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Montag, 19. Oktober 2020

Der Ullrich kommt

Der Ullrich kommt hieß es früher zuhause. Da kam ein alter Mann mit Baskenmütze und abgetragenem braunen Mantel. Er brachte eine Butterbrotstüte gefüllt mit Keksen mit und mir in der Regel viel Arbeit. Zwei Jahre mußte ich nachmittags sofort nach dem Essen meine Schulaufgaben machen, unter seiner Aufsicht und mit Nachhilfe, wenn ich nicht alles verstanden hatte. Nach zwei Jahren war ich aus dem gröbsten raus. Die Kurzschuljahre komprimierten den Stoff und da ich eher die Tendenz hatte, in der Schule nichts zu lernen und das später zuhause nachzuholen, weiß ich nicht, ob ich es ohne Ullrich geschafft hätte. Bei Ullrich mußte alles gleich klappen, sonst wurde er nervös. Er zitterte und heulte auch schon mal. Also strengte ich mich an. Ich war ja schließlich sein Jüngelchen. Ullrich hatte sich seit meiner Geburt in den Kopf gesetzt, mich zu unterstützen. Das wurde zwar gern angenommen, aber nicht unbedingt von meinen Eltern gern gesehen. 

Ullrich hieß eigentlich Rudolph Ullrich und war 1899 irgendwo bei Eisenach in Thüringen geboren. Er kam aus ärmlichen Verhältnissen. Erwerbsquelle war wohl die Stoffherstellung, es gab Jutespinnereien. Er war zu eigentlich zu jung für den 1. Weltkrieg. Aber weil das Vaterland rief, wurde ihm das Abitur früher geschenkt und er durfte einrücken. Er kämpfte an der Westfront und bekam Tapferkeitsauszeichnungen. Irgendwann war dann der Krieg zu Ende, ohne das es an der Front jemand richtig gemerkt hätte. Aus dieser Zeit stammen wohl seine Aussprüche von einem Kriegskameraden: "Henner, ducke Dich, es kimmet 'ne Granate" (Heinrich, ducke Dich, es kommt eine Granate) und "Vom Arsch die Brie", was eine Verunstaltung des französischen "Frommage de Brie" sein sollte. Mehr Französischkenntnisse brauchte er als Landser wohl nicht. Der Hunger muß das Wesentliche seiner jungen Jahre gewesen sein. Es gab nichts zu essen, dafür die Inflation nach dem Krieg und neben den Tapferkeitsauszeichnungen hatte er Papiergeld aus jener Zeit in einer alten Schachtel gesammelt. Ullrich war ein Selfmademan. Er arbeitete sich hoch und war es gewohnt, mit dem Rechenschieber umzugehen. Er hatte eine Schwester und später eine Nichte. Er verließ Kassel aus beruflichen Gründen und verbrachte eine Zeit in Neuß am Rhein und später in Amerika. Darüber erzählte er nicht viel. Von Beruf war er nun Textilingenieur. Ob es je eine Frau in seinem Leben gab, wußten wir nicht. Es ist zu vermuten, denn er war ein wütender Gegner der Nazis, später Sozialdemokrat. Gleichwohl war er kein Widerstandskämpfer. Auch in den zweiten Weltkrieg wurde er später noch eingezogen. Aus der Zeit hatte er später noch hellbraune Notizzettel mit einem Soldatenkopf, die er wohl bis zu seinem Tode benutzte. Er sagte mir immer: lerne alles, was Du lernen mußt, vor 40. Danach fällt das Lernen schwer. Den Spruch "safety first" benutzte er häufig.

