Freitag, 30. November 2012

Gold - XXXV

Er bittet mich um Erlaubnis, etwas Beruhigendes geben zu dürfen und die Arme zu fixieren. Das alles soll nur vorübergehend sein. Schweren Herzens erteile ich die Erlaubnis. Wieder vergehen einige Tage bis ich am Wochenende, dieses Mal mit Auto und Haftcreme, eine Fahrt nach Bad Orb unternehmen kann.
Als wir die Tür öffnen, sagt Vater zu mir: "Was machst Du mit mir?"
Ohne große Begrüßung, ich bin erst einmal konsterniert. Er hat hier ein Einzelzimmer und es riecht muffig. Vermutlich war das Fenster schon länger nicht mehr offen. Er redet nur zögerlich und wenn, dann sagt er, dass die hier gegen ihn seien. Seinen Katheder empfindet er als Unverschämtheit. Ich sehe neben seinem Bett einen Rollstuhl. Ich versuche erneut, ihn besser zu stimmen und zu trösten. "Wenn Du aufstehen kannst und mir sagst, daß Du nach hause gehen kannst, dann habe ich bestimmt nichts dagegen." Die Wohnung, meint er, die wäre doch wohl noch da? Als ich das bejahe, meint er, daß das auch so bleiben soll. Ich deute an, daß wir das überlegen müssen, mehr nicht. Das Wetter ist mild in diesem Januar und die schöne Umgebung lockt zum Ausgang. Die Schwestern sind hier osteuropäischer Herkunft. Ich gehe zum Schwesternzimmer, zum einen, weil ich der schlechten Luft entfliehen und zum anderen weil ich die Schwester bitten möchte, mir bei einer Ausfahrt mit dem Rollstuhl behilflich zu sein. Ohne große Umschweife fragt sie meinen Vater, ob er mit dem Rollstuhl nach draußen will. Er sagt sofort ja. Sie schafft es ohne meine Hilfe, Egon in den Rollstuhl zu bugsieren. So verlassen wir etwas unsicher sein Zimmer, denn auch das Rollstuhl schieben will gelernt sein. Im Aufzug angekommen, scheint er sich im Spiegel zu sehen. Seine Zähne sind nicht richtig fest im Mund. Er sieht ausdruckslos aus. Entweder sieht er sich nicht oder er begreift nicht, daß er sich selbst sieht. Wir suchen ein ruhiges Plätzchen, erst in der Cafeteria, bis wir merken, daß es am besten wäre, allein mit ihm irgendwo zu sitzen. Das Problem beim Schieben, daß er einen Fuß nicht auf dem Raster stehen hat, sondern auf dem Boden schleifen läßt. Das macht das Schieben schwer und ich habe Angst, ihn zu verletzen. Anscheinend aber gleitet der Hausschuh gut über den überwiegend glatten Boden. Wir finden schließlich einen leeren Aufenthaltsraum, ein Fernseher steht darin. 

Ich habe das Gefühl, er denkt über irgend etwas nach. Täuscht uns, um im nächsten Moment den Versuch des Aufstehens zu wagen. Ich gerate innerlich in Panik, weil ich weiß, daß ich die Situation nicht beherrsche. Wieso nimmt er seinen Fuß nicht hoch und warum spricht er nicht, wenn ich ihn was frage? Da sitzen wir beide sprachlos neben einander. Quälend lange, bis ich es nicht mehr aushalte. Ich will mit ihm zurück auf das Zimmer, so schnell wie möglich. Trotz des offensichtlich schlechten Zustands meines Vaters drängen sich Leute vor uns in den Aufzug. Wir warten bis ein leerer Aufzug kommt. Ich fahre Egon bis neben das Bett. Nun brauche ich die Schwester wieder. Im Schwesternzimmer sage ich ihr, das Vater sich über seinen Katheder beschwert hat. Sie erwidert daraufhin nur lakonisch, daß mein Vater inkontinent sei und es nicht merke, wenn er müsse. Angesprochen auf seine angebliche Aggressivität, sagt sie nur, das sei bei alten Leuten hier normal, das komme öfter vor. Wiederum schafft sie es allein, meinen Vater ins Bett zu setzen und zu legen. Er fällt erleichtert nach hinten und muß noch ein Stück hoch gezogen werden. Das ist schwer. Immerhin spricht er nun wieder. Redet über eine kleine Wohnung mit Küche, ein Zimmer vielleicht, scheint sich doch mit einer Veränderung anzufreunden. Bemerkt, dass es nun für mich nicht mehr so weit sei. Ich erkläre ihm den Fernseher, den er hier für sich allein hat. Zeige ihm den Nachtisch, der noch ungeöffnet da steht. Es sieht so aus, als nähme er das alles erst jetzt zur Kenntnis. Nachdem wir die Wäsche kontrolliert haben, es ist Schmutzwäsche darunter, und seine sonstige persönliche Habe auch da ist, scheint erst mal wieder alles im Lot. (Die Bilder wurden nicht geschnitten, die Fingernägel wenigstens.) Die Schmutzwäsche nehmen wir mit, hier wird er nun wieder auch was brauchen. Vielleicht sollte ich in der Woche mal hinfahren, sonst wird es knapp. Mir wird allmählich klar, dass durch die Verlegung ich der einzige Anker bin, den Egon in einer ihm fremden Welt noch hat. Nachdem ich die Position des Kopfteils für ihn eingerichtet habe, legt er sich nach der Verabschiedung auf die Seite. Den Fernseher habe ich eingestellt, vielleicht schaut er ein bißchen. Er ist zu schwach für längere Gespräche.
Wie immer ist an den Wochenenden kein Arzt zu sprechen. Ich kenne den Namen der Ärztin hier, aber was nutzt das, sie hat keinen Dienst. 

Donnerstag, 29. November 2012

Gold - XXXIV

Ich muss versuchen, die Verlegung meines Vaters in ein Krankenhaus in unserer Nähe zu erreichen. Dazu rufe ich im Krankenhaus an, will abklären, was machbar ist. Wie meistens, lande ich erst einmal bei der Schwester. Geplant ist die erneute Verlegung nach Bad Wildungen. Aber wenn ich ein anderes Krankenhaus fände, so sei das kein Problem, ich müsse es nur bald mitteilen. Ich spreche mit der Gesundheitskasse, Egon hat da immer eine gute Meinung gehabt. In der Tat helfen sie mir weiter, Bad Camberg oder Bad Orb stehen als Rehakliniken zur Auswahl. Da Bad Orb entschieden näher ist, gebe ich die Adresse an das Klinikum Kassel weiter. Die Formalitäten lassen sich wohl klären, jedenfalls erhalte ich Nachricht über den Verlegungstermin. Wir haben nun Mitte Januar und ich scheine ein Stück weiter zu sein. 
Am Tag der Verlegung denke ich intensiv an Vater, stelle mir seinen Transport vor. Am Vormittag ruft Frau Dr. H. aus Kassel an. Mein Vater sei sehr aufgebracht und weigere sich, transportiert zu werden. Ob ich mit ihm sprechen könne. Mit seiner etwas hohen Stimme, erklärt er mir, dass er nicht verlegt werden, sondern in seine Wohnung wolle. Mühevoll erkläre ich ihm, dass er sowieso in die Reha verlegt werden sollte und dass das nicht an mir liegt. In Bad Wildungen hätte es ihm ja nicht gefallen und nun könne er in meine Nähe. Ich stelle abschließend fest, er sei krank. Daraufhin erklärt er mir voller Zorn: "Du bist krank!" Wieder versuche ich ihn zu beschwichtigen: "Ich kann Dich dann besuchen!" Völlig unerwartet bricht es aus ihm heraus: "Ach, da freue ich mich!" Das Gespräch endet. Mir ist klar, dass Egon wahrscheinlich während des Gesprächs etwas Beruhigendes gespritzt bekommen hat. Frau Dr. H ist wieder dran und betätigt mir, dass die Verlegung nun beginnen kann. Am Abend des gleichen Tages erhalte ich einen Anruf aus dem Rehazentrum in Bad Orb.
Der diensthabende Arzt teilt mir mit, dass Vater heute angekommen ist. Er würde aber keinen an sich heran lassen.

