unserer Umgebung geprägt. Da war die katholische Kirche am Bebelplatz uns gegenüber und die weiter entfernte Kirche mit dem grünen Dach die Friedenskirche. Erst spät habe ich erfahren, dass ich dort getauft wurde. Mein Vater konnte sich daran nicht mehr erinnern.
Ein Freund unserer Familie und ehemaliger Chef meines Vaters hatte beschlossen, sein
Leben mit unserem enger zu verknüpfen und sich eine Doppelhaushälfte gekauft, in der er mit uns zusammen alt werden wollte.
Bevor es dazu kam wurde Frank noch als Säugling krank. Da er keine Nahrung bei sich behalten konnte, kam er ins Stadtkrankenhaus. Wir durften ihn, hinter einer Glasscheibe liegend, besichtigen. Er musste künstlich ernährt werden und hatte einen Schlauch in der Nase. Bei seiner Entlassung teilte man den Eltern mit, es sei um Leben und Tod gegangen.
In der Auerstraße nun stand "unser Haus". Im Garten war ein Laufstall aufgebaut, in dem Frank bei gutem Wetter spielen konnte. Er machte zu der Zeit ein leicht mürrisches Gesicht. Mit geballten Händen ist er auf einem Foto zu sehen.
Ich ging derweil nach Schule und Hausaufgaben einkaufen, manchmal spielte ich auch mit einem Freund, dessen Eltern in die neu gebauten Wohnungen des neuen Stadtteils Helleböhn ziehen sollten.
Eines Tages ging Frank mit seinem Vater an der Hand die Treppe hoch zum Schlafzimmer im ersten Stock. Vater hielt ja immer Mittagsschlaf auch aufgrund seiner Schichtarbeit. Kurzzeitig muss er die Hand los gelassen haben, denn Frank fiel rückwärts die Treppe herunter, wobei er jede der einzelnen Stufen mit dem Kopf traf.
Äußerlich war ihm jedoch auch unmittelbar danach nichts an zu merken.
Das mit dem Freund der Familie-Wohnen ging nicht lange gut. Zu oft stand er mit seinem eigenen Schlüssel in unserem Wohnzimmer. Schließlich kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen meinem Vater und ihm, wobei Vater mit der Axt in der Hand im Garten vor ihm stand. Die Zeit der eigenen süßen und sauren Kirschen und der Johannisbeeren war vorbei.
Wir zogen 1965 nach Helleböhn, ein Stadtteil, in dem ich mich nicht zuhause fühlte. Ich hatte zum dritten Mal eine andere Schule zu besuchen und beim Einkauf belästigten mich die "Schlacken",, die einen immer wieder mal hänselten.
Hier begann 1969 auch für Frank der Ernst des Lebens. Es war nicht verwunderlich, dass er ein Jahr zurück gestellt wurde.
Er war in Allem ein bisschen zurück und blieb das auch. Ein Schicksal eines jüngeren Bruders ist es nun einmal, dass er das über nimmt, was der ältere Bruder hinterlässt. Meiner Sammlung von Matchboxautos bekam das nicht gut. Er zerlegte die Autos, ohne sie wieder zusammen setzen zu wollen. Er raufte gern mit mir trotz des großen Altersunterschieds. Ich hatte manches Mal Probleme, ihn unter Kontrolle zu halten. Der gute alte Schwitzkasten leistete mir hier gute Dienste. Meine Mutter wollte sogar gesehen haben, wie ich mit der Handkante schlug. Wie auch immer, ging etwas schief , ich war derjenige, der die Verantwortung trug und die Ohrfeige bekam.
Frank ging auf die Schule im Stadtteil und schnell war mir klar, dass er hier nicht gefördert werden würde.
Aber was hatte ich schon zu sagen, ich kämpfte selbst darum, das Wirtschaftsgymnasium besuchen zu dürfen. Ich war ja nur für die "Mittlere Reife" vorgesehen.
10 Jahre lang sollte seine Schulzeit dauern. Eine Zeit, in der viel passierte. Wir durften, zunächst noch in einem Zimmer, den nächtlichen Auseinandersetzungen meiner Eltern lauschen, die immer durch den Alkoholkonsum bedingt waren. Oft ging die Tür unseres Zimmers auf, ich wurde von meiner Mutter aus dem Bett geholt und durfte Moderator spielen.
Frank war, zumindest wenn mein Vater mich an ging, auf meiner Seite. Er fand das nicht richtig.
