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Dienstag, 24. Oktober 2023

Zeitlos

Der 22. Oktober war besonders. An diesem Tag kam es mir in den Sinn, dass ich eigentlich gar nichts über die Lebensdaten meines in Kolberg geborenen Großvaters wusste. Mein Vater als unehelicher Sohn, lebte in keinem guten Verhältnis mit ihm. Vater war Adoptivkind seines leiblichen Vaters.
Oft schon, dass ich bei der Nachfrage beim Verein Kolberger Lande Erfolg hatte? 
Vater erwähnte ja, dass Kurt Dreyer, der Name seines Erzeugers, schon früh verstorben war. 
Und tatsächlich bekam ich dessen Lebensdaten mit den Kopie der Urkunden. Der Todestag war der 22.10.1953, auf den Tag nach 70 Jahren, an dem ich meine Anfrage gestellt hatte. Jahrelang war das nicht für mich von großem Interesse gewesen.
Seit Wochen beschäftigte ich mich mit dem Untergang meiner Heimatstadt Kassel beim großen Luftangriff der Engländer am 22.10.1943, also vor 80 Jahren.  Vater hatte nur wenig darüber erzählt.
Ein Datum an einem gleichen Tag kann Zufall sein, der bei mir nun öfter vorkommt. Meist sind es aber Menschen, die entweder geboren oder gestorben sind in meiner Verwandtschaft oder enge Bekannte.
Zufälliger konnte ich durch Verwendung einer KI-App Künstliche Intelligenz ein Foto meines Großvaters so bearbeiten,
das man sein Gesicht nun deutlich erkennen kann. 

Freitag, 24. März 2023

Überraschung der Vergänglichkeit

 Mein Patenonkel Siegward verstarb 1990 für mich sehr überraschend. Zwar hatten meine Eltern schon lange von seinem schlechten Gesundheitszustand gewusst, mich jedoch nicht so rechtzeitig informiert, dass ich noch irgendwie hätte reagieren können. Monate zuvor hatte er noch zu seinem 70. Geburtstag eingeladen, der groß im besten Hotel der Stadt Kassel gefeiert werden sollte. Wir waren wie üblich in Urlaub und konnten der Einladung nicht folgen. Das sind die Chancen im Leben, die nicht mehr wieder kommen. Siegward war ein bekannter Mann in der Stadt und hatte sicher gute Kontakte, die auch mir ggf. zugute gekommen wären. Durch ein es meiner alten Tagebücher erfuhr ich nun auch die Umstände seiner gesundheitlichen Beschwerden und die waren etwas anders, als das, was ich im Gedächtnis hatte. 

Montag, 4. Juli 2022

"Kunst kommt von Können oder Kennen."

Was ich an Kassel wieder mal so toll finde, das ist der völlige Realitätsverlust, unter dem ein Kreis von einheimischen Leuten leidet, der sich für kulturell bewandert hält. Sie lieben ihren Beuys und wissen auch sonst gut Bescheid darüber, was Kunst ist. Sie sehen nun die Freiheit der Kunst in Gefahr, reden von Zensur, bloß weil ein armseliges Geschmier voller Karikaturen wegen antisemitischer Deutungsmöglichkeiten auf politischen Druck hin entfernt werden musste. Zu Recht haben verantwortliche Leute ihren Hut nehmen müssen, denn sie wussten offensichtlich nicht, was da ausgestellt werden sollte. Und auch die Stadt Kassel hat spät reagiert, auch weil sie es mit der Kunst gar nicht so ernst nimmt. Und es ist ja auch so, Kunst im klassischen Sinn bietet die documenta sowieso nicht. Gern erinnere ich mich an die Schlitten, die Herr Beuys mal zusammen gebunden hatte und als Werk präsentierte. Ich hätte das auch gekonnt, nur heiße ich leider nicht Beuys. Wenn ich Kunst sehen möchte, dann gehe ich ins Städel oder in eine Gemäldegalerie. Insofern ist es wirklich nicht nur wegen des Antisemitismusvorwurfs richtig, dass das im übrigen gar ncht nicht so neue "Kunstwerk" der indonesischen "Künstler" verschwunden ist. Das ganze Geschwurbel darüber ist überflüssig. Andere zu diffamieren, das ist keine Freiheit, zumal der Steuerzahler die Rechnung bezahlt. 




Sonntag, 6. Juni 2021

Vorderer Westen

 Ich war unterwegs, wusste zuerst nicht wo. Dann erkannte ich den Bebelplatz, eine meiner alten Heimaten in Kassel. Aber nun überlegte ich, wie ich nach hause kommen könnte. Ich war bei einem geschäftlichen Treffen gewesen. Die Linie 4 nehmen Richtung Bahnhof Wilhelmshöhe. Das schien mir aber die falsche Richtung zu sein. Ich musste doch zum Bahnhof und dazu eigentlich nur geradeaus laufen Richtung Stadt. Da hatte ich einen Zeitsprung gemacht. Zurück in eine Zeit, als in Kassel-Wilhelmshöhe noch ein kleiner verschlafener Bahnhof stand und ich hier in den Bus umsteigen musste, um nach Helleböhn zu kommen. Der Hauptbahnhof aber war nur stadteinwärts zu erreichen. Doch noch während ich darüber nach dachte, wurde mir klar, es gibt kein zuhause mehr, eben so wenig wie Eltern, geschweige denn die elterliche Wohnung. Ich irrte weiter herum, stiefelte mit meiner Aktentasche unter dem Arm durch ein mit sehr schönen Holzvertäfelungen ausgestattetes Gebäude, offensichtlich ein Hotel, ohne dass mir da jemand helfen konnte. Ich fühlte zuhause und doch nicht. Einzig mein Ehrgeiz, in jeder Stadt, die vor meinem geistigen Auge erschien, zu Fuß zum jeweiligen Hauptbahnhof laufen zu wollen, der blieb mir.  


Dienstag, 29. Dezember 2020

MyLife 1982

 Hohe Zeit vor der hohen Hecke

Wir schmiedeten Hochzeitspläne, doch zunächst einmal stand mein Arbeitsbeginn beim Lang Verlag für mich im Vordergrund. In der Herstellungsabteilung war ich der Hahn im Korb, misstrauisch beäugt vom Chef. Ich hatte Kolleginnen aus der Pfalz ( Marianne St.), aus meiner Heimat Nordhessen (Eva E.) und aus Südhessen (Uschi S.). Letztere war meist als Teilzeitkraft tätig. Autorenbetreuer und im Endeffekt Verkäufer war Stefan K., dessen freundliche, bisweilen fast schleimig wirkende, Art mir wohl immer in Erinnerung bleiben wird. Er war Raucher und zumindest in der Firma Antialkoholiker. Insgesamt war ich froh, wieder zurück zu sein. Meine Hochzeitsplanungen waren schon bald Thema und die Begeisterung meiner Kolleginnen darüber hielt sich in Grenzen. Der Verlag zog im Laufe des Jahres um. "Hinter den Ulmen" im Stadtteil Eschersheim befand sich in einem rot gestrichenen Haus unser Domizil.   

Mit meinen Eltern gab es nach wie vor Auseinandersetzungen. Wir waren, um unsere Hochzeitsabsichten mitzuteilen, noch einmal zu Besuch. Mutter schrieb mir danach am 28.3.1982 u.a. das Folgende: "Dein Vater ist an einem Besuch mit deiner zukünftigen Frau nicht mehr interessiert. Du kannst natürlich gerne allein kommen.." Und weiter: "Du hast unsere Zusage, dass wir an der kirchlichen Trauung teilnehmen werden. Nach der Trauung fährt dein Vater sofort wieder nach Kassel zurück." Aus dem Besuch in Lemgo wurde zum Glück nichts. Stattdessen erhielt ich regelmäßige Nachrichten über den Zustand meines Bruders, der Anfang des Jahres zur Bundeswehr kam und wie er mir noch selbst schrieb, in Fuldatal stationiert war. Bei allem Hin und Her kannte ich die Gründe für die Ablehnung meiner Verlobten ziemlich genau. "Warum müsst ihr denn heiraten? Da nimmt man sich doch etwas Jüngeres." Das war Vaters Einstellung, der vermutlich an ein nettes junges Mädchen dachte, die man womöglich gut steuern konnte. An meinen Bedürfnissen ging das völlig vorbei. An eine Familiengründung dachte ich noch gar nicht, ich musste mich selbst erst mal in stabilere Zeiten begeben. Dazu kam, dass ich aufgrund meiner Erfahrungen in seiner Familie gar kein positives Bild von dieser Lebensform hatte. Ich war misstrauisch allen Oberflächlichkeiten gegenüber. Das spielte für meine Eltern keine Rolle, wussten sie doch von mir zeitweise nicht mehr, als das ich ein Mann mit Brille bin.

Im Februar verbrachte ich mit Ruth eine Woche in Neustift im Stubaital, wo ich erstmals auf Langlaufski wagte, ohne damit richtig zurecht zu kommen. Alle Arten von Gegenständen, die sich ohne meine Zutun bewegten resp. unter mir weg rutschten, waren mir suspekt. Im März fuhren wir an den Bodensee, hatten ein ganz nettes Hotel. Während tagsüber alles halbwegs in Ordnung war, litt ich  abends unter starken Angstzuständen. Es erinnerte mich an schwüle Frankfurter Sommertage, wo mein Kreislauf mich oft derart im Stich ließ, dass ich nervös wie ein Junkie auf Entzug durch die Straßen lief. Selbst vorbei fahrende Autos regten mich auf. Nichts war einfach, aber ich hielt stand. Je größer der Widerstand wurde. Auch mein Bruder Frank war wie ich als Soldat bei den Funkern und wie er mir schrieb, dauerte auch für ihn die Grundausbildung 1/4 Jahr. Bezüglich seiner Teilnahme an unserer Hochzeit äußerte er sich so, dass es für mich klar war, dass er nicht dabei sein wird. 