Mittwoch, 28. November 2012

Gold - XXXIII

Paul hatte sich immer vorgestellt, seinen kranken Vater in der Nähe zu haben. Er wollte die Zeit nutzen, die noch bliebe. Vielleicht ein paar Ausfahrten mit dem Rollstuhl, vielleicht könnte der Vater ja auch seine Wohnung mal besuchen. Alles würde am Ende doch irgendwie gut werden. 
Das Leben hatte beide gegeneinander aufgebracht. So kam es ihm vor.
Würde es am Ende doch eine Aufklärung geben, könnte er doch ein bisschen Anerkennung erreichen?

Paul war wieder mal im Widerspruch mit sich selbst. Einerseits wollte er die Kraft nicht aufbringen, andererseits wusste er, es gibt keinen anderen Weg.

Dienstag, 27. November 2012

Nachwort?

Heute nacht lag ich mit der Hand auf der Brust im Bett, ich mache das immer, wenn ich aufwache. Mir war, als wollte mir jemand mitteilen, dass er so dagelegen hat wie ich, als er gestorben ist. Ich lag auf dem Rücken mit dem Kopf leicht nach hinten gestreckt. 
(24.5.2007)

Montag, 26. November 2012

Gold - XXXII

Die Bemerkung von Rachel, er sei so wie sein Vater, hatte in Paul Spuren hinterlassen. Hatte nicht die Mutter darüber geredet, dass sein Vater vor ihrer Zeit Besuch von merkwürdigen Frauen hatte?
Aber was war für sie merkwürdig oder komisch?
Paul selbst hatte nach seiner Zeit in Israel die Kneipenbesuche notgedrungen wieder aufgenommen.
Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, bei Eltern oder anderen Verwandten in schlechten Zeiten unterzukriechen. An solchen Abenden machte er sich zumindest bei den Frauen mit der Bemerkung unsterblich, ob eine Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau sich denn immer auf das Eine reduzieren lassen müsse. Das war ein Volltreffer, der ihm aber sonst keinen weiteren Erfolg brachte.
Wenn Fahrten nach hause stattfanden, dann mit dem Zug und nur um hinterher festzustellen, dass es besser für ihn gewesen wäre, schnell wieder nach hause zu fahren. Es war so ein Zwang, meist ausgelöst durch die Frage der Mutter, wann er denn mal wieder einmal kommen würde. Er selbst wusste nicht, warum er sich diesem auf einem einfachen Stuhl sitzenden Mann aussetzte, der nur auf den ersten Schlagabtausch zu warten schien, während die Mutter so tat, als sei er der jüngere Liebhaber. Sie war frei von Sorgen, die sich Mütter normalerweise um ihre Söhne machen, dagegen voller Erwartungen (bringst Du mir etwas mit?).
Es konnte nur die vertraute Gegend sein, die ihn hin zog.
Und diese lag nicht in der Siedlung der Eltern sondern im sogenannten "Vorderen Westen" der Stadt, genau dort, wo er als Kind den Zügen nachgesehen hatte und nach dem Auszug aus dem Herrschaftsbereich des Vaters in möblierten Zimmern versucht hatte, wieder heimisch zu werden.      

Sonntag, 25. November 2012

Gold - XXXI

Ist das auch wieder so eine Geschichte, wie die mit den Kindern? 
Warum lügst Du Deinen Vater an? fragte Rachel vorwurfsvoll. Du hast keine Kinder, soweit ich weiß.
Doch, es sind meine, gab Paul zu. Deine? Du hast nie für sie gesorgt, warst nie mit ihnen zusammen. Hast Du sie groß werden sehen? 
Dein Vater hat Dich groß gezogen und sich gekümmert. Er hat Dich geliebt.
Woher weißt Du das? Paul wurde zum ersten Mal richtig wütend. Dieser Mensch hatte Spaß daran gehabt, ihn anzuziehen, wie er wollte, ihn zum Friseur und zum Wehrdienst zu zwingen, den er fast nicht überlebt hätte. Der Mutter die Unselbstständigkeit ermöglicht und nicht verstanden, dass sein zweites Kind behindert war. Er hatte einen Krieg gegen seine eigene Familie geführt, die Altersmilde seiner Stiefmutter abgetan. Mit einem Satz, er wich nicht einen Millimeter von seinen Vorstellungen ab und schon gar nicht wegen seiner Kinder.
Nun hatte Paul alle Argumente beisammen, ein altbekannter Hass mischte sich mit ebenso bekannter Abneigung über die aus seiner Sicht bestehenden Tatsachen zu diskutieren.
Rachel kommentierte nur trocken: Du bist wie er. Nur das er bereits verstanden hatte, warum wir zusammen sind.
Paul hatte sich verrannt, er wollte weiter in die gleiche Richtung, aber ihm fiel ein, wie der alte Mann im Krankenbett ihre ab und an aufkommenden Unstimmigkeiten kommentierte: streitet euch nicht.
Wie er die Ohren gespitzt hatte und die jeweiligen Argumente, die sie austauschten, verfolgte.
Schon früher hatte er ihm geraten, sich nicht aufzuregen. Vater hatte immer eine klare Meinung. Da musst Du nichts machen, war seine, bezogen auf die Kinder. Er hatte sich damit abgefunden, wie es war.
Er war ein Meister darin, sich Abzufinden.
Rachel tat, was sie immer tat, wenn sie Zuneigung empfand, sie stellte ein Bein zwischen seine, drängte sich heran und fragte: das mit den Kindern, das war ein Wunsch?
Yep, sagte Paul und war sich sicher, dass das Thema nun erledigt sei. 



Samstag, 24. November 2012

Gold - XXX

So oder so, die Geschichte in Kassel war zu Ende.

Vater war gut vorbereitet, er hatte sich Kalender für das nächste Jahr besorgt. Solange das Wetter gut war,
konnte ihm der Winter und die Weihnachtszeit nichts anhaben. Sein Fahrrad stand bereit. Von der Bank hob er 30 € ab, das sollte für die nächste Woche reichen.  
Am Wochenende des 1. Advent war er mal wieder mit der Hausordnung dran. Das hieß vor allem Treppe wischen und vor dem Haus fegen. Nicht jeder machte seine Hausordnung ordentlich, vor allem die Ausländer nicht, wie er stets betonte. ihm aber war diese Pflicht der Mieter nicht egal. Er brachte die Karte, auf der die Mieter ihre Unterschrift leisten mussten, nachdem sie die Hausordnung erledigt hatten, zur Nachbarin im 
1. Stock, die in der nächsten Woche dran war. 
Als er zurück zur Wohnung ging, fühlte er sich seltsam benommen. Vielleicht sollte er sich hin legen, aber das war ihm zu unsicher. Eigentlich hatte er nichts mehr zu tun. Das Essen für den Tag hatte er sich schon gekocht. Ein großer Topf mit Erbsensuppe stand bereit.
Ihm fiel ein, dass er noch Sofakissen bügeln musste. Als er das Bügeleisen aus dem Schrank geholt hatte, bemerkte er ein Kribbeln in den Händen. Es fiel ihm aus der Hand. Die eigene Wohnung wurde nun zum  See, auf dessen Mitte er sich bewegte, ohne das Ufer zu erreichen. Angst stieg in ihm hoch, gepaart mit einer gewissen Überraschung. Er war doch sonst gut vorbereitet, ein gepackter Koffer mit Sachen für das Krankenhaus lag auf seinem Schlafzimmerschrank. Das Zimmer, in dem er gar nicht mehr schlief, seit seine Frau hier gestorben war. Er wollte anrufen, es ging um das Geld. Das war ein Ziel, aber der Körper machte nicht mit. Der rechte Arm war lahm, der linke ließ den Hörer fallen. Er versuchte, beruhigend auf sich einzureden, verstand sich aber selbst nicht. Was war das für ein unverständliches Kauderwelsch?
Die wenigen Meter zum Sofa dauerten eine Ewigkeit, er ließ sich fallen, kam in Rücklage, drehte und drehte sich dauernd. Irgend wann muss es doch aufhören, dachte er noch, begann zu dämmern. Endlich schlafen.
Sein Sohn war doch da, in der Aue, Männer standen um ihn herum, wollten Geld. er nahm die Verteidigungshaltung ein, bis er einen Schlag auf dem Kopf spürte. Wenn er nur seinen Schlagring dabei gehabt hätte. Er rannte und rannte, wollte nur noch nach hause.
"Du darfst mich nicht ins Krankenhaus bringen." 