Als Gymnasiast bekam ich ein eigenes Zimmer und wir waren das erste Mal getrennt. Frank wäre über all mit mir hin gegangen, nur es war klar, ich würde  immer zahlen müssen. Ich hatte allerdings ganz andere Dinge im Kopf. Mein Abschied von zuhause begann bereits am 1.7.1974 mit der Einberufung zur Bundeswehr. Vater sorgte dafür, dass ich wochentags in der Kaserne schlief. Mit dem Ende meiner Bundeswehrzeit am 30.9.1975 war auch das Ende meiner gemeinsamen Zeit mit Frank gekommen. Die Eltern forderten ihr Schlafzimmer zurück und wg. mir wollte sich Vater auch keine grössere Wohnung nehmen.
So half der Freund der Familie mit einem monatlichen Zuschuss aus und ermöglichte mir den Umzug in ein möbliertes Zimmer. Bereits im Mai 1978 siedelte ich nach Frankfurt am Main um. Frank war nun endgültig allein auf sich gestellt.
Vater wollte aus seinem Sohn etwas machen, ich war ja der ihrige. Anlässlich der Beerdigung meines Großvaters sollte ich nach Kassel fahren, um Frank zu beaufsichtigen, was ich ab lehnte. Ich selbst sollte ja nicht mit und ein Besuch in Frankfurt war auch nicht geplant, obwohl die Eltern meiner Mutter ja in Mainz lebten.
Frank konnte immerhin den Volksschulabschluss nachträglich machen, die Prüfung nahm ihm mein ehemaliger Deutschlehrer von der Realschule ab. 1980 wurde er schließlich zur Bundeswehr eingezogen. Ein Projekt, das mein Vater sehr gern sah, ohne sich zu fragen, wie Frank das schaffen sollte. Es stellte sich heraus, dass Frank den Anforderungen nicht gewachsen war. Er war zu langsam und so etwas toleriert das Militär nicht. Immerhin erkannte man das und musterte Frank aus. 
Nach dem Intermezzo bekam er immerhin beim Volkswagenwerk in Baunatal eine Lehrstelle. 
Spätestens jetzt hätte er mich, was die berufliche Karriere angeht, eingeholt. Doch auch die Lehrzeit stand er nicht durch. Er konnte seine Emotionen nur durch Schreie zum Ausdruck bringen. Vater fuhr mit ihm dann im Auto durch den Wald, die Scheibe wurde herunter gekurbelt und Frank schrie. 
Das war aber nur ein Teil der Aggression, die in ihm steckte. Wenn ein Kind mittags zu laut draußen spielte und Frank lag mittags im Bett, dann stand er auf, ging vor die Haustür, schlug das Kind und kam wieder zurück. Auch Besuch war vor Franks Schlägen nicht gefeit. Als ein Onkel von uns mit seinem Sohn zu Besuch war, schlug er diesen, was den Onkel veranlasste, mitten in der Nacht die Heimreise anzutreten.
Von der Mutter umsorgt, hatte Frank nach seiner abgebrochenen Lehrstelle keine Aufgabe mehr.
Noch heute schwärmt er von den Bratkartoffeln, die ihm die Mutter machte. 1984 jedoch begann seine "Karriere" in psychiatrischen Krankenhäusern im Ludwig-Noll-Krankenhaus. Hier war er dann auch stationär und arbeitete tagsüber zeitweise in einer Behindertenwerkstatt. Ich bekam nicht mehr all zu viel von seinem wahren Zustand mit. Bei meiner Hochzeit im Jahr 1982 war meine komplette Familie nicht anwesend. Meine Mutter befand sich in fundamentaler Opposition gegenüber meiner zukünftigen Frau. Vater war verhaltener, aber im Endeffekt mit der Frage, warum wir eigentlich heiraten, gut aufgestellt. So waren unserer Besuche in Kassel kurz und immer nur auf der Durchreise. Ein einziges Mal wollten mich meine Eltern besuchen. Obwohl meine Mutter sonst wegen jeder Kleinigkeit bei uns anrief, erfolgte die Ankündigung nun per Postkarte, die ich erst einen Tag vor einer geplanten Reise zu meinen Schwiegereltern bekam. Da konnte und wollte ich nicht mehr zurück. Vermutlich sind wir auf der Autobahn nach Kassel aneinander vorbei gefahren. Es sollte der einzige Besuch bleiben.
Frank durchlief nun weitere Stationen: zunächst die Psychiatrie in Merxhausen, wo es Anfang der neunziger Jahre zu weiteren Zwischenfällen kam. Er schlug einen alten Mann so, dass dieser mit Hämatomen in Behandlung kam, weil dieser ihn nicht gegrüßt hatte.
Es kam zu einem Gerichtsverfahren in Wolfhagen.
Ich selbst schaltete mich ein, da ich der Meinung war, dass mein Vater als Verfahrenspfleger nicht richtig sei. Immer wieder äußerte er ja, Frank sei nur zu faul zum Arbeiten und die vielen Medikamente, mit denen er ruhig gestellt werden musste, hielt er für falsch.
Ich schrieb an das Krankenhaus im Februar 1992:

"Seit über zehn Jahren verfolge ich den Werdegang bzw. die Krankheit meines Bruders zwar aus der Entfernung dennoch mit Anteilnahme.
Mit ist bewußt, daß sich das Schicksal in diesen Tagen zu seinen Ungunsten entschieden hat. Ich verstehe die Gründe, die Sie zu einer gesonderten Unterbringung meines Bruders veranlassten und die möglicherweise zu einer Überweisung in eine geschlossene Anstalt führen.

Sie sollten jedoch noch einige Tatsachen kennen, bevor Sie endgültige Entscheidungen treffen.
1. Frank Dreyer war als Säugling wegen Ernährungsstörungen im Stadtkrankenhaus in Behandlung. Er wurde künstlich ernährt  und lag nach Auskunft des Pflegepersonals im Sterben.
2. Es bestehen Vermutungen, die erblich bedingte Störungen möglich erscheinen lassen bzw. diese erklärbar machen."

Und weiter an den zuständigen Richter in Wolfhagen:

"... als behandelnder Arzt wurde von mir mit Schreiben vom 15. Februar 1992 über einige Umstände informiert, die Franks jetzige psychische Verfassung mit verantwortet haben dürften. Er zeigte sich anlässlich eines kurz darauf geführten Telefonats nicht davon überzeugt, dass sich daraus grundsätzlich neue Aspekte für die Behandlung ergeben und stellt die Sicherheitsaspekte zum Schutz seiner Mitarbeiter und der Patienten in den Vordergrund. Die ärztliche Diagnose wird aufgrund des jetzigen Krankheitsbildes gestellt. Eventuelle organische Störungen aufgrund des Krankenhausaufenthalts sind in den Akten bekannt, werden aber meines Erachtens nicht untersucht.
Eine Einbeziehung meiner Person in die Therapie Franks wird mit dem Hinweis beantwortet, ich hätte aus bestimmten Gründen die Distanz zu meinen Eltern gesucht.

Zwar ehrt die Rücksichtnahme und in der Tat ist der gemeinsame Konsens in der Familie gleich Null, dem Patienten Frank Dreyer wird damit eher geschadet als genutzt. Eine offizielle Reaktion des Krankenhauses Merxhausen ging mir heute zu.
 Soweit mir die Umstände bekannt sind, die Franks körperlichen Attacken voraus gingen, entstanden diese immer aus Situationen, in denen sich der Patient missachtet oder provoziert fühlte. Er handelte stets im Bewusstsein der Rechtmäßigkeit der eigenen Handlungen und vor allem im Affekt. Ich halte den Patienten Frank Dreyer für einen friedlichen, gutmtigen und nicht unintelligenten Menschen, der seine zweifelsohne vorhandenen psychischen Probleme nicht bewältigen kann. Möglicherweise tritt eine mehr oder weniger schwere Nervenschwäche hinzu, die zum Einen für seine Ausbrüche verantwortlich ist, zum anderen sein geringes Durchhaltevermögen bedingt. Sicher wird seine Reizbarkeit von anderen Patienten bemerkt und unter Umständen auch getestet. So jedenfalls lassen sich die Erfahrungen der letzten Wochen im Krankenhaus Merxhausen deuten.