Im Verlag erfuhr ich dagegen durchaus mal positive Neuigkeiten. Ich bekam ein Einzelzimmer. Da ich mir eine Kaffeemaschine mitgebracht hatte, bekam ich stets auch Damenbesuch. 



Mein Arbeitsplatz noch ganz analog

Unser Büro war tatsächlich eine große Wohnung auf mehreren Ebenen. Die Herstellungsabteilung befand sich im ersten Stock. Es gab nur eine einzige Toilette für Frauen und Männer mit Ausblick auf die Straße. Das brachte mir bisweilen einige für mich aufschlussreiche Eindrücke, um die ich mich nicht gerissen habe. Die Abteilungsleitung war zunächst noch nicht geregelt, aber Marianne St. war die erste Anwärterin. Sie schien mir eine bisweilen zwiegespaltene Persönlichkeit zu haben. Während eines Mittagspaziergangs erzählte sie mir einiges über ihr seelisches Innenleben. Ich wusste nicht recht, was ich damit anfangen sollte, trat sie beruflich doch ganz anders auf. Mit unseren ausländischen Autoren konnte sie mittels ihres amerikanisch gefärbten Englisch gut kommunizieren und sie war erster Ansprechpartner unseres Chefs, für den der eigene Frauengeschmack wohl durchaus ein Einstellungskriterium war. Eva E., meine resolute Landsfrau, amüsierte sich sehr über mich, als ich Marianne einmal den Spitznamen "Schnuggl" verpasste. 

Unsere Hochzeitsvorbereitungen waren überschaubar. Ein Termin beim Standesamt musste gemacht werden. Mein "Freund" Jochen stand als Trauzeuge nicht zur Verfügung. Die ganze Sinkkastenclique inklusive Völkerchen sah ich nie wieder. Paradoxerweise stand uns nur Ruths Schwester als Trauzeugin zur Verfügung. Ausgerechnet die Frau, die gegen mich gesprochen hatte, weil sie befürchtete, dass mein Auftauchen die von ihr geplante Lebenspartnerschaft mit Ruth zerstören würde. An den Tagen vor unserer standesamtlichen Hochzeit waren wir beide sehr unsicher, jeder auf seine Weise. Dennoch tauchten am 14.5.1982 drei Personen vor dem Friedrichsdorfer Standesamt auf. "Meine" beiden Frauen ungewohnter Weise im Kleid, ich im blauen Anzug. Die Zeremonie war relativ kurz und schmerzlos. Mit dem neuen Familienstammbuch in der Hand stürmte ich aus dem Amt, fast hätte ich den Hochzeitskuss vergessen. Danach fuhren wir nach Bad Homburg zum Essen, was meiner Schwägerin nicht so gut bekam. Wir kehrten nach Burgholzhausen zurück, um unsere Sachen für Lemgo zu packen. Es gibt noch ein Foto, wo wir beide vor dem Haus standen. Die Hausgemeinschaft nahm auch von unserer Hochzeit wenig Kenntnis. Es herrschte, abgesehen von unseren direkten Nachbarn, eine unterkühlte Atmosphäre uns gegenüber. Man ließ uns es uns spüren, dass wir die einzigen Mieter waren und uns nicht an den anstehenden Arbeiten im Garten und der Hausordnung beteiligten. Dafür zahlten wir unserem Vermieter, einem Herrn Krause, unseren Obolus. Das rettete uns aber nicht, manchmal war es ein Spießrutenlauf, wenn die Herrschaften draußen zu Gange waren und wir das Haus verließen. Zum Glück war mittags an unserem Hochzeitstag niemand zugegen. Die Fahrt nach Lemgo konnte leichten Herzens beginnen.    

Die Zahl der Hochzeitsgäste war begrenzt auf Ruths Verwandtschaft mütterlicherseits. Mit mir und Ruth waren wir insgesamt etwa 16 Personen anwesend. Es störte insgesamt nicht, dass von meiner Seite niemand dabei war, für mich selbst war es ja auch leichter. Mit meinem Schwiegervater verstand ich mich gut. Er selbst war in Herten geboren und hatte vor dem Krieg bei seiner Mutter auf einem ostpreußischen Hof gearbeitet. Das Alleinsein kannte er gut, auch später Im Krieg in Russland war er oftmals auf sich selbst gestellt und auch schwer verwundet worden. Aufgrund der zeitlichen Wirren hatte er selbst erst spät eine Frau gefunden und die beiden hatten sich mit bloßen Händen und viel Arbeit Haus und Grund geschaffen. Er fragte mich auch später oft, wie es meiner Familie gehe. Am Vorabend der Hochzeit saßen wir im Wohnzimmer zusammen und er gab eine Runde Bärenfang nach der anderen aus, was ihm selbst am nächsten Tag nicht gut bekam, denn er trank für gewöhnlich nur wenig Alkohol. Auch ich war ein bisschen angeschossen, aber vielleicht ein bisschen routinierter und vor allem jünger. Mein Gewicht war immer noch so niedrig, dass meine Schwiegermutter mir die Hose meines Hochzeitsanzugs enger nähen musste. Diese Folge meines Israelaufenthalts vom letzten Jahr spürte ich immer noch.  Der Trauungsakt fand in der Kirche St. Johann statt. Das ist eine reformierte evangelische Kirche. Alles sah ein wenig schlicht aus und ich war nach wie vor nervös. Ich selbst war lutherisch getauft. das war aber kein Problem. Versehentlich hätte ich Ruth fast den Ring auf die falsche Hand gesteckt, aber es ging noch mal gut. Draußen versammelten sich alle zum gemeinsamen Foto und wir beide hatten einen Fototermin auf den Lemgoer Wallanlagen, wo schöne professionelle Bilder entstanden. Ruth trug ein in meinen Augen sehr schönes Hochzeitskleid an, nicht zu überkandidelt, aber doch sehr fraulich. Etwas Kopfschmuck, kein Schleier und vor allem keine Schleppe, so kamen ihre großen dunklen Augen auf den Bildern gut zur Geltung. Ich war ein stolzer Bräutigam. Das ich das in meinem 26. Lebensjahr schon geschafft hatte, machte mich auch ein bisschen stolz. Gefeiert wurde dann im Lemgoer Pulverturm, der damals noch ein Restaurant beherbergte. Der war fußläufig zu erreichen und ein Teil der ehemaligen Befestigungsanlagen der alten Hansestadt Lemgo. Es gab zunächst Kaffee, mein Schwager hielt eine kleine Rede und auf seine Frage, was ich meisten liebe, blieb mir nur eine Antwort: Ruth. Es folgte später das gemeinsame Essen. Da die meisten Hochzeitsgäste den Alkohol mieden, wurde es nicht sehr spät. War die Schlichtheit unserer reformierten Hochzeitskirche St. Johann schon etwas Neues für mich, so kannte ich es auch nicht, dass bei Feierlichkeiten Cola oder Limonade auf dem Tisch stand. Sinnigerweise trug auch meine Schwägerin an diesem unserem Tag eine Art Hochzeitskleid. Mit meinem Schwager fuhren wir dann in dem gemieteten Audi zum Haus meiner Schwiegereltern zurück. Wir übernachteten im eigens für uns frei geräumten Esszimmer des Hauses. In ihren Lebenserinnerungen schrieb meine Schwiegermutter später nur, dass unsere Hochzeit größer gewesen sei, als ihre eigene. Von meiner Verwandtschaft gab es eine Grußkarte von meinem Patenonkel Siegward Dreyer und seiner Frau. Die Stiefmutter meines Vaters sah die Sache allerdings anders. Als sie vom Fernbleiben meiner Eltern bei unserer Hochzeit erfuhr, fuhr sie zu meinen Eltern und nötigte meinen Vater, ein sechsteiliges Kaffeeservice einzupacken und als Hochzeitsgeschenk an uns abzuschicken. "Was macht ihr denn mit dem Jungen?" war ihre Frage an meine Eltern. "Oma" Paula war nicht meine richtige Oma, aber defacto war sie es. Sie schrieb auch immer wieder und sandte Fotos. Seit dem Tod meines Großvaters Kurt reiste sie oft und besuchte auch das Grab meines Onkels und Namensgebers Wolfgang Dreyer in Costermano am Gardasee. Dabei wurde sie zum Faktotum im Ort und lernte auch italienisch. Sie hatte auch Rudi Ullrich kennengelernt und sich lebhaft mit ihm ausgetauscht.  