"Heute Vormittag haben wir einen Anruf aus der Neurologie in Kassel bekommen. Der zuständige Arzt hat uns informiert, dass ihr Vater dort kurz nach seiner Einlieferung verstorben ist. (Nähere Informationen über die Todesursache habe ich aufgrund der Schweigepflicht des Arztes auch nicht). Ich habe der Klinik in Kassel mitgeteilt, dass ich Sie als Bruder von Herrn Dreyer informieren werde, damit sie alles Weitere organisieren und möglicherweise noch Abschied von Ihrem Vater nehmen können. Daher bitte ich Sie, sich in der Neurologie in Kassel zu melden. Leider liegt uns keine Telefonnummer von Ihnen vor, so dass wir Sie lediglich auf diesem Weg benachrichtigen können. Ihren Bruder werden wir die Nachricht in den nächsten Tagen übermitteln, sofern sein Gesundheitszustand dies zu lässt.
Mit freundlichem Gruß
(Dipl.-Psych.)"
Den Zettel mit meiner Telefonnummer und der Notiz seines Vaters, dass er im Falle seines Todes der Ansprechpartner sei, den hatte er später im Sekretär zusammen mit den übrigen wichtigen Unterlagen gefunden. Ebenso wie den Topf Erbsensuppe.  

Freitag, 23. November 2012

Gold - XXVIX

Das soll also die Wahrheit sein, dachte Rachel. Es ist aber wieder etwas übertrieben. Er tut so, als sei er ein Frauenschwarm gewesen. Jetzt schreibt er aber weiter und bringt die Krankheitsgeschichte eines Mannes zu Papier, den er besser ruhen lassen sollte. Anscheinend wird er auch damit nicht fertig. Sie betrachtete ihren langen Fingernägel, die sie gern irgendwo hin gekrallt hätte.
Paul hatte gelernt, dass man Frauen gegenüber nicht emotional argumentieren sollte. Vor allem nicht dann, wenn man mit ihnen zusammen lebte oder sie glaubten, man stünde ihnen näher. Es lag ihm auch fern, seine Berichte zu verteidigen. Er blieb stattdessen stumm und dachte über die Frage nach, was Fiktion oder Non-Fiktion war. Erinnerte sich nur kurz daran, wie er früher schon bemerkte, dass aus eigentlich ganz netten Typen in der Kneipe mit dem Auftauchen einer Freundin an ihrer Seite wahre Spaßbremsen und Langweiler geworden waren. Die Bedürfnisse, die Mütter in ihren jungen Söhnen wecken, werden sicher von anderen Frauen, die einem über den Weg laufen, nicht erfüllt. Die Mutterrolle, die eine Frau gegenüber ihrem Sohn einnimmt, ist sicher eine Fiktion. 
Dieser Gedanke allein hätte bei Mutter den Satz "Das darfst Du nie denken." ausgelöst. Obwohl sie sich selbst immer auf die "Gedanken sind frei" berief. 
Gewisse Dinge darf ein Mann nicht denken. Censored by Schatz, sozusagen.
Rachel jedoch war noch nicht fertig. Was sind das für Kinderbilder, die Du ihm ins Krankenhaus gebracht hast, so lautete die Frage. 
Reine Fiktion, murmelte er und dann entschlossener: etwas Hoffnung musste in diese Geschichte ja hinein kommen. Wenn Zweifel ein Feuer sind, dann loderte das jetzt schon ganz heftig. 

Donnerstag, 22. November 2012

Gold - XXVIII


Nun bekomme ich ein Riesenproblem, Vater will nach hause. Er meint, ich hätte sicher seinen Sachen im Auto, er will nun aufstehen. Ich versuche ihm zu helfen, das Gitter kriege ich notdürftig herunter. Wenn er erst mal steht, wird er sicher merken, dass er nicht laufen kann, denke ich. Dann kommen mir Bedenken, er ist schließlich angeschlossen und ich habe keine Ahnung, wie man das alles transportabel macht. Ich kann ihm nicht helfen. Also störe ich die Schwesternrunde mit der Alarmmeldung: mein Vater will aufstehen, darf er das? Meine Frau sitzt draußen im Flur, hat verzichtet, das Zimmer zu betreten. Nach kurzer Zeit erscheinen drei Schwestern im Zimmer. Vater hat sich aufgesetzt, die Füße auf dem Boden, sein Nachthemd ist verrutscht, er hat sonst nichts an. Die Schwestern sprechen mich nicht an, sie umringen Vater, links und rechts eine, die andere bereit seine Beine zu greifen. Mir bleibt nichts übrig, als die Szene zu beobachten. Schließlich verlasse ich das Zimmer. Die Tür steht offen. Ein Tumult aus Kommandos und Zurechtweisungen an meinen Vater ergeht. Eine berlinisch gefärbte Stimme schnauzt meinen Vater an: „Ja ja, ich weiß es ist alles scheiße, wir sind auch scheiße!“ „Aber Du musst essen, bevor Du aufstehen kannst!“ „Verstehst Du das?“
Zwischendrin höre ich die Stimme meines Vaters, dessen Widerstand schwächer wird. Als die Schwestern das Zimmer verlassen, sage ich: danke! Ich habe nicht das Gefühl gehört zu werden. Wieder zurück im Zimmer versuche ich Egon, so heißt er, die Situation zu erklären. Dass er sich erholen muss von seiner Erkrankung, dass er essen soll und dass er erst dann das Laufen wieder üben kann. 
Ich habe Vater Bilder mit gebracht und zum ersten Mal blättert er die durch, die DIN-A-4 – Seiten sind allerdings sehr unhandlich. Sie sind hübscher als der andere, meint Egon. Mit dem anderen ist mein Bruder gemeint. Ich lasse ihm die Fotos da. Sein Essen steht immer noch unangetastet auf dem Nachtschrank. Er will nicht essen und schon gar nicht in meiner Gegenwart. Eine jüngere Schwester erscheint zum Blutdruckmessen, alles in Ordnung. Sie betrachtet die Bilder und meint, man müsste sie ausschneiden und sie will eine Schere holen. Wir sehen, dass Egons Fingernägel nicht geschnitten sind. Zum Glück sieht das auch der Krankenpfleger, der von meinem Vater fast euphorisch begrüßt wird. Er will sich darum kümmern. So scheint der Besuch doch noch ein versöhnliches Ende zu nehmen. Uns wird aber klar, dass
es so nicht weiter gehen kann. Mich ärgert es immer noch, das ich die Haftcreme verlegt habe. Zum Abschied gebe ich ihm wieder die Hand.
Egon will das alles immer vorweg nehmen und verabschiedet sich innerlich schon vorher. "Das Du Dich jetzt um mich kümmerst, hätte ich nicht gedacht." Sagt er. Ich frage mich und versuche meine Verwunderung zu ordnen. Wer hätte es sonst tun sollen und warum nicht ich? Schnell treten aber die praktischen Probleme in den Vordergrund. Ale ich Vater sage, daß ich in zwei Wochen wieder komme, wird er still. Ich schaffe es nicht öfter, versuche ich zu erklären. Er meint auch, die seien hier mit ihm fertig. Die Ärzte wären schon da gewesen. Darauf gründete er seine Hoffnung auf Entlassung. Wieder muß ich die obligatorische Erklärung geben. Er soll erneut nach Bad Wildungen kommen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er da klar kommen soll. Schließlich drücke ich seine immer noch feste Hand. Seine körperliche Verfassung gefällt mir weniger gut. Wir sind auf dem Flur und überlegen, ob es in Kassel so etwas wir die "Grünen Damen" gibt. Das sind in Frankfurt Damen, die ehrenamtlich in ein Krankenhaus gehen, um Patienten zu besuchen und für sie Besorgungen zu machen. Wir beschließen beim Pförtner nachzufragen, werden aber abschlägig beschieden. So etwas scheint man sich in Kassel nicht einmal vorstellen zu können. 