Eine Strafanzeige gegen Frank Dreyer und insbesondere eine Verurteilung und Überweisung an das Krankenhaus in Haina schließen wohl endgültig eine Normalisierung seines Zustandes aus. Sie erscheint mir auch unsinnig, da eigentlich nur ein voll für sich              
verantwortlicher, mündiger Mensch einigermaßen "sinnvoll" bestraft werden kann. Eine Verurteilung seiner Person wrde allerdings mit Sicherheit weitere Türen schließen. Eine Integration Franks in eine beschützte Werkstatt, zumindest seine Unterbringung in Anstalten wie Hephata oder Bethel, halte ich für erstrebenswert. Es ist für Frank wichtig zu wissen, dass seine Betreuung glaubwürdig ist.

Desweiteren sollte bei einer eventuell anstehenden gerichtlichen Anklage und der resultierenden Entscheidung nicht vergessen werden, in welcher Weise die Eltern in Zukunft noch die Betreuung des Patienten allein tragen können."

Ich glaubte also tatsächlich daran, eine Verurteilung in einem Strafverfahren verhindern zu können und irgendwie auch für meinen Bruder diesbezüglich zuständig zu sein.
Dabei hatte ich selbst ein durchaus zwiespältiges Verhältnis zu meinem Bruder. Als ich ihn später in in der gerichtlichen Psychiatrie in Gießen besuchte, schrie er jedes Mal, wenn ich auch nur ansatzweise Vorhaltungen wegen seines Verhaltens vor brachte. Die Ausbrüche kamen sehr spontan und erschreckten mich jedes mal. Eine Mitpatientin meinte jedoch, ich solle dran bleiben, es lohne sich.

Die Behörden ignorierten weiterhin meine Kompetenz. Das Urteil bekam ich nicht zu sehen.
So forderte ich es auch im Namen meiner Eltern an.

"Ich bitte in obiger Angelegenheit dringend um eine Kopie des gegen meinen Bruder, Herrn Frank Dreyer, ergangenen Urteils aus der Verhandlung vom 9. Juni 1993.

Er ist angeblich für ein Jahr zur Unterbringung in einem geschlossenen psychiatrischen Krankenhaus verurteilt worden, dazu noch zu einer Geldstrafe. Genaueres ist jedoch weder mir, noch den Eltern des Verurteilten, bekannt, da uns die Einsichtnahme in die Unterlagen auch von seiten des psychiatrischen Krankenhauses in Gießen bisher nicht gewährt wurde.

Eine entsprechende Anfrage meiner Eltern an Sie blieb auch bislang anscheinend ohne Antwort. Ich darf Sie daher bitten, die bestehende Ungewissheit über die Art der ihm zur Last gelegten Vergehen sowie die Dauer seiner Strafe zu beseitigen bzw. eine Kopie des ergangenen Urteils an meine Adresse zu senden."

Frank sollte nun in den nächsten Jahren zwischen Gießen und Haina hin und her pendeln.
Schließlich kam er endlich in ein betreutes Wohnheim in Homberg/Ohm, wo er sich zu stabilisieren schien. Zur Arbeit wurde er täglich in eine Werkstatt nach Schotten gebracht. Das war um die Jahrtausendwende. Mutter war mittlerweile Ihrem Alkoholkonsum erlegen und verstorben. Vater
wendete sich allmählich ab, schickte aber noch Briefe.
Doch eines Tages war auch das vorbei. Frank bedrohte eine Putzfrau und wieder begann ein Kreislauf,
der ihn zurück nach Haina und auch wieder nach Gießen führte. Über weitere Gerichtsurteile gegen Frank fehlt mir die Kenntnis, da Vater bis zu seinem Tod im Jahr 2007 Verfahrenspfleger blieb.
Zeit seines Lebens blieb es bei Vaters Unverständnis der Behandlung von Frank gegenüber und Frank war ambivalent ihm gegenüber. Zwar hatte er Respekt vor dem Vater und übernahm kritiklos des autoritäres Machtverhalten, Gleichzeitig begehrte er immer wieder auf und schrie auch ihn am Telefon an.