Wir blieben noch am Tag danach in Lemgo und fuhren gemeinsam mit Schwager und dessen Freundin an die Weser zum Baden nach Borlefzen bei schönem Wetter. Nach Burgholzhausen ging es mitsamt Brautstrauß zurück, wo uns der Alltag schnell wieder hatte. Denn unsere "Flitterwochen" würden wir erst im September verleben. Mein Hochzeitsfotos waren in der Firma zur Ansicht bei meinen Kolleginnen begehrt. Allerdings begeisterte die vollendete Tatsache nicht jede, was ich merken konnte. Es war nicht das erste Mal, dass ich das Gefühl bekam, dass die Entscheidung für eine Frau gleichzeitig den Verlust vieler Möglichkeiten bedeutete. Aber wie hatte schon Rudi Ullrich immer gesagt "Safety First". Der Sommerurlaub führte uns in unserem ersten Jahr als Ehepaar nach Menorca. Am Abend vor dem Flug liefen wir beide etwas nervös durch die Anliegerstraßen unseres kleinen Wohngebiets in Burgholzhausen. Doch alles ging gut. Mit meiner Canonet-Kamera im Gepäck erreichten wir unser Hotel in der kleinen Ansiedlung Arenal d'en Castell. Es lag auf einer kleinen Anhöhe und war ein ziemlicher Betonklotz mit vier Sternen. Dennoch wurde der Urlaub ein ziemlicher Erfolg. Denn wir lernten drei weitere junge Paare kennen, mit denen wir unsere Zeit am Strand und abends an der Bar verbrachten. Ich verkostete gern meinen Gin Fizz und überhaupt der Likör ist eine Spezialität auf Menorca, wie wir in Mahon erfuhren. Mit einem Mietauto entdeckten wir die kleine Insel. Auch zu Fuß lohnte es sich mal in die Nachbarbucht  zu gehen, die Küstenlinie zu fotografieren oder aber in Fornells bei ziemlicher Menschenleere auf gutes Licht zu warten. Waren wir abends mal allein, so saßen wir in einer Bar außerhalb des Hotels, wo ich Ruths Erzählungen lauschte, während über unseren Köpfen die Fledermäuse durch die Nacht flogen.         

Unbeschwerte Tage also, die mit dem Rückflug und einem sehnsüchtigen Blick zurück auf die Umrisse der Insel endeten. Zwischenzeitlich war mein Bruder bei der Bundeswehr ausgemustert worden. Berichtete er mir noch im Februar über gute Schießergebnisse und darüber, dass er beim Marschieren keine Probleme hatte, so haben sich die damaligen Tendenzen wohl so verstärkt, dass die Ausmusterung notwendig wurde. Denn Frank schrieb mir damals bereits: " Sie (die Ausbilder) unterhalten sich öfters mit mir und sehen trotz meiner Empfindlichkeit auch gute Seiten." Ich hatte Mutter auf ihren Wunsch hin Hochzeitsfotos geschickt und in ihrem Antwortbrief hieß es zu Frank: "Dein Vater hat nun Mitte August Urlaub und ich glaube doch, dass wir euch dann mal besuchen. Frank ist schon zuhause, er wird am 31.7. entlassen. Soll aber eine Behandlung mitmachen, was die Bundeswehr bezahlen will." Im Nachsatz schreibt sie: "Wie ich erfuhr, bezahlt die Bundeswehr keine Behandlung, da die Mängel schon vorher bestanden." Man hätte Frank das Ganze ersparen können, denn schon der Versuch eine Ausbildung im VW-Werk Baunatal zu absolvieren, war gescheitert. Das alles war sehr bedauerlich für ihn, denn seine beruflichen Aussichten wären zunächst mal deutlich besser als meine eigenen gewesen, wenn er sie hätte nutzen können.

Wir hatten in diesem Jahr also schon einige Reisen gemacht, eine Busfahrt führte uns noch ins Elsass, wo wir Colmar besichtigten. Die tägliche Fahrt an die Arbeit jedoch war eher etwas nervend. Manchmal verpasste ich in Friedrichsdorf den Anschluss nach Burgholzhausen und ging den Weg zu Fuß. Insbesondere morgens und im Winter war der Fußweg zum Bahnhof in Burgholzhausen zwar teilweise malerisch aber auch zeitraubend. In unserer Freizeit fuhren wir öfter nach Bad Homburg, wo es direkt an der Promenade ein chinesisches Lokal gab, dass uns auch vom Ambiente her ansprach. Unsere Spaziergänge führten uns durch den Hardtwald und den Kurpark. Manchmal war auch der Köpperner Wald unser Ziel. Unsere Wohnung war soweit gestaltet, wie es uns möglich war. Die kleine im Wohnzimmer integrierte Küche war mit einem Vorhang abgetrennt, unser Balkon bepflanz und bot uns einen guten Ausblick gen Süden. Für eine Familiengründung war die Wohnung jedoch eindeutig zu klein und der Weg zur Arbeit und in die Stadt war uns auf die Dauer zu weit. Zumal der Winter Schnee bringen sollte.   


   

 

Montag, 14. Dezember 2020

MyLife 1981

Hva heter du? (Over the bridge and far away)

Das wusste ich zu Beginn des Jahres kaum noch. Ein bisschen Norwegisch hatte ich von unserem Weihnachtsurlaub mitgebracht. Wir hatten Bekannte von Astrid besucht und uns auch da wieder gut unterhalten. Gefühlsmäßig kam ich wohl ganz gut an. In Bergen besuchten wir an einem Tag die Bibliothek. Nun nahm mich der Alltag wieder in seinen Besitz. Astrid hatte schon seit einiger Zeit eine Bekanntschaft mit einem Iren geschlossen und zu dem zog sie mit samt ihrem großen Bett. Ihre übrige Möblierung blieb weitgehend in meiner Wohnung. Ich selbst schlief nun auf meiner braunen Cordcouch, dachte über die Dinge nach, die zu unserer Trennung geführt haben konnten. Einen  Streit bekam ich mit ihr bei einer Diskussion darüber, warum das deutsche Volk sich nicht gegen Hitler aufgelehnt hatte, das war eine Auswirkung ihres VHS-Kurses, der sie noch einmal richtig hoch brachte. Ich erlaubte es mir zu sagen, das ich das verstünde. Im Englischen meint "to understand" nicht nur, dass man etwas versteht, sondern dass man es akzeptiert. Mir erscheint es noch heute als sehr klar, dass ein breiter Widerstand gegen Hitler nach dessen Machtergreifung gar nicht mehr oder nur unter Einsatz von Leib und Leben möglich war. Die meisten Menschen sind aber nicht zum Revolutionär geboren, schon gar nicht in Deutschland. Darüber konnten wir uns einfach nicht einigen, obwohl der Umstand für mich auch nicht akzeptabel war. 

Meine Englandpläne nahm sie nun auch nicht mehr ernst, was in dem Satz gipfelte: "Für dich war es schon viel, von Kassel nach Frankfurt zu ziehen." Dabei hatte ich nach wie vor auch aufgrund ihrer Erzählungen den Plan, in England mindestens ein Semester als Auslandsstudium zu absolvieren. Die Möglichkeit dafür ein Stipendium auf Bafög-Basis zu bekommen, bestand. Unterlagen der Universitäten in Norwich und Exeter lagen mir vor. Das Studium in England folgte einem festen Plan, es war sozusagen verschult, was mir sehr entgegen kam. Astrid erzählte mir auch, dass man in England nur Lehrer werden kann, wenn man sich erst einmal vor einer Klasse bewährt hat. Auch das erschien mir weitaus besser als das deutsche Bildungssystem. An der Frankfurter Universität war ich als Student vollkommen frei. Zwar musste man eine bestimmte Anzahl Scheine machen, die konnte man unterschiedliche Art und Weise erwerben, aber es gab zum Beispiel keine Zwischenprüfung. Es bestand also keine Notwendigkeit, die Dinge in einer bestimmten Zeit zu erledigen. Bei den Scheinen genügte es manchmal schon, ein Seminar zu belegen und einfach nur anwesend zu sein. Was mir bei vielen Seminaren aufstieß war, dass sie in deutscher Sprache gehalten wurden. Wie sollte ich da meine Englischkenntnisse verbessern, wie die Mentalität aufsaugen. Für mich war es wichtig, Menschen in ihrer Sprache sprechen zu hören. In Grammatik war ich nie gut, dennoch sprach ich meistens intuitiv richtig. Den Kontakt zu native speakern hielt ich für unumgänglich. Selbstverständlich war das in Philosophie etwas anderes. Die Vorlesungen im Philosophicum in der Gräfstraße besuchte ich gern. Manche Sachen blieben mir ein Rätsel, vor allem der Herr Kant mit seiner "Kritik der reinen Vernunft" stand eigentlich auch später nur nutzlos in meinem Buchregal herum. Interessant dagegen die Nikomachische Ethik von Aristoteles, die mir vor Augen führte, wie stark der Einfluss des antiken Griechenlands auf unsere heutige Denkweise ist. Mit dieser praktischen Seite der Philosophie konnte ich viel anfangen. Auch Descartes, dessen Zitat "Cogito ergo sum" auch der Titel dieses Blogs ist, war mit vertraut. Den Schopenhauer hatte mir noch Dorle ans Herz gelegt (das Schopenhäuerchen). Aber was meine anglistischen Ambitionen anging, da hätte die Beziehung zu Astrid mir sehr geholfen. Möglicherweise hätten wir ja zusammen nach England gehen können, da stellte ich mir vieles leichter vor. Aber sie war nun einmal nicht mehr da. Und die Frankfurter Uni gefiel bis auf die Mensa immer weniger. Irgendwo war in mir immer noch der Wunsch wach, Astrid besser verstehen zu können. Sie hatte mir soviel von ihrem gemeinsamen Leben mit ihrem damaligen Freund Bill im Kibbuz Tel Josef erzählt, dass ich beschloss, mich der Zentralen Verwaltung für Volontäre in einem Kibbuz in Tel Aviv anzumelden.

Über meinen Aufenthalt dort habe ich bereits ausführlich geschrieben <a href='https://wolfgang-dreyer.blogspot.com/2012/11/israel.html'> .