Mittwoch, 21. November 2012

ISRAEL

2. März 1981
Abflug aus Frankfurt, beweise, dass ich nicht zu feige bin, nach Tel Aviv zu fliegen.
Ankunft 19.30 Uhr Ortszeit, nachdem ich das Gepäck bekommen habe, wechsle ich Geld, finde die Touristinformation nicht und verlasse den Flughafen. Statt den Bus zu nehmen, lasse ich mich mit einem Taxi für 96 Schekel in die Hayarkon Street fahren. Vorher wäre mir in dem Gewimmel von Taxifahrern, die dauernd auf mich einredeten, fast wäre mein Rucksack verloren gegangen! Wir werden (ein Mädchen aus Yorkshire ist auch dabei) zu einem privaten Jugendhotel gefahren.  Die Betten sind elendig, Frühstück gibt es nicht, dafür zahle ich nochmals 39 Schekel.
3. März 1981
Am anderen Morgen stehe ich sehr früh auf, dem Rat eines sehr netten Engländers folgend, und erreiche das Kibbutz-Office für Volontäre. 
Dort bin ich einer der ersten Volontäre und soll nach Massada fahren. Das liegt in der Gegend, die ich als ersten Wunsch geäußert hatte. Die Volontäre seien dort sehr zufrieden, die körperliche Arbeit tue mir gut. Die Formalitäten sind schnell erledigt, da ich meine Versicherung bereits abgeschlossen habe und nicht, wie die anderen, den Betrag, der niedriger ist als in Deutschland, erst auf der Bank einzahlen muss. Mein Bus geht erst um 12.00 Uhr, so lasse ich das Gepäck zunächst im Office und sitze am Strand von Tel Aviv mit meinen Gedanken über die verlorene Beziehung.  
Es muss schon ungefähr 11.00 Uhr gewesen sein, als ich in Englisch angesprochen werde. Ein Typ mit langen Haaren will von mir die Uhrzeit wissen und wir kommen ins Gespräch. Ich erzähle ihm, dass ich nach Massada fahre. Er kennt sich gut aus, ist seit zwei Jahren nicht mehr in Deutschland gewesen und sagt mir einiges über Massada. Obwohl er sagt, das es gut sei, veranlassen mich zwei Dinge, zum Office zurückzugehen. Der Kibbutz liegt an der Grenze und außerdem scheint die Arbeit schwer zu sein. Er kommt mit mir zum Office und amüsiert sich offensichtlich über meine Befürchtungen. In meinen Augen waren die Nachteile jedoch schwerwiegend genug, um auf Änderung zu drängen. Zurück im Office fand ich nun auch die Sekretärin vor, die etwas freundlicher war als ihr Chef. Ich bat sie, mich doch in ein anderes Kibbutz zu vermitteln mit der Begründung, ich wolle nach Gilboa, vielleicht nach Tel-Josef oder En Harod. Das waren die einzigen Namen von Kibbutzen in der Gegend, die ich kannte. In Tel-Josef war ein Platz frei und ich machte mich sofort auf den Weg zur Busstation, von wo aus ich fast ohne Wartezeit nach Afula weiterfuhr. Im Ganzen war ich froh, nach Tel-Josef zu kommen. 