Ironie des Schicksals war, das ich im Jahr 2007, als ich darum kämpfte, Vater nach seiner Hirnblutung in meine Nähe zu verlegt zu bekommen, beide in Gießen am selben Tag besuchen konnte. Vater lag erst im psychiatrischen Krankenhaus in Gießen, die nichts mit ihm anfangen konnten, danach im Balserischen Stift und letztlich im evangelischen Krankenhaus Gießen, ohne etwas davon zu wissen. Frank, im psychiatrischen Krankenhaus Gießen stationiert, hätte ihn mühelos
besuchen können, wollte das aber nicht. Vater hatte im Zustand seiner Aphasie seinen zweiten Sohn zeitweise vergessen und weinte, als ich ihm von Franks Anwesenheit in Gießen erzählte.
Frank hingegen wunderte sich, dass ich Vaters Betreuer war. Auf einmal geht das, meinte er.

Nach dem Ableben des Vaters, dachte ich tatsächlich dran, meine Erfahrungen für Frank sinnvoll einzusetzen. Vater hatte mir zwar nur mitgegeben, dass ich seine Ersparnisse vor dem Landeswohlfahrtsverband retten sollte, ich persönlich, wusste aber, dass es rein rechtlich nicht geht.
Als Betreuer allerdings hätte ich mehr Chancen, ihm auch in dieser Hinsicht zu helfen. Doch mein Ersuchen wurde vom Amtsgericht abgelehnt. Frank war befragt und beraten worden und hatte sich gegen mich entschieden.  
So kam es zu einem längeren Zerwürfnis, denn ich konnte die Zurückweisung schwer ertragen.
Seit 2005 hatte er die damalige bestellte Betreuerin und diese war denn auch sehr schnell mit der Eintreibung von Franks Erbe. Nur ein kleiner Teil des Erbes fiel ihm zu, ohne das ich hätte kontrollieren können, wie viel. Den Rest erhielt der Landeswohlfahrtsverband. Immerhin kam Frank nun in meine Umgebung. Seit 2007 lebt er in einem Pflegeheim für alte und behinderte Menschen in Bad Salzhausen. Seit einiger Zeit habe wir wieder regelmäßigen Kontakt.

Bedingt durch den frühkindlichen Hirnschaden ist er nun Epileptiker und kann das Gebäude des Wohnheims nicht mehr erlassen. Einen Spaziergang an meiner Hand in den Kurpark wird es nicht mehr geben. Es selbst sagt über seinen Aufenthalt: "Besser hätte es nicht kommen können."
Mittlerweile hat er ein Einzelzimmer und ist bei den betreuenden Schwestern beliebt.
Briefe an mich lässt er schreiben, weil er es selbst nicht kann. Er ist ruhiger geworden und ein verlässlicherer Gesprächspartner, wenngleich ihm sein Kurzzeitgedächtnis immer wieder im Sich lässt. Zahlen von früher hat er allerdings stets parat.

Und unsere Begrüßung beginnt seinerseits immer mit dem Satz, dass der Michael (mein Onkel) aber größer sei als ich.






   

Sonntag, 27. Juli 2014

Osten

Rauch in der Nase,
Insektenstich in der Hand,
alles ne Phase,
Urlauber auf dem Land,
Ostsee befahren
vom Uropa dereinst
vor vielen Jahren,
fühl' es allerfeinst.