Unter dem Label "Israel" findet sich alles, was es über den März 1981 zu berichten gibt. Meine Zeit in Israel brachte entscheidende Auswirkungen. Ich möchte aber hier durchaus andere Stimmen zitieren. Ich jedenfalls brauchte auch nach der Rückkehr in Deutschland eine längere Zeit, um vollständig gesund zu werden. Mein Gewichtsverlust war beträchtlich, um fast 10 kg war ich leichter. Und die Gewichtszunahme ließ auf sich warten. Astrid war so gut wie nie da. Nur zum Abholen von Sachen ließ sie sich blicken. Sie machte auch eine Prüfung in der Zeit und schrieb mir, als sie im Juni wieder in Israel war. Tatsächlich befand sie sich wieder In Tel Josef und traf dort noch Mädchen, die mit mir bekannt waren. Jane und Debbie warteten auf Post von mir, die ich nie schrieb. Sie wechselte dann in ein anderes Kibbuz in Hefzi Bah, schrieb aber, Das Tel Josef immer noch eine Art Zuhause in Israel für sie sei. Sie besuchte da auch immer noch andere Volontäre. Monty Python's als Vertreter des englischen Humors, das verband uns noch. Sie hatte von einem Volontär Cassetten bekommen. Mir gab Astrid noch den Tip, es mit Arbeit in einem Moschav zu versuchen, falls ich Geld bräuchte. Irgendwo geisterten Bilder von uns herum und mit verschiedenen Bekannten hatte ich noch Kontakt in einer Zeit in der ich mich längst neu orientiert hatte. Da ich Geld brauchte, arbeitete ich beim Kaufhaus M. Schneider, wo ich Besucher des Restaurants zählen musste. Mir blieb genügend Zeit, die Frankfurter Rundschau zu lesen.

Im Mai traf ich eine Frau, mit der ich einen schönen Abend in Sachsenhausen verbrachte. Dies hatte Folgen, wir verabredeten uns für einen Abend in meiner Wohnung, ich wollte kochen. Fabrizierte einen Nudelauflauf und lud auch meinen "Freund" Jochen dazu ein. Schließlich wollte ich eine zweite Meinung heraus kitzeln. Er sagte aber später nur: "Die will was von dir." So habe ich sogenannte Freunde immer kennengelernt. Meine neue Freundin imponierte mir dagegen sehr. Es fühlte sich so an, als würde man nach ewigem Waten im Sumpf plötzlich festen Boden unter den Füßen haben. Das Elternhaus von Ruth befand sich in Lemgo und sie wollte zu Pfingsten dorthin. Ich dagegen würde mich in Kassel absetzen lassen und zu meinen Eltern gehen. Einen Kontakt zwischen ihr und meinen Eltern fand nicht statt. Im weiteren Verlauf des Juni "musste" sie mit Mutter und Schwester nach Zermatt fahren, das war wohl schon vor meinem Erscheinen geplant. Sie schrieb mir, dass sie sich darauf freue, wieder nach Frankfurt zu kommen. Ich war hin und weg, vor allem entschlossen, es mit ihr zu versuchen. Doch noch immer schickte ich Astrid ihre Post nach, wenn welche kam und noch immer stand ihre Möblierung in meiner Wohnung.

Während Ruth in Zermatt urlaubte, fand ich eine Mitfahrgelegenheit nach Berlin mit einem jungen Studentenpaar. Dort wollte ich Steffen, einen Bekannten aus dem Kibbuz besuchen. Die Grenzkontrollen in Helmstedt waren schon ein wenig belastend. Man war froh, wenn West-Berlin erreicht war. Hier suchte ich Steffen in seiner Wohnung im Wedding auf und konnte dort auch übernachten. Für meine Verhältnisse war seine Wohnung ziemlich unordentlich und ein bisschen ein Kulturschock. Da Steffen anderes zu tun hatte, nutzte ich die Zeit für Erkundungen in Berlin. So besuchte ich die FU und wagte an einem Tag den Übergang nach Ost-Berlin. Über die Station Friedrichstraße gelangte ich nach mehreren Kontrollen in den Osten der Stadt. 25 DM waren in Ostmark einzutauschen. Anfangen konnte man damit nicht viel. Günstig waren vor allen Dingen Bücher. Da interessierte mich die Philosophie natürlich hauptsächlich. Auf der Straße "Unter den Linden" wurde ich gleich von zwei freundlichen Herren angesprochen, die von mir gern DM bekommen hätten im Tausch gegen ihre Ostmark. Ich lehnte trotz mehrerer Überredungsversuche ab, was vermutlich mein Glück war. Ich sah mir dann noch den Alexanderplatz an und fuhr auf den Fernsehturm hoch. 


Am Alexanderplatz gab es ein recht modern wirkendes Schnellrestaurant. Aber weder die Speisen noch das Bier reichten an die gewohnte Qualität im Westen heran. Ich fotografierte damals noch nicht all zu viel, aber vom Alex musste das natürlich sein. Letztlich war ich froh, als ich am Ende des Aufenthalts meine Fahrer wieder zur Rückreise traf.

Mittlerweile passierte auch bei meinen Eltern in Kassel etwas. Die Situation mit meinem Bruder Frank begann sich zu verschärfen. Im Juli wollten sie nach Mainz zu meiner Großmutter fahren, aber meinen Bruder Frank nicht mitnehmen. Ich sollte nun seine Aufsicht in Kassel übernehmen. Das bedeutete für mich, dass meine Eltern nicht den Wunsch verspürten, meine Wohnung zu sehen bzw. mich zu besuchen. Zusätzlich hätte ich die Kosten für die Zugfahrt nach Kassel zu tragen. Das kam für mich überhaupt nicht in Frage und ich verweigerte mich hier. Zu groß war bereits meine Distanz zum Elternhaus. Auch mit der Verwandtschaft in Mainz hatte ich keine Verbindung, man hatte bei der Familie Keßler nicht die Absicht, meine Selbstständigkeit wahrzunehmen. Mutter schrieb dazu später: "Ich möchte Dir nur deinen Brief beantworten. Frank wollte eben doch mit nach Mainz fahren. Wir hätten Dich sicher auf der Rückfahrt mal besucht, aber dein Vater fühlte sich bereits einige Tage vor der Mainzfahrt nicht wohl, sodass ich froh war, überhaupt fahren zu können." Alles nicht so schlimm, wenn Vater nicht immer auf der anderen Seite den starken Mann spielen würde. Mutter rief mich öfter von der Telefonzelle aus an, da Vater sich verweigerte, ein Telefon anzuschaffen. Das war ihm zu teuer, da er befürchtete, dass sie dann zu viel telefonieren würde. Er ließ sie lieber zur Zelle laufen, in deren Nähe sich ein Kiosk mit einer Räumlichkeit befand, in der einige Säufer herum hingen. Mutter hatte dann auch manchmal Kontakt. 

Bei mir lief sozusagen alles nach Plan. Ruth und ich, wir kamen uns näher, besuchten uns gegenseitig und letztlich öfter in ihrem Apartment in Frankfurt-Hausen. Sie gab mir ihr Auto und ich war der Fahrschüler. Ihr Auto, ein goldfarbener Ford Fiesta 1,0, war nicht leicht zu fahren. Die Schaltung sehr hakelig, oft stocherte man erst herum, bis sich der richtige Gang fand. Vor dem Anlassen musste der Choke gezogen werden. Manche Fahrt im Taunus endete in Feldwegen abschüssiger Art, wo ich das Anfahren und generell das Meistern schwieriger Situationen meistern musste. An die Ausflügelei musste ich mich gewöhnen. Ich kannte es von zuhause nicht, dass man einfach zum Spaß in eine fremde Gegend oder Stadt fuhr. Das gab es bei uns nicht. Und auch in Frankfurt fühlte ich mich immer in der Stadt am wohlsten. Als ich noch mit Kumpeln unterwegs war, fühlte ich stets eine gewisse Erleichterung, wenn wir von Fahrten übers Land wieder zurück in die Stadt kamen. Ich hatte mich dennoch als reiselustig bezeichnet, was in Bezug auf Reisen ins Ausland auch stimmte. Ruth war da ganz anders, schon früh automobil unterwegs. Aber auch mein übriges Leben würde sich ändern. Ich hatte unsere Bekanntschaft zum Anlass genommen, endlich ganz mit dem Rauchen aufzuhören. Zwar rauchte ich tagsüber wenig, dafür abends in der Kneipe um so mehr, sodass ein Kneipenbesuch auch manchmal fast eine ganze Packung Zigaretten bedeutete, die ich zum Schluss selbst drehte. Aber auch die Hygiene wurde anders, denn nun benutzte ich ein Deo. Vorher kam nur Wasser und Seife an mich heran. 