Tel-Josef, warum? Meine verflossene Flamme schwärmte davon, dort hatte sie ihre unvergessene erste Liebe kennengelernt und mir schien das nun ein geeigneter Ort, um meine Wunde zu kurieren. Vielleicht wollte ich auch nur noch ein bisschen darin rumrühren. Denn die Hoffnung, dass es Leute gab, die sie kannten, war wohl eine der Motivationen. Tel-Josef wurde in den Zwanziger Jahren gegründet. Da das Land eigentlich sumpfig gewesen war und von den jüdischen Siedlern erst trocken gelegt werden musste, standen die Häuser für die Volontäre auf Pfählen. Sie waren aus Holz und im Winter mit Holzöfen in jedem Haus zu beheizen. Obwohl eigentlich, mit Etagenbetten ausgestattet, schliefen in der Regel nicht mehr als zwei Volontäre in jedem Haus. 
Gleich nach der Ankunft wurde mir das Zimmer zugewiesen und ich bekam meine Arbeitskleidung, blaues Hemd und Hose sowie Stiefel. Die Volontäre arbeiten 6 Stunden am Tag 6 Tage lang von 7 Uhr morgens bis 1 Uhr mittags, nachmittags und der Samstag (Shabbat) ist frei.  
Das Lager der Volontäre war etwas abseits des eigentlichen Kibbutz gelegen, die Kibbutzniks wohnten in Steinhäusern und nur gelegentlich hatten Volontäre engeren Kontakt oder wurden sogar in deren Wohnungen aufgenommen. 
Außer einigen Deutschen, die so wie ich nur einen Monat bleiben wollten, gab es u.a. Amerikaner, Engländer und Südafrikaner, die die Aufenthaltsdauer aus persönlichen Gründen so lange wie möglich hinauszögerten. Prinzipiell gabe es eine Aufenthaltserlaubnis nur für maximal drei Monate. Länger ging nur mit Zustimmung der Kibbutzverwaltung und Erteilung eines Verlängerungsvisums. 
Während die Deutschen meist religiöse Gründe für Ihren Aufenthalt angaben, Waren einige Amerikaner aus der Armee desertiert und auf der Flucht.   
Meine Arbeit bestand nun darin, morgens zur Grapefruiternte auszurücken. Die Bäume waren zum Glück nicht zu hoch, denn das Abreißen der Früchte von unten war nicht gern gesehen. Der Stiel in der Mitte der Frucht sollte nicht heraus gezogen werden. Am Vormittag gab es immer noch ein kleines Picknick zwischen drin. 
Gespräche zwischen Einheimischen und Volontären kamen je nach Herkunftsland zustande. Mit einem südafrikanischen Volontär wurde oft über von beiden Ländern erprobte Waffensysteme gesprochen.
Palästinenser kamen eigentlich nicht vor, wir sahen sie nicht und hörten immer nur von den "Indianern". 
Das meint wohl soviel wie die Eingeborenen. 
Natürlich gab es auch den Innendienst. Wer Küchendienst hatte, musste in der Regel den Abwasch besorgen. Wenn ich mit meinen Stiefelabsätzen durch die Küche knallte, erntete ich etliche angstvolle Blicke. Ältere Frauen, die dort arbeiteten hatten an deutsche Stiefelträger offensichtlich keine guten Erinnerungen. Meine Aufgabe war aber nur das Reinigen der Kübel in den großen Waschbecken.  
Auch der Kuhstall hatte mal einen neuen Anstrich nötig. An diesen Arbeitstag erinnere ich mich noch sehr intensiv wegen des Geruchs und der Dunkelheit. Somit war die Ernte draußen immer noch das beste.
Das Leben bot nicht viel Aufregendes, schnell relativierte sich die idealistische Geisteshaltung der Anfangstage. Nachmittags lagen die Volontäre in der Sonne und das Anfang März. Das frühe Aufstehen setzte mir jedoch arg zu und die Küche brachte nicht unbedingt zu Kräften.
Das vertraute Graubrot half etwas, aber ansonsten überwog das Abgebot an frischer Kost: Quark, Milch und Salate, Obst. Alles natürlich aus eigenem Anbau bzw. eigener Erzeugung. Wurst im vertrauten Sinne fand ich nicht, wenn es Fleisch gab, war es blutleer und fade. Zu den Spezialitäten der Küche, z.b. Fischköpfen fehlte mir der Zugang. 
Zu den Highlights gehörte noch die Zapfstelle für Mineralwasser. 
Es gab zwar Taschengeld, aber das war nicht zu reichlich bemessen, schließlich mussten das abendliche Bier und die Zigaretten bezahlt werden. Es gab eine kleiner Bar, in der wir uns trafen und schon bald wurde ich dort persönlich angesprochen: „Jetzt kommt das Leben.“ Aber immerhin bekam ich Komplimente für mein Englisch: „They teach you a proper English“.
Wir blieben unter uns und hatten auch nicht den Überblick über das, was
tatsächlich alles im Kibbutz hergestellt wurde. 
Denn nicht in jedem Bereich durften Volontäre arbeiten. Es ist passiert, dass Frauen z.b. drei Wochen „Dish wash“ machen mussten, ohne das diesbezügliche Beschwerden Erfolg hatten.  
Das Kibbutz war nachts bewacht und so fühlte ich mich wie in einem Lager in einem Lager. Eine Bedrohung durch eine fremde Umwelt lag immer in der Luft. Im Grunde lebten die Kibbutzniks an der Frontier. Wir erlebten nie kriegerische Handlungen, insgesamt schien diese Gegend jetzt ruhig (zwischen Afula und Bet She‘an).
Israel war groß geworden die Grenzen verschoben und wohl niemand dachte an die Rückgabe von erobertem Land. Wenn es eine politische Stimmung gab, so war die nach deutschen Maßstäben gemessen, ungefähr sozialdemokratisch. 
Es gab jemanden, der zuständig war für die Belange der Volontäre und das war im Großen und Ganzen der einzige Ansprechpartner. 
Ab und zu sah ich mich nachmittags in der Gegend um, kam bis zum Kibbutz Nir David und fand diesen natürlich viel schöner als Tel-Josef. Die Wochenenden bestanden ja nur aus einem Tag, der am Freitagabend mit dem Shabat-Essen begann. 
Am Samstag irgendwo hinzufahren war recht witzlos, die Busse verkehrten nicht so wie an den Werktagen und in den Orten gab es dann kein Leben. 
Manche Volontäre machten trotzdem Ausflüge, hatten aber Mühe, am Samstagabend wieder im Camp zurück zu sein. 
Es war mir insgesamt zu anstrengend. Meine Flamme hatte keinen so überragenden Eindruck im Kibbutz hinterlassen. Es erinnerte sich kaum einer an sie. Hier kam ich also auch nicht weiter. 
Es blieb bei kleinen nachmittäglichen Ausflügen in die nähere Umgebung: Afula und Bet She’an, wo es ein römisches Amphitheater zu sehen gab.    
Die rein israelischen Städte sagten mir nicht besonders zu. Es fehlte die Historie, alles hatte den gleichen, provisorisch wirkenden Stil. Weisse Flachdachzweckbauten ohne sonderlich gepflegte Umgebung, Tel Aviv hatte schon ähnlich gewirkt, nur größer, aber eben ohne die Vorzüge westlicher Großstädte. 
In Afula gab es an der Bushaltestelle einen Imbiss, wo ich zum ersten Mal Falafel probierte, das kulinarische Highlight meines Israelurlaubs. 
Die Tage verstrichen und ich bezweifelte, die volle Zeit hier hinter mich zu bringen. Das Fasching auch im Kibbutz gefeiert wurde, war eine neue Erfahrung. Die Kibbutzniks „adoptierten“ die Volontäre und statteten diese mit „Kostümen“ aus. Die besten Kostüme wurden dann prämiert. Ich betrieb insgesamt auch hier einen minimalistischen Aufwand. Mit Hut und Jacke und als klassischer Cowboy tat ich das, was ich am besten konnte: abhängen. Sehr zum Leidweisen eines amerikanischen Mädels aus L.A., die fand das alles viel lustiger als ich. 
Sie biss sich ebenso die Zähne aus wie das nette Schweizer Mädel, als wir nachmittags mal Richtung Nir David unterwegs waren. Wir wanderten und verliefen uns, aber schafften es doch zum Glück wieder zurück nach Tel-Josef.
Als sie dann abends in meine Hütte stolperte und Feuer für die Zigarette brauchte, gab ich ihr welches und das war’s..
Irgendwie stand mir der Sinn nach besserer Organisation, die Anlage von Nir David imponierte mir ebenso wie Hefzi Bah mit seinem japanischen Garten. Es war vielleicht doch ein Fehler, nach Tel-Josef gegangen zu sein, mir fehlte die Unvoreingenommenheit.
Ich musste also zur Kibbutzverwaltung und holte mir am 24. März meine Bestätigung über den Aufenthalt in Tel-Josef ab. 
Ich fuhr nach Nir David, nahm Abschied von allen Bekannten und bemühte mich dort um Aufnahme. 
Das war auch kein Problem, es gab zwar ein paar Fragen wegen des Wechsels, aber die Frau von der dortigen Verwaltung akzeptierte meine Gründe. 
Ich wurde dem Zimmer eines jungen Franzosen zugeteilt. Der Tag der Ankunft im Kibbutz ist ja arbeitsfrei, so hatte ich den Nachmittag Zeit, alles zu erkunden. 
Alles war besser als in Tel-Josef, so wohnten die Volontäre in Steinhäusern, aber auch straffer organisiert. So gab es Dienstpläne für die Volontäre und die Teilnahme an verschiedenen Veranstaltungen mit den Kibbutzniks war für die Volontäre Pflicht.
Schön und gut, das hörte sich eher nach mehr Aufwand an, war ich vom Regen in die Traufe gekommen? Die Stimmung schein hier eher sozialistisch zu sein.         
Ich ging zurück auf das neue Zimmer. Hier säuselte mich mein französischer Zimmernachbar an und äußerte unverhohlen seine Bewunderung für mich. 
Ich musste zurück, vermisste sofort die alten Holzhäuschen im Volonteers Camp von Tel-Josef und alle vertrauten Gesichter dort. 
So erklärte ich es auch der Frau von der Kibbutzverwaltung: ich habe Freunde dort. Sie verstand, es war kein Problem.
Nun fuhr ich also am gleichen Tag zurück nach Tel-Josef, wo meine Rückkehr  
großes Erstaunen weckte. Volontärinnen standen auf gepackten Koffern und wollten auch weg, konnten nicht mehr zurück. 
Mir war es egal, den Fehler musste ich so schnell wie möglich gut machen.   
Dieses Mal erwischte ich ein Häuschen auf der anderen Seite des Platzes, näher zur Toilette, das sollte sich bald als gut erweisen. Denn schon am Abend kam jemand in der Bar auf die Idee, israelischen Rotwein zu trinken. Ich schmecke noch heute das Fruchtfleisch auf meiner Zunge. Am nächsten Tag bekam ich Durchfall und musste mich krank melden. Im Medical Center bekam ich Kohletabletten, aber ich konnte keine Nahrung mehr bei mir behalten. Obwohl ich schon so gut wie nichts mehr zu mir nahm, musste ich jede Nacht mehrfach die Örtlichkeiten aufsuchen und Wasser von mir geben. Jede Kleinigkeit von Essen löste sofort Geräusche im Bauch aus, die mich fast unverzüglich zur Toilette zwangen. Nicht immer schaffte ich das in der Nacht. Zu allem Überfluss regnete es jetzt öfter. Der Boden weichte auf und die Holzhäuser boten keinen Schutz gegen die feuchte Luft. Da ich nicht mehr arbeiten konnte, quälte mich die Zeit und die Einsamkeit tagsüber. Ich wusste, ich würde es nicht mehr lange aushalten. Es galt zu warten, bis der Durchfall nachließ, also möglichst nicht mehr essen, und dann die letzte Kraft zu sammeln, um nach hause zu entkommen. Ich hatte Angst, nun aber richtig. Am 28. März war es soweit, ich teilte der Verwaltung meine Abreise mit, eine neue Bescheinigung brauchte ich ja nicht. Es könnte höchstens passieren, dass ich am Flughafen nach den Gründen für meine Abreise vor Monatsfrist gefragt werden würde. 
Ich nahm den Bus nach Afula, von dort aus weiter nach Tel Aviv-Yaffo (Ben- Gurion-Flughafen). Mein Flug nach Frankfurt ging erst am nächsten Vormittag.
Also verbrachte ich die Nacht auf den Gepäckförderbändern liegend, schlafend so gut es ging. Die Toilette brauchte ich nicht mehr und nach Tel-Aviv hatte ich keine Sehnsucht. Tatsächlich kam die Frage nach dem „Warum?“, die ich aber überzeugend beantworten konnte. So verließ ich das biblische Land am 29.März 1981.
Im El-AL-Jumbo saß ich neben zwei amerikanischen Damen, die zunächst nach Israel gereist waren und sich nun auf ihre Europarundreise freuten. Sie fanden mich wohl recht nett, aber davon hatte ich nicht viel, da ich meisten Teils wieder döste. Über Grenzschutzbeamte mit Maschinenpistolen in der Hand habe ich mich wohl nie wieder so gefreut, wie beim Ausrollen des Jumbos in Frankfurt. 
Die Amerikanerinnen fanden natürlich auch die sehr nett. 
Mein Gewicht war beim Rückflug etwa um 12 Kilo geschwunden und es dauerte Jahre, bis ich wieder den Stand von vor der Reise erreichen würde. Ein Jahr später hatte ich gerade erst 4 Kilo aufgeholt. 
Meine Flamme schlief nicht mehr in meiner Wohnung, hatte nur noch ihre Möbel dort. Sie kehrte ebenfalls nach Tel-Josef noch im gleichen Jahr zurück. Nach drei Wochen „Dishwash“ verließ sie den Kibbutz und ging nach Hefzi-Bah. Es trieb auch sie immer wieder nach Tel-Josef, obwohl die Arbeit im anderen Kibbutz „besser“ war. Sie traf dort einige Volontäre, die mich kannten und schrieb mir unter anderem: 
„Jane und Debbie verstehen nicht, dass Du nicht zu Ihnen geschrieben hast.“
Die Verdrängung der Kibbutz-Erlebnisse und mein gesundheitlicher Zustand mögen mich daran gehindert haben. Außerdem zählte ich im Kaufhaus M. Schneider die Besucher des Restaurants und las aufmerksam Anzeigen aller Art  in der Frankfurter Rundschau. 