Safety ließ er bei seinen Bekannten allerdings oft außer Acht, denn in seinen späten Jahren lieh er oft Geld an Leute, ohne es wieder zubekommen. So unterstützte er einen holländischen Handwerker, der sich selbständig machen wollte. Der verschwand mit seinem Geld. Meinen Vater lernte Ullrich 1954/55 kennen. Zu der Zeit war er  bei der Kurhessischen Milchverwertung in besserer Position angestellt. Er verhalf meinem Vater zu einer Ausbildung als Kesselheizer. Er stopfte finanzielle Löcher unsere jungen Familie immer wieder, mein Vater besuchte ihn oft, selten wohl ohne Geld zu bekommen. Ullrich wohnte in einem Haus in absoluter Waldrandlage mit Straßenbahnanschluß in die Stadt. Noch heute erinnere ich mich gern an die schöne Umgebung und den Gesang der Vögel. Anfangs wohnte Ullrich mit seinem Vater dort, der dann verstarb und in Wahlershausen bei Kassel zusammen mit der bereits verstorbenen Mutter beerdigt wurde. Mit gegenüber war Ullrich wie ein Vater in geistiger Hinsicht, das ganze Gegenteil meiner Eltern. Extrem genußfeindlich, sparsam und ehrgeizig. Er suchte nach einer privaten Absicherung für sein Alter und kaufte ein Haus ein weiteres Haus für sich, in das wir alle einziehen sollten. Das hielt aber nur für zwei Jahre. Dann gab es von meiner Mutter mit geschürte Streitigkeiten zwischen meinem Vater und Ullrich. Wir zogen in eine 3-Zimmer-Neubau-Wohung vor den Toren der Stadt um, in der meine Eltern heute noch leben. Ich fühlte mich da nie heimisch. Verstanden hat den Umzug von unseren Eltern niemand. Mir, aber insbesondere meinem jüngeren Bruder, hat er schwer geschadet. Ullrich verkaufte das Haus für nicht viel Geld. Er legte Wert darauf, daß ich Englisch lerne und finanzierte mir aufwendige Sprachferien zunächst in Feldafing. Dabei reiste ich mit ihm allein durch Bayern, er quartierte sich in einem Frühstückszimmer ein. Wir fuhren zum Kochel- und Walchensee und besichtigten Schloß Linderhof. Das erste Mal sah ich etwas anderes als die unmittelbare Umgebung von Kassel. 1970 flog ich sogar nach England zu einem Sprachaufenthalt bei einer englischen Familie, desgleichen 1972 mit dem Zug. Auf die Neidgefühle meines Bruders wurde da wenig Rücksicht genommen. Meine schulische Bildung stand schließlich unserem Familienleben entgegen. Es war der Beginn der Entfremdung. Mit wem sollte ich über meine Eindrücke sprechen ? Mit Ullrich am ehesten, er war wie ich kein Bildungsbürger und hatte eher ein praktisches Denken an sich. Er beschäftigte sich mit der Technik und glaubte an den Fortschritt durch Prozessoren. Er war ratend zur Stelle, was meine weitere Schulbildung nach der Mittleren Reife anging. Er befürwortete die Fachoberschule für Wirtschaft, während ich mich relativ eigenständig für das Wirtschaftsgymnasium entschied. Wir unterhielten uns über aktuelle politische Themen, während er mal wieder mit einem Löffel die letzten Kekskrümel aus der Butterbrotstüte aß. In den Siebzigern wendete sich das Blatt immer mehr zu seinen Ungunsten. Die Schwester starb, der Schwager später. Ullrich quartierte sich in einem Wohnheim mit ärztlicher Betreuung ein. In seinem 1-Zimmer-Appartment sahen wir uns regelmäßig. Ullrich nähte sogar Hosen. Ich verlangte nie Geld, brauchte aber welches. Ein zweiter schwerer Herzinfarkt brachte ihn ins Krankenhaus, wo ich ihn besuchte.  Später wurde ihm Leukämie diagnostiziert. Ein Standardsatz von ihm war, "wenn ich dann noch lebe". Er beschäftigte sich oft mit seinem Ableben und er hatte Angst. Manchmal konnte er den ganzen Tag mit niemanden reden. Eine Frau Köhler kam und umsorgte ihn ein bißchen. Ullrich hatte viele alte Goethe- und Schillerbände vom Ende des 19. Jahrhunderts, überhaupt viele alte Bücher. Die sollte ich später bekommen. Doch daraus wurde nichts. Nachdem ich den Wehrdienst hinter mir hatte und das erste Geld verdiente, gab es zuhause Spannungen. Mein Vater verlangte von mir, daß ich mein ganzes Geld abgeben sollte und wollte mir ein Taschengeld zu teilen. Ich war müde von seinen  Schikanen während meiner Bundeswehrzeit. Ich wollte weg, und wieder