Ruth hatte eine gleichnamige Tante, deren Name sie trug. Diese war kurze Zeit nach unserem Kennenlernen an Krebs verstorben. Ruth hatte mir schon von ihr erzählt, sodass ich ein bisschen überrascht war, dass die Nachricht sie doch mehr traf, als ich vermutet hätte. Im Sommer unternahmen wir, nun gemeinsam, unsere erste Fahrt nach Lemgo zu ihren Eltern. Ein Zwischenstopp war in Kassel bei meinen Eltern vorgesehen. Wir hätten dort in der elterlichen Mietwohnung nicht übernachten können. Es war also sinnvoll, so zu planen. Als wir die Treppen in unserem Mietshaus hoch gingen und sich die Wohnungstür öffnete, streckte wie üblich meine Mutter verlegen lachend den Kopf hinaus. Als sie Ruth sah, murmelte sie nur "Das wird schwer." Ruth hat das wohl nicht gehört, es wäre bereits der erste Affront gewesen. Das weitere Prozedere war so wie immer. Vater saß auf einem Stuhl im Wohnzimmer, beide Eltern rauchten, entsprechend roch es verräuchert in der ganzen Wohnung. Meinen Bruder bekam ich nicht zu Gesicht. Aufgrund seiner Behinderung war er eigentlich mittlerweile die Hauptperson in der Familie. Mein Werdegang interessierte da weniger. Im Vorjahr erst hatte ich eine Augen-OP hinter mich gebracht, mit der mein Schielen korrigiert wurde. Das war im Bürgerhospital in Frankfurt geschehen, ohne dass ich da eine Anteilnahme erfahren hätte. Das Ganze hätte längst noch im Kindesalter passieren können und müssen, mein Schielen störte meine Eltern nicht. Unsere "Gespräche" wurden stets von Vater gesteuert. Meist forderte er mich auf, etwas aus meinem Leben zu erzählen. Wenn ich dann anfing und ich hatte viel zu erzählen, wollte natürlich auch mit dem ein oder anderen Erfolg glänzen, winkte er meist ab oder relativierte manchmal mit dem Ausspruch "Jo, nu". Schnalle waren das meist Erzählungen über Frank das Hauptthema. Was Ruth besonders irritierte, das war das gegenseitige Übereinander-Reden als "Dein Vater" oder "Deine Mutter" in der Gegenwart der jeweiligen Person. Sie bemerkte von Anfang an meine Verhaltensänderung, mein angespanntes Reden und meine Körperhaltung. Es war klar, ich wollte keinen Konflikt, eigentlich nur aus der Nummer raus. Mutter war keine Hilfe, stets stimmte sie Ihrem Mann zu. Sicher merkte auch sie meine Spannung, aber aus einem gelegentlichen Lachen kam nichts von ihr. "Das kann möglich sein." Das war so eine Art Zustimmung von ihrer Seite. Nach einer halben Stunde war die Situation perdu. Obwohl ich mich mit meinem Vater nicht gestritten hatte, reichten die Eindrücke für Ruth. Sie verließ uns und wollte in ihrem Auto auf mich warten. Ich musste mich nun entscheiden und das fiel mir auf der einen Seite schwer, war auf der anderen Seite leicht. So fuhren wir weiter nach Lemgo. Hier lernte ich die Schwiegereltern und meinen Schwager kennen. Sie wohnten in einem Jahrhunderte alten Fachwerkhaus. In Ruths ehemaligen Zimmer konnten wir übernachten. Hier fühlte ich mich wieder als Mensch. Meine studentische Art kam irgendwie gut an. Erste Fotos von der Lemgoer Altstadt entstanden mit meiner Canonet 28, die ich im Frankfurter Bahnhofsviertel in einem Fotoladen gekauft hatte. Wenigstens in ihrem Elternhaus hatten wir Unterstützung. Denn Ruth hatte eine Schwester, die fleißig gegen unsere Beziehung intervenierte. Bei gemeinsamen Treffen mit ihr fanden teils heftige Dispute statt, einer davon ging um das Thema Autofahren. Für die beiden Schwestern war das essentiell, für mich ein ideologisches rotes Tuch. Ruth war dennoch entschlossen, mit mir zusammen zu bleiben, allerdings, ohne auf mich warten zu wollen, sollte ich in England ein Studium aufnehmen. Auch da entschied ich mich für Ruth. Ich verstand sie auch deshalb, weil ich selbst nicht auf Astrid warten wollte, sollte sie eventuell zu mir zurück kommen. Mit dem Studium in Frankfurt war ich ohnehin überfordert, nicht fachlich, aber mental. Und Ruth verdiente gutes Geld, aber von ihr abhängig sein wollte ich nicht. Bisher hatte ich von der Hand in den Mund gelebt, das musste sich ändern.     

So planten wir unsere erste gemeinsame Reise, die wieder nach Italien gehen sollte, dieses mal auf die schöne Insel Elba. Ich war nun Co-Fahrer. Im September ging es los. Ich sehe mich im Fiesta über das Frankfurter Kreuz Richtung Basel fahren, durch die Schweiz nach Mailand und dann an Genua vorbei in Richtung Toskana. Die Strecke für einen quasi Fahranfänger ein echter Ritterschlag, dunkle Tunnel wechselten sich mit hohen Brücken ab. Erst als wir die Ausläufer der Toskana erreichten, wurde es flacher und wir fuhren in Pietrasanta ab. In Marina du Pietrasanta kamen wir im Hotel Mistral unter. Das lag direkt an einer Durchgangsstraße und der Lärm der unaufhörlich fahrenden Mofas und Motorroller nervte mich. Immerhin, das Hotel hatte einen schönen Garten und der breite Sandstrand war fußläufig erreichbar. Wer italienische Badeorte kennt, der weiß, außer für Kinder ist hier nicht viel los, vor allem nicht zur damaligen Zeit. Die Hotels haben ihre eigenen Abschnitte am Strand und das haben wir genutzt. Keine Hektik wegen irgendeiner Reservierung von Liegen, Abends spazierten wir durch die Straßen des Ortes und gingen hier und da was trinken. Ein anscheinend sehr verliebtes, schon etwas älteres Paar fiel mir auf. War das mein zukünftiges Schicksal, immer mit ein und derselben Frau irgendwo herum zu sitzen und harmonisch auszusehen. Irgendwie schloss ich das für mich noch aus. Aber unser Abenteuer ging weiter, denn um nach Elba zu gelangen, mussten wir nach Piombino weiter reisen. Da wir nichts vorher gebucht hatten, kaufte ich die Tickets immer erst vor Ort. Die Fähre setzte uns dann nach Porto Azzuro auf der Insel Elba über. Unseren Aufenthalt verbrachten wir in Marina di Campo. Dort fanden wir eine kleine Ferienwohnung. Die Dusche im Badezimmer stand mitten im Raum. Wenn man duschte, war der komplette Boden nass, so etwas kannte ich noch nicht. Bald gab es auch unseren ersten Streit. Wir wollten Geld abheben und ich hatte meine EC-Karte in der Wohnung gelassen. Dennoch, wir fanden ein schönes, aus unserer Sicht typisches Lokal und bestellten uns Fisch. Was dann kam, war aber ein kompletter Fisch, meine Augen wurden groß. So etwas kannte ich auch noch nicht. Ein bisschen ängstigte mich das, aber nachdem der Kopf erst mal ab war, schaffte ich es doch ihn zu verzehren. Der örtliche Weißwein half dabei und wir tankten ganz schön davon. Die folgenden Tage verbrachten wir am Strand und hatten schnell ein ruhiges Plätzchen am felsigen Teil für uns entdeckt. Wir blieben eine Woche, fuhren auch mit dem Auto auf der ganzen Insel mit immer wieder schönen Ausblicken herum. Im Kassettendeck liefen die Boomtown Rats mit "I don't like Mondays" . Nach einer Woche war unser Urlaub beendet und wieder wollten wir uns ein Ticket für die Fähre nach Piombino kaufen. Gesagt, getan. Als wir zu unserem Auto zurück kehrten, fanden wir die Fahrertür eingedrückt vor. Jemand war hinein gefahren und hatte sich aus dem Staub gemacht. Vermutlich hatte er hinter uns in der Schlange gestanden und da wir nicht im Auto waren und somit nicht aufrücken konnten, wollte er vermutlich in die Lücke vor uns fahren, dabei unseren kleinen Fiesta übersehend. Da das Auto noch fahrtüchtig war, die Tür zum Glück noch schloss, verzichteten wir auf die italienische Polizei. Wir fuhren nach der Überfahrt direkt zurück nach Frankfurt ohne eine Zwischenübernachtung. 

So einen ersten, schönen Urlaub musste man erst einmal gemacht haben. Viele schöne Dia-Fotos erinnern daran. Zunächst wollte ich nun für Klarheit in meiner Wohnung sorgen. Von Astrid wusste ich, dass sie am 21. August nach Frankfurt zurück fliegen wollte. Sie besuchte aber auch noch ihren ehemaligen Freund Bill in London, war also immer noch nicht da. Ruth und ich wollten nicht immer zwischen unseren Wohnungen hin und her pendeln. Wir suchten nach Wohnungen, doch es war nicht leicht in Frankfurt. Wir beiden "Eigeplackten" sprachen eben auch nicht den richtigen Dialekt. Außerdem waren wir nicht verheiratet. Die Frage nach eventuellen Kindern kam auch immer wieder. Es blieb uns also nichts übrig, als im Umland nach einer Wohnung zu suchen. In Friedberg vermittelte uns eine Maklerin eine Zweizimmerwohnung in Friedrichsdorf-Burgholzhausen. 

Mittlerweile war Astrid mit dem Schulbeginn auch wieder in Frankfurt aufgetaucht und ich bat sie zum Gespräch. Sie meinte, es sei gut, jemanden wie mich zu treffen, der so geblieben war wie vorher. Das konnte ich wohl als Kompliment auffassen. Ich sagte ihr, dass ich eine neue Freundin hätte und erzählte von unserem Urlaub. Sie fragte sehr interessiert nach, sie war ja Italienfan, hatte von Perugia und Assisi geschwärmt. Sie schien mir nicht enttäuscht zu sein. Als ich ihr aber sagte, dass sie ihre Habseligkeiten entfernen müsse, da auch ich ausziehe, wurde ihr wohl klar, es ist vorbei. Ich war eben doch nicht mehr derjenige, den sie kennengelernt hatte. Sie sollte den Schlüssel in der Wohnung hinterlegen, wenn sie ihre Sachen abgeholt hätte. Wir haben uns nicht mehr wieder gesehen, geschweige denn irgend etwas voneinander gehört.