Dienstag, 20. November 2012

Gold - XVII

Wir merken, dass Vater allmählich verwahrlost, die Fingernägel sind zu lang, die Haare wachsen. Wir hinterlassen Geld für die Maniküre. Von seinem Zimmer kann man auf den Balkon gehen. Dort stehen Leute, ich gehe mal hinaus, sehe in der Ferne den eingerüsteten Herkules, wie er ohne Kopf da steht. Vater meint, als ich hinaus gehe, dass er nicht senkrecht nach unten sehen kann, da würde ihm schwindlig. Solche Bekenntnisse überraschen mich, die Sonne scheint nun etwas ins Zimmer.
Immer wieder ermuntere ich ihn, zu essen und mit zu arbeiten Aber er spricht von einer klaren Linie.
Die Kontrolle seiner verbliebenen Sachen wird nun obligatorisch. Es ist aus Bad Wildungen nicht alles mitgekommen. Das Problem ist, Vater kennt die von uns zugekauften Sachen gar nicht. Er könnte also das Einpacken nicht selbst kontrollieren.
Wir wundern uns, dass Vater nicht mal im Rollstuhl sitzen will. Überall im Krankenhaus gibt es doch Leute, die mit Urinbeuteln oder Infusionsflaschen im Gestell sogar gehen.
Eine Krankenschwester fragt uns, ob wir Vater Haftcreme für seine Zähne besorgen können.
Ja, die bekommt er dann aber erst in zwei Wochen.
Wir verlassen das Krankenhaus dennoch etwas erleichtert.
Das einzige Kontaktersinnen der Krankenhäuser besteht in der Regel in der Nachfrage nach Genehmigungen für ärztliche Untersuchungen. So kommt denn auch in der Folgewoche per Fax das Formular für die Genehmigung der CT. Ich frage wieder eine Woche später nach dem Ergebnis. Schließlich macht mir der Gedanke an einen Tumor Sorge.
Es ist immer schwierig, die Ärztin zu erreichen. Meist lande ich zunächst bei einer Schwester.
So erfahre ich beiläufig, dass Vater eine Lungenentzündung hatte, die kuriert werden muß und das er zeitweise über eine Magensonde künstlich ernährt wird. Für Frau Dr. H. ist der Fall klar, ein Hirntumor konnte nicht erkannt werden. Er wird nun weiter behandelt und soll dann erneut in eine Reha-Maßnahme gehen. 
Die Haftcreme für die Zähne habe ich gleich vor der Rückfahrt am Bahnhof gekauft. Aber vor dem nächsten Besuch habe ich sie verlegt und somit nicht dabei. Vater liegt noch im gleichen Zimmer, aber nicht mehr am Fenster, sondern links neben der Tür. Am Fenster liegt jetzt ein unangenehmer jüngerer Kauz, der zum Glück bald das Zimmer verläßt. Die Zweibettzimmer sind länglich geschnitten und haben einen Zugang zum Balkon. Das Gitter am Bett ist wie meistens hoch geklappt. Vater begrüßt mich meistens mit einem Stoßseufzer: „Ach, ach’, ach’“, gefolgt von meinem Namen. Auch die Bemerkung: „Endlich ein Mensch!“ kommt schon mal über seine Lippen. Heute trägt er ein Nachthemd. Wie ich sofort sehe, hat er einen Katheder und bekommt Infusionen. Schwestern reden von einer Braunüle, die Vater sich oft heraus reißt, ohne das ich weiß, wovon die Rede ist.
Wir waren zuvor wieder in seiner Wohnung, ich habe mich getraut, den schwarzen Koffer zu öffnen. Siehe da, Vater hatte komplett für einen Krankenhausaufenthalt gepackt. Was verwertbar ist, insbesondere seinen eigenen Waschzeugbeutel, das nehmen wir mit. Die Wäsche ist jedoch in keinem guten Zustand, wir sehen viele Wäschestücke die unterschiedliche Färbungen haben, offensichtlich hatte Vater mit der Hand gewaschen. Eine Waschmaschine steht nicht in der Wohnung. Gelegentlich hatte ich mit der Nachbarin telefoniert und sie informiert, wo mein Vater liegt. Aber im Krankenhaus werden wir die einzigen Besucher bleiben.  