war es Ullrich der das ermöglichte, wir fuhren zu ihm und fragten, ob er mich während meiner Lehrzeit unterstützen würde, in finanzieller Hinsicht so, das ich ein eigenes möbliertes Zimmer würde mieten können. Er tat das und regelte das testamentarisch. So zog ich mit einem festen monatlichen Zuschuß von zuhause aus. Das Ende meiner Lehrzeit und den erfolgreichen Abschluß meiner Buchhändlerlehre erlebte Ullrich nicht mehr. Er unterstützte noch finanziell meinen Besuch der Buchhändlerschule in Frankfurt, ein Jahr bevor ich selbst aus beruflichen Gründen Kassel in diese Richtung verließ. Ich pendelte zwischen meiner möblierten Eigenständigkeit und meinem Elternhaus, wo ich sonntags das Essen aus meinem Zuschuß von Ullrich bezahlen mußte, den Studentenkneipen und Ullrichs Appartment hin und her. Die Besuche bei ihm fielen mir nicht immer leicht, erlebte ich doch sowas wie das erste Aufblühen eines lockereren Daseins. Seine verknöchert wirkende Art, das Leben zu beurteilen, machte es nicht leicht für mich. Manchmal ertappte ich mich dabei, daß ich nur noch wegen irgendwelcher Zuwendungen, die ich nie erforderte, zu ihm fuhr. Manchmal sagte ich auch Besuche ab, einmal sogar schriftlich, um ihm einen neuen Termin mitzuteilen. Als ich an jenem Tag zu ihm kam, war alles anders: die Tür war versiegelt und ich mußte wieder gehen. Ich erfuhr über meine Eltern, daß Ullrich tot war. Tot, gefunden am Grab seiner Mutter, wahrscheinlich hatte er seine lebensnotwendigen Medikamente abgesetzt. Der Verdacht auf  Selbstmord war für den Zustand seiner Tür verantwortlich. Später durften mein Vater, mein Bruder und ich noch in die Wohnung, um irgendwelche Gegenstände, die wir gebrauchen konnten, mitzunehmen. Bei der Trauerfeier anlässlich seiner Verbrennung war ich der einzige Anwesende meiner Familie. Es war für lange Zeit der einzige Anlass dieser Art, an dem ich teilnahm. Seine Verwandtschaft in Gestalt der Familie seiner Nichte war anwesend, aber ich kannte sie nicht. Ullrich hatte immer davon gesprochen, mich mit Jackie, der Tochter bekanntzumachen. Ab und zu kamen sie ja nach Deutschland, aber irgendwie klappte es nie. Ich hörte hinterher nur über Frau Köhler, daß die Äußerung gefallen sei, man hätte den jungen Mann, der soviel von Ullrich profitiert hatte, gern kennengelernt. Geblieben ist mir ein alter Wecker der Fa. Müller aus Neuss am Rhein, eine alte Schreibmaschine mit RM-Taste und ein paar Seiten aus einem uralten Atlas sowie ein altes Reklamheft. Beim Durchstöbern der Wohnung fiel meinem Bruder eine Lampe auf den Kopf, ich nehme an, ohne großen Schaden. Alles andere war schon weg. Meine letzte Karte an ihn lag in der Wohnung. Er mußte sie erhalten haben, stillschweigend steckte ich sie ein. Außer Erinnerung bleibt nichts mehr. Die Postkarte ist weg. Der Anwalt. der früher in seinem Haus in der Hugo-Preuss-Str. als Mieter gewohnt hatte, regelte seinen Nachlass. Bis zum letzten Monat meiner Lehre bekam ich Unterstützung, drei Monate später zog ich weg. Wenn bei meinen Eltern von Ullrich geredet wird, dann nicht gut. Seine Nervosität erregte Spott, seine Unterstützung betrachteten meinen Eltern als selbstverständlich. Er hatte ja genug Geld, so als hätte er es sich nicht verdient. In Frankfurt verlor ich einen Teil meiner geringen persönlichen Habe beim Auszug aus meiner Jungesellenbude in die erste gemeinsame Wohnung mit meiner späteren Frau, unser VW-Bus wurde aufgeknackt, die Diebe haben wohl auch die Postkarte an Ullrich ganz einfach weggeschmissen. Nach vielen Jahren suchte ich das Urnengrab von Ullrich auf dem Kasseler Hauptfriedhof. Dort liegt er wohl garnicht, sondern in Wahlershausen. So verschwindet er mit einer gewissen Spurlosigkeit und wer bin ich ?      

Wenn Rudi diesen Text lesen könnte, würde er vielleicht mit einem Ausdruck des Erstaunens sagen: Du bist ja ein ricbtiger Künstler, oder seufzen: wenn ich noch leben würde. Aber vielleicht stenografiert er seine Korrekturen auch und ich habe so keine Chance, die Korrekturen zu erledigen. Du warst gegen meine Buchhändlerlaufbahn.