Ich war erleichtert, die Angelegenheit, die es für mich nur noch war, hinter mir zu haben. Im November stand unser Umzug an. Das erste Mal, dass ich Frankfurt verließ. Ruth hatte die Möglichkeit, über ihren Arbeitgeber, die Börsen-Daten-Zentrale, einen VW-Bus auszuleihen. Wir leerten zunächst meine Wohnung und hatten eine volle Ladung in unserem Bus. Wir stellten das Auto über Nacht auf dem privaten Parkplatz vor ihrem Apartmenthaus in Frankfurt-Hausen ab. Leider hatte das Auto hintere Fenster, sodass man sehen konnte, was sich im Laderaum befand. Am nächsten Morgen fanden wir den Wagen mit eingeschlagener vorderer Seitenscheibe vor. Es fehlte meine komplette Stereoanlage samt Bandmaschine sowie ein Koffer mit persönlichen Dingen. Am meisten traf mich der Verlust meines aus Paris mitgebrachten Bérets und der Urkunde aus dem Krankenhaus, indem meine Daten als Säugling eingetragen waren. Es war, als solle mein bisheriges Leben ausgelöscht werden. Noch ärgerlicher ist das alles, wenn man weiß, dass diese Dinge dann irgendwann alle auf dem Müll landen, weil sie für andere Menschen völlig ohne Wert sind. Wir hatten einfach am Vortag nicht mehr die Kraft gehabt, noch raus zu fahren und alles in die neue Wohnung zu schleppen. Insofern mussten wir beide die Schuld auf uns nehmen. Es war ein Erfahrungswert, der mich in der Ansicht bestätigte, dass man in Frankfurt vorsichtig sein muss. 

Erstmals machten wir in Burgholzhausen die Bekanntschaft mit einer Eigentümergemeinschaft. Nur unsere Wohnung war vermietet. Die Vormieter waren gehörlos, sodass erst einmal die Klingel in Ordnung gebracht werden musste. Doch das sollte unser geringstes Problem sein. Unser Vermieter, ein Herr Krause war in Ordnung. Ich brauchte Geld, zwar verdiente Ruth gut und es hätte für uns beide gereicht, aber Abhängigkeit war meine Sache nicht. So kam ich auf die Idee bei meinem ehemaligen Arbeitgeber anzurufen und siehe da, eine Stelle als Buchhersteller war wieder frei ab dem 1.2.1982. Herr J. war auch bereit , mich wieder einzustellen.  Noch im November verlobten wir uns. In einem Brief wünschte Mutter mir Glück und ließ "meine Braut" grüßen. Derweil richteten wir uns so gut ein, wie es ging, lernten unsere neue Umgebung kennen. Doch Weihnachten verbrachten wir erstmals in Lemgo bei meinen Schwiegereltern und dem Schwager. Ein Weihnachten ohne Alkoholexzess meiner Mutter, ohne gegenseitige Attacken oder Spitzen zwischen Vater und mir und ohne Probleme des Bruders. Friedlich eben, das war mich das größte Geschenk neben anderen.


 

Montag, 30. November 2020

Sarah

 Die Bosetti, Sarah ist keine Freundin von der Jana aus Kassel. Sie ist sogar richtig böse mit ihr, weil sie denkt, sie hat sie in die Fresse gehauen und nun schlägt sie zurück. Die Vergleiche der Corona-Maßnahmen unserer Regierung mit der Nazizeit sind natürlich Mumpitz. Aber das eigentlich Schlimme an diesen Vergleichen ist, wie sie zustande kommen. Da wird aus irgendwelchen Quellen, die man gegoogelt hat, irgendeine Schlussfolgerung gezogen, ohne dass man sich ernsthaft mit dem Thema beschäftigt. Diese Oberflächlichkeit ist ein Zeichen unserer Zeit. Oberflächlich ist es allerdings auch, alle Menschen die auf Querdenkerdemonstrationen mit gehen, als Idioten zu bezeichnen. Die Medien sind es, die immer wieder Menschen mit idiotischen Denkansätzen vor die Kamera ziehen und damit alle anderen diffamieren, die mit den dort geäußerten Thesen nichts am Hut haben. Irgendwo ist ja immer ein Körnchen Wahrheit drin. Eine offene Diskussion über Corona und die getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung findet bezeichnenderweise nur in einem mir bekannten Privatsender statt und das ist servus-tv. In allen anderen Medien gibt es keine Wissenschaftler, die sich gegen die Regierungsbeschlüsse äußern bzw. äußern dürfen. Sie werden erst gar nicht eingeladen. Öffentliche Personen, die sich regierungskritisch äußern, werden kalt gestellt. Deren Lebensleistung zählt nicht mehr, man hackt auf ihnen herum. Man mag es ja für unangemessen, sich gegen den Mainstream zu stellen, wo doch auch die Bevölkerung in Blitz-Umfragen so zufrieden mit der Regierung ist. Eine Demokratie muss aber auch abweichende Meinungen aushalten. Jeder, der in den asozialen Medien unterwegs ist, weiß zudem, dass die gute Kinderstube dort kein Zuhause hat. Das gilt sowohl für die Befürworter der Maßnahmen als auch für deren Gegner. Es ist ein Leichtes über eine Jana aus Kassel herzuziehen, ebenso leicht wie sich gegen die Querdenker zu stellen. Wir können uns auch über Trump amüsieren, all das ist nicht gefährlich. Wie sehe es aus, wenn man sich gegen den Extremismus religiöser Prägung stellen würde? Gäbe es da auch Liebesgedichte von Frau Bosetti?  Satire, denke ich darf überzeichnen, sie sollte aber da halt machen, wo Menschen Opfer ihrer eigenen Inkompetenz sind. Ansonsten macht man sich dem schuldig, was man den privaten Fernsehsendern vorwirft. Man zieht Menschen durch den sprichwörtlichen Kakao. 

Montag, 19. Oktober 2020

Der Ullrich kommt

Der Ullrich kommt hieß es früher zuhause. Da kam ein alter Mann mit Baskenmütze und abgetragenem braunen Mantel. Er brachte eine Butterbrotstüte gefüllt mit Keksen mit und mir in der Regel viel Arbeit. Zwei Jahre mußte ich nachmittags sofort nach dem Essen meine Schulaufgaben machen, unter seiner Aufsicht und mit Nachhilfe, wenn ich nicht alles verstanden hatte. Nach zwei Jahren war ich aus dem gröbsten raus. Die Kurzschuljahre komprimierten den Stoff und da ich eher die Tendenz hatte, in der Schule nichts zu lernen und das später zuhause nachzuholen, weiß ich nicht, ob ich es ohne Ullrich geschafft hätte. Bei Ullrich mußte alles gleich klappen, sonst wurde er nervös. Er zitterte und heulte auch schon mal. Also strengte ich mich an. Ich war ja schließlich sein Jüngelchen. Ullrich hatte sich seit meiner Geburt in den Kopf gesetzt, mich zu unterstützen. Das wurde zwar gern angenommen, aber nicht unbedingt von meinen Eltern gern gesehen. 

Ullrich hieß eigentlich Rudolph Ullrich und war 1899 irgendwo bei Eisenach in Thüringen geboren. Er kam aus ärmlichen Verhältnissen. Erwerbsquelle war wohl die Stoffherstellung, es gab Jutespinnereien. Er war zu eigentlich zu jung für den 1. Weltkrieg. Aber weil das Vaterland rief, wurde ihm das Abitur früher geschenkt und er durfte einrücken. Er kämpfte an der Westfront und bekam Tapferkeitsauszeichnungen. Irgendwann war dann der Krieg zu Ende, ohne das es an der Front jemand richtig gemerkt hätte. Aus dieser Zeit stammen wohl seine Aussprüche von einem Kriegskameraden: "Henner, ducke Dich, es kimmet 'ne Granate" (Heinrich, ducke Dich, es kommt eine Granate) und "Vom Arsch die Brie", was eine Verunstaltung des französischen "Frommage de Brie" sein sollte. Mehr Französischkenntnisse brauchte er als Landser wohl nicht. Der Hunger muß das Wesentliche seiner jungen Jahre gewesen sein. Es gab nichts zu essen, dafür die Inflation nach dem Krieg und neben den Tapferkeitsauszeichnungen hatte er Papiergeld aus jener Zeit in einer alten Schachtel gesammelt. Ullrich war ein Selfmademan. Er arbeitete sich hoch und war es gewohnt, mit dem Rechenschieber umzugehen. Er hatte eine Schwester und später eine Nichte. Er verließ Kassel aus beruflichen Gründen und verbrachte eine Zeit in Neuß am Rhein und später in Amerika. Darüber erzählte er nicht viel. Von Beruf war er nun Textilingenieur. Ob es je eine Frau in seinem Leben gab, wußten wir nicht. Es ist zu vermuten, denn er war ein wütender Gegner der Nazis, später Sozialdemokrat. Gleichwohl war er kein Widerstandskämpfer. Auch in den zweiten Weltkrieg wurde er später noch eingezogen. Aus der Zeit hatte er später noch hellbraune Notizzettel mit einem Soldatenkopf, die er wohl bis zu seinem Tode benutzte. Er sagte mir immer: lerne alles, was Du lernen mußt, vor 40. Danach fällt das Lernen schwer. Den Spruch "safety first" benutzte er häufig.