Montag, 19. November 2012

Gold - XXVI

Es war erneut an Rachel, sich über diese Schreiberei zu ärgern. Was er über Israel und seine Zeit dort berichtet hatte, war ihr zu romantisiert. Das entsprach nicht dem Typen, den sie kannte.Wieso schreibt er immer über seine Befindlichkeiten und sieht nicht, was er den Leuten angetan hatte. Diese Gleichgültigkeit, mit der er alles ab tat. So oft hatte sie gedacht, dass kann er nicht machen und dann machte er es doch.  

Paul dagegen lächelte in sich hinein. Klar gab es da einen Bericht, den er aus Tagebuchaufzeichnungen zeitnah zusammen gestellt hatte Aber wen interessierte der schon, andererseits er wusste, wenn er die Wahrheit nicht ans Licht brächte, sie würde nicht ruhen  und die Spekulation sich verselbstständigen.  

Während er seine deutlich sichtbaren Rippen betrachtete, dachte er vielleicht nicht an Fertiggerichte, aber darüber nach, wie er, ohne mühsam in Kneipen herum zu stehen, an eine Frau kommen könnte.
Eine Kontaktaufnahme ohne großes Drumherum-Gerede, ohne das übliche Balzgehabe und die vertane Zeit.
Zeit, die wie im Kreis herum läuft, so wie eine V60 auf den Gleisen. 
Diese kleine Diesellok, die nur rangiert und Güter für andere schleppt. Die nicht wirklich auf große Tour geht und deren Lauf durch Schienen begrenzt ist. Sie sorgt dafür, dass die Waggons an die richtige Stelle kommen und mit der richtigen Lok fahren. Eine Lok ist eben für den Waggon sozusagen der passende Partner.

Passende Berichte dagegen konnte er sich sparen, da hilft nur die Wahrheit.
  

Samstag, 17. November 2012

Gold - XXV


Es fällt mir nicht schwer, die vorzeitige Heimreise zu organisieren, obwohl wir kein Geld zurück bekommen. 
Einen Tag später kaufen wir für Vater eine Tasche, so daß seine Sachen endlich einen Platz finden, nehmen noch eine Waschzeugtasche mit und beschließen nun, einen Tagesbesuch in Kassel zu machen. Als wir das Krankenzimmer betreten wollen, sehe ich, wie Vater von einer Schwester geführt, die Toilette verläßt. Er trägt einen Schlafanzug. Es ist schmal geworden und geht langsam zu seinem Bett, als er sich setzt, sieht er uns. Er bricht in Tränen aus, „weil ich mich so freue!“. Nachdem er sich beruhigt hat, berichtet er voller Entrüstung, aber fast entschuldigend, dass er auch auf mich geschimpft hat. Kein Besuch zu Weihnachten, keiner zu Silvester..
Da hilft es kaum, dass ich ihm von dem Päckchen berichte. Die Weihnachtskarte ist nicht da.
Das kleine Radio kann er gar nicht bedienen, es funktioniert auch nicht. Mir ist es sehr peinlich. Vater liegt nun allein in dem Zweibettzimmer, hat einen Platz am Fenster. Wir waren zuvor noch in seiner Wohnung und haben die große Pflanze im Wohnzimmer gegossen. Die Nachbarin hat keine Post für ihn entgegen genommen, es liegt noch alles im Briefkasten. Unter anderem hat er Post von der Klinik in Bad Wildungen. Sie informieren ihn über ein neues Behandlungskonzept.
Wir fragen nach der behandelnden Ärztin und sie gibt uns wegen dem Tumorverdacht Auskunft. Der Blutungsrest läßt eine klare Diagnose nicht zu. Erst wenn sich dieser zurück bildet, kann man etwas sehen. Daher soll erneut eine CT vom Schädel gemacht werden. Ich werde gebeten, die Genehmigung erforderlichenfalls per Fax zu geben. Einstweilen wird er medikamentös sowohl wegen der Blutung als auch gegen einen Hirntumor behandelt.
Vater will nicht viel wissen, von dem was ich in Erfahrung brachte. Er bemerkt nur, dass ich hätte Arzt werden können, halbwegs an meine Frau gewandt.
Ich sage Vater, dass ich nun sein Betreuer bin. Darauf lacht er und meint, ich solle aufpassen. Der Gedanke an seine Wohnung beschäftigt ihn noch immer. Ich soll ihm seine Lederjacke und eine gute Hose beim nächsten Mal mit bringen. Er müßte nur mal ein paar Tage zu hause vernünftig essen, dann könne er mit dem Fahrrad wieder weg fahren. Ich zeige ihm seinen Schlüssel, nachdem er mich fragt. Er läßt die einzelnen Schlüssel bedächtig durch seine Finger gleiten und ich halte den Atem an. Schließlich gibt er ihn mir doch zurück.

Freitag, 16. November 2012

Gold - XXIV

Er fragte sich, ob er den Flughafen erreichen würde und bekam wirkliche Angst, es nicht zu schaffen. Da er weniger als vier Wochen im Kibbuzz geblieben war, musste er sich seine vorzeitige Abreise in der Verwaltung betätigen lassen, um in Tel-Aviv überhaupt ein Ticket für den Heimflug zu bekommen, der mit El-Al erfolgen musste.Sobald alles geregelt war, verließ er den Kibbuzz, zu Fuß zur Bushaltestelle und dann mit dem Bus weiter nach Afula, der nächsten Stadt. Dort weiter mit dem Bus nach Tel-Aviv, viel Taschengeld hatte er zuletzt nicht gebraucht und so leistete er sich ein Taxi zum Flughafen. Nach Erledigung der Formalitäten verbrachte er die Nacht auf dem Gepäckband, da der Abflug nach Frankfurt erst am nächsten Morgen möglich war. 
So verließ er das Land der Kibbuzzniks und Indianer. Indianer, das waren die einheimischen Araber aus der Sicht der Kibbuzzniks. Mit dem Ein- und Ausreisestempel im Pass war für ihn das Reich der Rohkost nun passé. Die Illusionen über das Kibbuzzleben mussten zurück bleiben, vom normalen israelischen Leben hatte er nichts gesehen, außer Afula, Bet She'an und Tel Aviv nichts besichtigt.
Er fand sich neben zwei amerikanischen Damen auf der Reise nach Europa wieder. Sie hatten die wunderbare Eigenschaft, alles toll zu finden inklusive der Bundesgrenzschützer, die mit Maschinenpistolen den Jumbo der El Al beim Ausrollen in Frankfurt sicherten.
Er war aus der Wildnis zurück in seiner Zweizimmerwohnung, in der die Möbel der Ex-Freundin noch immer standen. Um etliche Kilos leichter und um Erfahrung schwerer, die Reise ganz gut überstanden, es sollte länger dauern, bis er wieder vollständig gesund war. 
Er wusste nun, dass er die früher so geliebten Kneipenabende auf Dauer nicht mehr durchstehen würde. Das Gefühl der eigenen Verletzlichkeit und Empfindlichkeit hinsichtlich der Nahrungsaufnahme machte sich breit.
Die unbestimmte Sehnsucht, Frauen anzugraben, die für ihn völlig unpassend waren, wich einer klaren Absicht sich an eine verlässliche Person zu binden.
Noch allerdings war er Student der Anglistik und klammerte sich an die Philosophie. Noch schwebte der Plan, in England zu studieren in seinem Kopf herum.
Einstweilen beschränkte er sich darauf, nur gut gekochte und industriell produzierte Nahrung zu sich zu nehmen.
  