Mittwoch, 18. Juni 2014

I. Torpedobootsflottille

Fliegende Gedanken, so nennt man das, wenn man eben diese nicht mehr unter Kontrolle zu haben scheint. Mein Gehirn ist offensichtlich tagsüber so unterfordert, dass es in den frühen Morgenstunden auf ganz eigene Reisen geht. Was dabei heraus kommt, ist vielleicht noch am Morgen präsent. Wird es dann nicht aufgeschrieben, so bleibt bestenfalls noch eine Grundidee zurück.
Da stehe ich mit einer großen blonden Frau in einem Laden, die meine zu sein scheint. Da ist so ein Grundgefühl von Vertrautheit, ohne das wir allzuviel miteinander reden oder uns ständig zeigen zu müssen, dass wir zusammen gehören. Ich kümmere mich um die weibliche Kundschaft. Eine Dame offenbart mir, dass sie die Stadt verlässt und wohl für 12  Jahre unseren Laden nicht mehr besuchen wird. Warum es gerade 12 Jahre sind, danach frage ich nicht. Ich tue stattdessen sehr vertraut, obwohl ich die Dame vorher nie angesprochen habe. Natürlich soll sie uns doch bitte schön die Treue halten und wir werden uns ja bestimmt wieder sehen. Bis ich die Zahl 12 überreiße , das dauert ein bisschen. Da ist die Dame schon weg.
Überhaupt halte ich mich für einen Helden im Umgang mit den Kameradinnen von der anderen Feldpostnummer.
Die Bereitschaft von Frauen, einer Unterhaltung mit mir zu suchen, verwechsle ich mit meinen Anbandelversuchen.
Kein Wunder,, dass die meine so ruhig bleibt.
Mit wem ich mich selbst so verwechselt habe? Vielleicht mit meinem Urgroßvater, der ja auch einige Zeit den Matrosen auf einem Torpedoboot gegeben hat. I. Torpedobootsflottille stand einst auf seiner Mütze, wie ich erst kürzlich auf einem Foto entdeckte.

Mittwoch, 30. April 2014

Abschluß - Brief an keinen Unbekannten

Hallo Herr,

ihr Blog "Arbeit und Struktur" hat mich sehr beeindruckt.
Ich hoffe, Sie haben noch möglichst viel Zeit, um daran weiter zu schreiben. Als vor 1993 Geborener habe ich ja das Recht, Ihnen einen Brief zu schreiben. Als typischem Computer-Hocker fällt mir das gar nicht so leicht. So trainiere ich meine Handschrift mal wieder, aber das nur am Rande.
Das Sie sehr geehrt sind, ist klar, obwohl ich es in der Anrede nicht zum Ausdruck bringe. Sonst würde ich Ihnen wohl auch nicht schreiben.
Ich fliege zur Zeit über ihren Blog gerade zu hinweg. Es ist keine leichte Lektüre, die sie da anbieten, aber sie ist wenigstens der Wahrheit gemäß. Sie schreiben in Ihrem Blog Wahrheiten auf und das ehrt sie. Es ist beeindruckend, wie Sie den Irrwitz des Lebens auf den Punkt bringen.
"Wenn ich etwas merke, rufe ich Dich an." Das steht ganz im Gegensatz zu ganz im Gegensatz zu der Szene vor ihres Zusammenbruchs vor einer Krankenhaus-Einlieferung, die von Kontrollverlust und der damit verbundenen Dramatik geprägt ist. Der Ausspruch stammt im wahren Leben von meinem Vater und in eben solchem erlitt er eine Hirnblutung, von der er sich nicht mehr erholte, die uns aber eine dreimonatige Zeit der Annäherung und des Abschiednehmens ermöglichte. Eine aufmerksame Nachbarin hatte den Notarzt gerufen und damit sein Leben zunächst gerettet. Ich selbst erlebte diese Zeit als Betreuer im Zusammenspiel mit Krankenhäusern, Reha-Kliniken und Pflegeheimen in völliger Ohnmacht. hinsichtlich der Abläufe.
Heute würde ich vieles anders machen.
Zwei Tage vor seinem Tod sagte Vater zu mir: "Du lebst ja noch!", als ich ihn besuchte. Da hatte er recht, ich war wie immer mit dem Auto unterwegs. Er lebte in einer eigenen Zeit und einer anderen Welt als ich, aber er traf wie immer "des Pudels Kern". "Noch" ist das Stichwort. Der Tod grenz uns alle ein, macht das Leben wertvoll und wird uns meist erst bewusst, wenn er unvermeidlich ist. Erst die Angst vor ihm zwingt uns die Beschäftigung mit der eigenen Endlichkeit auf. Dabei ist er immer gegenwärtig. Diese Konstante und das Wissen, dass am Ende alles Nichts ist, hat mich immer eher beruhigt.
Aber, darf ich Ihnen das schreiben? Ich fühle als Voyeur, wenn ich Ihren Blog lese.
Sie haben den Mut, ihre Situation zu beschreiben, ungeschminkt. Das ist mehr, als man von einem Schriftsteller erwarten kann. Sie nutzen die Möglichkeit, sich auszudrücken, bis zuletzt. Ich wäre dazu zu faul.
Der große "Vereinfacher", so wurde ich mal genannt.
Aber wie würde ich mich in Ihrer Situation verhalten? Sie hinterlassen Ratlosigkeit. Mein Motor ist die Ungeduld, der lange Atem hat mir stets gefehlt.
Vielleicht finde ich die Lösung in Ihrem Blog. Immerhin hat es mich berührt und dafür danke ich Ihnen.