Safety ließ er bei seinen Bekannten allerdings oft außer Acht, denn in seinen späten Jahren lieh er oft Geld an Leute, ohne es wieder zubekommen. So unterstützte er einen holländischen Handwerker, der sich selbständig machen wollte. Der verschwand mit seinem Geld. Meinen Vater lernte Ullrich 1954/55 kennen. Zu der Zeit war er  bei der Kurhessischen Milchverwertung in besserer Position angestellt. Er verhalf meinem Vater zu einer Ausbildung als Kesselheizer. Er stopfte finanzielle Löcher unsere jungen Familie immer wieder, mein Vater besuchte ihn oft, selten wohl ohne Geld zu bekommen. Ullrich wohnte in einem Haus in absoluter Waldrandlage mit Straßenbahnanschluß in die Stadt. Noch heute erinnere ich mich gern an die schöne Umgebung und den Gesang der Vögel. Anfangs wohnte Ullrich mit seinem Vater dort, der dann verstarb und in Wahlershausen bei Kassel zusammen mit der bereits verstorbenen Mutter beerdigt wurde. Mit gegenüber war Ullrich wie ein Vater in geistiger Hinsicht, das ganze Gegenteil meiner Eltern. Extrem genußfeindlich, sparsam und ehrgeizig. Er suchte nach einer privaten Absicherung für sein Alter und kaufte ein Haus ein weiteres Haus für sich, in das wir alle einziehen sollten. Das hielt aber nur für zwei Jahre. Dann gab es von meiner Mutter mit geschürte Streitigkeiten zwischen meinem Vater und Ullrich. Wir zogen in eine 3-Zimmer-Neubau-Wohung vor den Toren der Stadt um, in der meine Eltern heute noch leben. Ich fühlte mich da nie heimisch. Verstanden hat den Umzug von unseren Eltern niemand. Mir, aber insbesondere meinem jüngeren Bruder, hat er schwer geschadet. Ullrich verkaufte das Haus für nicht viel Geld. Er legte Wert darauf, daß ich Englisch lerne und finanzierte mir aufwendige Sprachferien zunächst in Feldafing. Dabei reiste ich mit ihm allein durch Bayern, er quartierte sich in einem Frühstückszimmer ein. Wir fuhren zum Kochel- und Walchensee und besichtigten Schloß Linderhof. Das erste Mal sah ich etwas anderes als die unmittelbare Umgebung von Kassel. 1970 flog ich sogar nach England zu einem Sprachaufenthalt bei einer englischen Familie, desgleichen 1972 mit dem Zug. Auf die Neidgefühle meines Bruders wurde da wenig Rücksicht genommen. Meine schulische Bildung stand schließlich unserem Familienleben entgegen. Es war der Beginn der Entfremdung. Mit wem sollte ich über meine Eindrücke sprechen ? Mit Ullrich am ehesten, er war wie ich kein Bildungsbürger und hatte eher ein praktisches Denken an sich. Er beschäftigte sich mit der Technik und glaubte an den Fortschritt durch Prozessoren. Er war ratend zur Stelle, was meine weitere Schulbildung nach der Mittleren Reife anging. Er befürwortete die Fachoberschule für Wirtschaft, während ich mich relativ eigenständig für das Wirtschaftsgymnasium entschied. Wir unterhielten uns über aktuelle politische Themen, während er mal wieder mit einem Löffel die letzten Kekskrümel aus der Butterbrotstüte aß. In den Siebzigern wendete sich das Blatt immer mehr zu seinen Ungunsten. Die Schwester starb, der Schwager später. Ullrich quartierte sich in einem Wohnheim mit ärztlicher Betreuung ein. In seinem 1-Zimmer-Appartment sahen wir uns regelmäßig. Ullrich nähte sogar Hosen. Ich verlangte nie Geld, brauchte aber welches. Ein zweiter schwerer Herzinfarkt brachte ihn ins Krankenhaus, wo ich ihn besuchte.  Später wurde ihm Leukämie diagnostiziert. Ein Standardsatz von ihm war, "wenn ich dann noch lebe". Er beschäftigte sich oft mit seinem Ableben und er hatte Angst. Manchmal konnte er den ganzen Tag mit niemanden reden. Eine Frau Köhler kam und umsorgte ihn ein bißchen. Ullrich hatte viele alte Goethe- und Schillerbände vom Ende des 19. Jahrhunderts, überhaupt viele alte Bücher. Die sollte ich später bekommen. Doch daraus wurde nichts. Nachdem ich den Wehrdienst hinter mir hatte und das erste Geld verdiente, gab es zuhause Spannungen. Mein Vater verlangte von mir, daß ich mein ganzes Geld abgeben sollte und wollte mir ein Taschengeld zu teilen. Ich war müde von seinen  Schikanen während meiner Bundeswehrzeit. Ich wollte weg, und wieder war es Ullrich der das ermöglichte, wir fuhren zu ihm und fragten, ob er mich während meiner Lehrzeit unterstützen würde, in finanzieller Hinsicht so, das ich ein eigenes möbliertes Zimmer würde mieten können. Er tat das und regelte das testamentarisch. So zog ich mit einem festen monatlichen Zuschuß von zuhause aus. Das Ende meiner Lehrzeit und den erfolgreichen Abschluß meiner Buchhändlerlehre erlebte Ullrich nicht mehr. Er unterstützte noch finanziell meinen Besuch der Buchhändlerschule in Frankfurt, ein Jahr bevor ich selbst aus beruflichen Gründen Kassel in diese Richtung verließ. Ich pendelte zwischen meiner möblierten Eigenständigkeit und meinem Elternhaus, wo ich sonntags das Essen aus meinem Zuschuß von Ullrich bezahlen mußte, den Studentenkneipen und Ullrichs Appartment hin und her. Die Besuche bei ihm fielen mir nicht immer leicht, erlebte ich doch sowas wie das erste Aufblühen eines lockereren Daseins. Seine verknöchert wirkende Art, das Leben zu beurteilen, machte es nicht leicht für mich. Manchmal ertappte ich mich dabei, daß ich nur noch wegen irgendwelcher Zuwendungen, die ich nie erforderte, zu ihm fuhr. Manchmal sagte ich auch Besuche ab, einmal sogar schriftlich, um ihm einen neuen Termin mitzuteilen. Als ich an jenem Tag zu ihm kam, war alles anders: die Tür war versiegelt und ich mußte wieder gehen. Ich erfuhr über meine Eltern, daß Ullrich tot war. Tot, gefunden am Grab seiner Mutter, wahrscheinlich hatte er seine lebensnotwendigen Medikamente abgesetzt. Der Verdacht auf  Selbstmord war für den Zustand seiner Tür verantwortlich. Später durften mein Vater, mein Bruder und ich noch in die Wohnung, um irgendwelche Gegenstände, die wir gebrauchen konnten, mitzunehmen. Bei der Trauerfeier anlässlich seiner Verbrennung war ich der einzige Anwesende meiner Familie. Es war für lange Zeit der einzige Anlass dieser Art, an dem ich teilnahm. Seine Verwandtschaft in Gestalt der Familie seiner Nichte war anwesend, aber ich kannte sie nicht. Ullrich hatte immer davon gesprochen, mich mit Jackie, der Tochter bekanntzumachen. Ab und zu kamen sie ja nach Deutschland, aber irgendwie klappte es nie. Ich hörte hinterher nur über Frau Köhler, daß die Äußerung gefallen sei, man hätte den jungen Mann, der soviel von Ullrich profitiert hatte, gern kennengelernt. Geblieben ist mir ein alter Wecker der Fa. Müller aus Neuss am Rhein, eine alte Schreibmaschine mit RM-Taste und ein paar Seiten aus einem uralten Atlas sowie ein altes Reklamheft. Beim Durchstöbern der Wohnung fiel meinem Bruder eine Lampe auf den Kopf, ich nehme an, ohne großen Schaden. Alles andere war schon weg. Meine letzte Karte an ihn lag in der Wohnung. Er mußte sie erhalten haben, stillschweigend steckte ich sie ein. Außer Erinnerung bleibt nichts mehr. Die Postkarte ist weg. Der Anwalt. der früher in seinem Haus in der Hugo-Preuss-Str. als Mieter gewohnt hatte, regelte seinen Nachlass. Bis zum letzten Monat meiner Lehre bekam ich Unterstützung, drei Monate später zog ich weg. Wenn bei meinen Eltern von Ullrich geredet wird, dann nicht gut. Seine Nervosität erregte Spott, seine Unterstützung betrachteten meinen Eltern als selbstverständlich. Er hatte ja genug Geld, so als hätte er es sich nicht verdient. In Frankfurt verlor ich einen Teil meiner geringen persönlichen Habe beim Auszug aus meiner Jungesellenbude in die erste gemeinsame Wohnung mit meiner späteren Frau, unser VW-Bus wurde aufgeknackt, die Diebe haben wohl auch die Postkarte an Ullrich ganz einfach weggeschmissen. Nach vielen Jahren suchte ich das Urnengrab von Ullrich auf dem Kasseler Hauptfriedhof. Dort liegt er wohl garnicht, sondern in Wahlershausen. So verschwindet er mit einer gewissen Spurlosigkeit und wer bin ich ?      

Wenn Rudi diesen Text lesen könnte, würde er vielleicht mit einem Ausdruck des Erstaunens sagen: Du bist ja ein ricbtiger Künstler, oder seufzen: wenn ich noch leben würde. Aber vielleicht stenografiert er seine Korrekturen auch und ich habe so keine Chance, die Korrekturen zu erledigen. Du warst gegen meine Buchhändlerlaufbahn.