Dienstag, 13. November 2012

Gold - XXIII

Das Problem mit Bestellungen seitens der Krankenschwestern ist, dass die eine nicht weiß, was die andere bestellt hat. Und das, was bestellt wird, kann ich aufgrund der räumlichen Entfernung erst in zwei Wochen liefern. Aber in Urlaub muss ich nun. Die Hotelwirtschaft ist eisenhart, auch bei einer früheren Abreise gibt es kein Geld zurück. Und die Reiserücktrittkostenversicherung deckt das nicht. Davon abgesehen, rät mir ein jeder, doch in Urlaub zu fahren. 
Nicht gerade eine Entscheidungshilfe sind meine Gespräche mit Dr. Santana, dem behandelnden Art in Bad Wildungen. Zum einen soll ich unterschreiben, dass mein Vater sich erneut einer Schädeltomographie unterziehen muss. Zum anderen informiert er mich noch vor Weihnachten darüber, dass mein Vater aus dem Zimmer genommen wurde, weil er den anderen Patienten zu sehr gestört hat, zum anderen fordert er mich auf, zu sagen, was ich in einer lebensbedrohlichen Situation tun würde. Wegen des Verdachts auf einen Hirntumor habe er wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben. Der Schädeldruck sei angestiegen, was ein Indiz sei. Auf Nachfrage erwidert Dr. Santana, wir reden über Monate. Wahrscheinlich würde es Vater sehr oft schlecht gehen und er müsse im Ernstfall künstlich beatmet werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Vater das will.
Ich finde die Diskussion über ihn am Telefon widerlich. Meine Vorstellung, noch einige Zeit mit Vater gewonnen zu haben, zerrinnt mir.
Ich habe einen Umschlag mit dem Namen meines Vaters angelegt und die Kaufbelege für seine Sachen da hinein getan. Dr. Santana ist, wie ich finde, wirklich ein passender Name für einen Arzt in einem nordhessischen Kurort. Der Name beruhigt und macht mich gleichzeitig misstrauisch. Dr. Santana ist an den Feiertagen nicht in Dienst. Ein Oberarzt ruft mich an. Wir sind im Urlaub und haben den Heiligabend Weihnachtslieder brummelnd im Kreise der Hotelgäste überstanden. Mein Handy ist aber immer an. Vater sei nicht mehr zu halten, er dränge sehr auf seine Wohnung. Ich versuche mir vorzustellen, wie der schwache, nörgelige Mann gehalten werden muß. Ich solle zu einem persönlichen Gespräch nach Bad Wildungen kommen. Als ich sage, dass ich in Urlaub bin, erwidert er, dass er das nicht weiß. Wir hatten es in der Klinik und auch Dr. Santana gesagt. Prinzipiell warte ich auf ein persönliches Gespräch mit seinen Ärzten schon lange, ich sichere ihm also zu, am nächsten Tag anzurufen. Der Herr Oberarzt möchte meinen Vater in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen, da er so nicht therapierbar ist. Am nächsten Morgen spreche ich mit der Chefärztin, die mir einen weiteren schönen Urlaub wünscht und meint, ich hätte da was falsch verstanden. Mein Vater solle nach Kassel überwiesen werden, weil man dort die Untersuchung bzw. weitere Behandlung in Sachen Hirntumor machen wolle. Am 28.12. solle die Verlegung erfolgen. Ich bin einstweilen froh und wir lassen uns im Speisezimmer unserer Pension noch ein bisschen von einem jecken sturen Rheinländer im Trachtenlook anglotzen. Die Verhaltensweisen der Menschen ändern sich ja nicht, nur weil es einem selbst nicht gut geht. Der Mann ist ungefähr so alt wie mein Vater. Um wie viel weniger unverschämt ist mein Vater, denke ich bei mir. Der hat nie Ansprüche ans Leben gestellt, war eher mit zu wenig zufrieden.

Montag, 12. November 2012

Gold - XXII

Er erzählte zwei englischen Volontärinnen von seiner verflossenen Beziehung und sie kannten seine Ex-Freundin.. Er aber wurde schließlich krank, Durchfall, einer schlimmer als der andere. Die Tabletten aus dem Krankenbereich halfen nicht. Nachts schaffte er es kaum zur Toilette, erledigte seine Geschäfte neben der Holzhütte. Zum Glück standen die Häuser auf Stelzen. Das Land der jüdischen Siedler war oftmals vormals Sumpfgebiet. Die Siedler hatten es trocken gelegt und urbar gemacht. Das Kibbuzz Tel Yosef existierte bereits seit den Zwanziger Jahren, also lange vor der Gründung des Staates Israel.
Er hatte israelischen Rotwein getrunken, das nahm er als Auslöser. Vorausgegangen war eine versuchte Umsiedlung in ein anderes Kibbuzz namens Nir David. Die Anlage war vergleichsweise schön, die Ausrichtung des Kibbuzz sozialistisch geprägt. Die Volontäre schliefen in Steinbaracken, aber die zugewiesene Schlafstätte musste er in Anwesenheit eines französischen Volontärs in Augenschein nehmen, der offensichtlich gleichgeschlechtliche Interessen hatte. Es machte die Sache nicht besser, die Atmosphäre erschien ihm als streng und wesentlich weniger locker, als er das von Tel Yosef gewohnt war.
So empfand er plötzlich Heimweh nach diesem so gar nicht perfekten Kibbuzz. Er sprach erneut bei der Verwaltung des Kibbuzz vor und erklärte, dass er seine Freunde in Tel Yosef vermisse. Etwas mitleidig ließ man ihn ziehen.
In Tel Yosef hatte er in der der Küche gearbeitet, dort die großen Kübel gespült. Er trug bei der Arbeit Knobelbecher und konnte den Blick nicht vergessen, den ihm eine ältere Frau zu warf, als er hinter ihrem Rücken den Raum betrat. Das Geräusch der Stiefel hatte sie erschreckt. Aber er war kein SS- oder SA-Mann, nur ein junger und dazu langhaariger deutscher Volontär mit einer Nickelbrille im Gesicht. Einer, dem man ein "proper englisch" attestierte oder den man mit den Worten "Jetzt kommt das Leben." ein bisschen aufzog. Und Einer, der sich nach dem Genuss von frischen Milchprodukten und besagtem Wein nicht mehr ein kriegte.
Er machte sich Gedanken um seine vorzeitige Abreise. Hier war nichts mehr, was ihn hielt, der Mythos seiner  Ex schien mit der Krankheit zu zerplatzen. Dieses Mal dachte er wirklich an zu hause, an Deutschland.

Mittwoch, 7. November 2012

Gold - XXI

Rachel klappte das Buch zu. Es war ihr in letzter Zeit nicht gut gegangen und sie hätte einen Freund gebraucht. Stattdessen erlebte sie nur, wie er sich "indifferent" fühlte. Das obwohl sie ihm versichert hatte, er könne gar nichts falsch machen, sie würde ihm sowieso verzeihen. Sein Herz, so hatte er sie mal genannt.
Aber sie hatte ihre kleine Existenz mit Mann und Haus und das wollte sie doch nicht verlieren. Das wenigstens könnte er verstehen.
Dieses Schreiben über Züge, die mal Fahren und mal nicht und was die Leute so alles in ihnen machen, was sollte das denn?
Sie träumte und manch mal davon, mit ihm Hand in Hand durch einen geliebten Ort zu gehen. So real, dass sie glaubte, er sei da.
Aber sie schrieb nur, schaute den Mond an und fragte sich, was er wohl gerade machte.
Von all dem bekam ihr Schatz nichts mit.