Herzliche Grüße

Im November 2011



Mittwoch, 19. März 2014

In the Mood

Vater pflegte über die Zeit nach seinem Tod stets zu sagen, dass er sich dann die Radieschen von unten ansehen würde. Auch war davon die Rede, dass man mit seinen Knochen dann die Äpfel von den Bäumen schmeißen würde. Ein sehr plastisches Bild, das wohl mit seinen Kriegserfahrungen im zerbombten Kassel entstanden sein mag.
Das Wetter ist ähnlich schön und der Frühling mindestens genauso weit wie vor sieben Jahren, als er ging.
Sein Todestag blinkte ab und zu in meinem Gedächtnis auf. Aber der Alltag schüttete die Lichtlein zu.
Wieder einmal werde ich an einem Geburtstag teilnehmen, doch dieses Mal ist Vater schon längst begraben, was an der Widersprüchlichkeit meiner Gefühle nichts ändert.

Sonntag, 2. März 2014

Verlust

Nichts kann Dir den Verlust eines Menschen ersetzen, erst recht nicht den endgültigen eines geliebten. Da gibt es keine Worte, die richtig wären, kein Gefühl, was man mit fühlen kann.
Es ist das Ende, von dem man glauben mag, es sei ein Freund. Aber der Glaube trügt, auch der von der angeblichen Zeit, die wir noch haben. Das Leben vergeht zu schnell, um zu warten und doch machen eigentlich alle genau das. Warten auf den Anderen, warten auf sich Selbst, warten auf Erfolg oder das Glück, warten auf den Tod. Manche suchen, manche finden.
Es bleibt der Verlust, den man nur haben kann, wenn man vorher einen Gewinn hatte.

Donnerstag, 16. Januar 2014

Ringgeist - Die Ankündigung II

Versuchte zu verstehen, was meinem Vater passiert ist. Kombinierte aus seinen Erzählungen am 9.3.2007. Das er mich auf einem Volksfest gesehen haben wollte, wo ich definitiv nicht anwesend war, schmeichelte mir.

Die Geschichte müsste umgeschrieben werden. Er wollte doch weg, in das Krankenhaus, wo sein Sohn als Baby lag. Eine Sanitäterin war nett, sie sagt: wir machen das schon. Seine Telefonrechnung zeigt einen Anruf. Die Nachbarin hat den Notdienst gerufen. Drei Männer hätten ihn eingekreist, in der Aue. Bis zum letzten Tag ist er mit dem Fahrrad gefahren, zu seinem Lieblingsplatz. Er will sich wehren, bekommt einen Schlag auf den Kopf von hinten. 15 Euro hatte er gehabt. Dann ist er weg gelaufen, weiß nicht wohin. In der Nähe eines Volksfests sei es gewesen.
Der Herkules steht eingerüstet ohne Kopf.
Er sagt, die Sonne scheint, ins Krankenzimmer.