Samstag, 19. September 2020

MyLife 1971 - 1974

 Mittlere Reife und Wirtschaftsabitur / Wehrdienst 

Bis zur Abschlussfeier unserer Realschulklasse war ich bereits mit meinem ersten handschriftlichen Teil, der sich mit dem Erlebten von in 1955 bis hierhin beschäftigte, gekommen. 

Diese fand in der Wohnung unserer Klassenlehrerin, Frl. Schäfer, in der Kölnischen Straße statt. Sie war eine blonde, hochgewachsene, Frau, die viel von meiner Intelligenz hielt. Ich solle doch mein Wissen preis geben. Nur ich wusste allerdings, dass ich gar nicht soviel wusste. Mündlich war ich sowieso nicht stark und beschränkte mich auf das Notwendige. Ich war also schüchtern und zurückhaltend und auch meine Eltern trauten mir die Knutscherei mit Mädchen nicht zu, die am Abend des 10. Juli stattgefunden hatte. Ich jedenfalls war selig, obwohl mir ein Kamerad ein Bein in den weg gestellt hatte, als ich in ein anderes Zimmer von Fräulein Schäfers Wohnung eindringen wollte. Aber das mit dem Bein im Weg sollte mir in meinem Leben noch öfter passieren. Der Täter jedenfalls gehörte nicht zu den Jungen, die ohne Hemd küssenderweise von den Mädchen geduldet wurden. Dafür beobachtete mich der dicke Kerl in den nächsten Jahren immer, wenn ich von der elterlichen Wohnung zur Bushaltestelle ging. Er hing dann immer am Fenster einer Wohnung in der Meißnerstrasse in Helleböhn. 

Da meine Eltern mich abholten, verließ ich die Wohnung von Fräulein Schäfer allein und sollte das Fräulein (so nannte man früher Frauen, die unverheiratet waren) jedenfalls nicht wieder sehen. Die Klasse 10c, zu der ich gehörte, hatte geschlossen die Empfehlung für das Gymnasium bekommen. Die meisten entschieden sich für das humanistische Friedrichsgymnasium in Kassel. Ich dagegen wollte, auch nach Anraten meines Mentors Rudolf Ullrich, das Wirtschaftsgymnasium beglücken.

Doch zuvor kamen die langen Sommerferien und die Gewissheit, dass ich meine einmalig geküsste Jugendliebe Cony nicht wiedersehen würde. Liebeskummer kann qualvoll sein, vor allem wenn man dazu noch einen autoritären Vater hat, der die Familie in Angst und Schrecken versetzte, wenn er nach hause kam. Vater war nicht begeistert von meinen Plänen, auf ein Gymnasiums zu gehen, Mutter dagegen protzte mit meiner angeblichen Intelligenz bei ihrer in Mainz lebenden Familie herum.

Was ich nicht wusste, dass war, dass alle meine Mitschüler von der Realschule beim Friedrichsgymnasium  bereits als geieignet gemeldet waren und daher nicht in eine Aufnahmeprüfung mussten. Ich dagegen sollte mich erst Einer solchen Prüfung stellen, da keine Empfehlung für mich bei der Friedrich-List-Schule vorlag. Ich saß also in dieser Prüfung, hatte bereits ein schlechtes Gefühl, als plötzlich die Tür aufging und der Direktor der Schule, Herr Reichelt, mich aus dem Raum holte. Warum ich denn nicht gesagt hätte, dass meine Realschule mir attestiert hatte, dass ich für das Gymansium qualifiziert sei. Man habe dies von meiner Schule erfahren. Warum sie mit meiner Schule, der Anette-von-Troste Hülshoff-Schule, Kontakt aufgenommen hatten, war mit schleierhaft. Wenn ich heute so drüber nachdenke, war es vermutlich dem Umstand zu verdanken, dass meine Mitschülerin Cony ebenfalls das Wirtschaftsgymnasium besuchte, was ich bald erfahren sollte. Konnte ich mir was darauf einbilden? 

Meine Eltern räumten für die Dauer meiner Gymnasialzeit ihr Schlafzimmer und schliefen im Wohnzimmer. Jeden Abend klappten sie dort die Wohnzimmercouch aus. Trotz allem vorgegebenen Stolz schickte mich meine Mutter zum Einkaufen. In erster Linie waren dies Alkohol und Zigaretten, so wie früher aber in steigender Menge. Aber zunächst mal war ich froh, mich zurück ziehen zu können, denn mein jüngerer Bruder klebte wie eine Klette an mir, konnte aber manchmal auch recht aggressiv werden.

In „meinem Zimmer“stand nun eine Musiktruhe, Radio, Plattenspieler und Fernsehen in einem und Stereo. es entstanden hier viele meiner Bleistiftzeichnungen und auch Tagebucheinträge. Später hatte ich dann noch einen aufklappbaren Plattenspieler. Da hörte ich meine Musik. Ein Bekannter meiner Eltern meinte, das sei keine Musik. 



Aus England hatte ich eine Doppel-LP der Beatles mitgebracht. Die hörte ich sehr gern und versetzte mich dabei gern in die Rolle eines Sängers, George Harrison war mein Favorit. Naturgemäß hatte mich die Auflösung der Beatles getroffen. Mittlerweile ich war aber auch bei Deep Purple gelandet (Fireball). Soul und Blues waren ebenfalls auf meinem Programm. Die englischen Texte der Songs brachten meine ohnehin vorhandene Affinität zur englischen Sprache voran. So war dies neben Geschichte das einzige Hauptfach, in dem ich mit einer Zwei benotet wurde. Das es keine Eins wurde, das lag an meinem verhaltenen mündlichen Fähigkeiten. Während andere Mitschüler einfach drauf los plapperten, meldete ich mich nur, wenn ich ganz sicher war, das Richtige zu sagen, Leider waren sich dann meistens auch andere sicher. Sicher war ich mir auch in Bezug auf  Conny nicht. Sie wurde von vielen umschwärmt, was mich misstrauisch machte. Es war natürlich kein Wunder, dass alle sie ansahen. Ihre frauliche Figur kam in Hotpants und Overknee-Stiefeln sehr gut zum Tragen. Dazu blonde und später grau gefärbte Haare, geht für einen pubertierenden Jungen mehr? Wir flirteten fast drei Jahre lang mit den Augen und so mancher Blick hat mich getötet. Es brachte mich jedoch nicht dazu, sie anzusprechen. Auch als sie mal bei einer Wanderung hinter mir zum Ausdruck brachte, dass sie einen Jungen aus ärmeren Verhältnissen nehmen würde, gab mir das nicht mehr Selbstbewusstsein. Sie hat das aus ihrer Sicht mit Recht später kritisiert, ja gebrandmarkt. Klar war nur eins, die meisten Mitschüler kamen aus besseren Verhältnissen als ich. Sie als Tochter eines Bauunternehmers interessierte sich und schrieb einmal über Bertolt Brecht, Die heilige Johanna der Schlachthöfe. Das imponierte mir sehr. 

Nach sechs Stunden Schule kam ich meistens völlig kaputt und hungrig zuhause an. Manchmal ging ich jedoch mit zwei Schulkameraden in die Stadt zum Poolbilliardspielen. Sie wurden mir zu Freunden fast bis zum Ende meiner Kasseler Zeit. Beide kamen aus einfacheren Verhältnissen. Bernd O. hatte jedoch den Vorteil, Einzelkind zu sein. Gerhard T. ebenfalls. Wir hatten einige ältere Schüler in unserer Klasse, die über den zweiten Bildungsweg (Hessenkolleg) die Mittlere Reife gemacht hatten. Sie waren rhetorisch meist vorn, kamen aber als Freunde kaum in Frage.

Unsere Lehrer waren ein Stück Zeitgeschichte. Der Direx Reichelt gab ab und zu noch Unterricht in kaufmännischen Rechnen, Er empfahl uns nebenbei, wenn wir mal einen guten Rotwein trinken wollten, den Château-Neuf-du-Pape, was uns damals noch nicht sehr interessierte. Zu den älteren Lehren zählte auch Dr. Arnold. Er unterrichtete Volkswirtschaftslehre und war Buchautor. Wenn er mal keine Lust hatte, ließ er uns einfach in seinem Buch lesen, während er vorn am Pult vor sich hin dämmerte. Das waren Stunden der leichteren Art. In Deutsch hatte ich ein besonderes Kaliber: Herr Maraun. Der wird mir auf immer in Erinnerung bleiben mit der bedeutsamen Frage: „Sind Sie eigentlich so blöd oder tun Sie nur so?“ Tja, schwere Frage. Aber damit waren die Weichen gestellt. Ich tänzelte am Abgrund, denn ich war stets in Gefahr, eine Fünf zu kassieren und ich auch in Mathe schlecht stand, waren Versetzung und Abi immer gefährdet. Die gute Mann spielte im übrigen Orgel nach eigenem Bekunden in einer ebenfalls eigenen Kapelle. Aber er wurde übertroffen von unserem Mathelehrer Hugo Habicht, so nannten wir ihn wegen seinem Haarkranz. Den richtigen Namen habe ich vergessen. Im letzten Schuljahr vergaß ich nie, das Klassenzimmer zu verlassen, wenn Mathe auf dem Plan stand, was in den letzten Zeugnissen mit einer Fünf belohnt wurde. Der Lehrer hatte kein pädagogisches Talent und auch nicht den Willen, schlechteren Schülern etwas beizubringen, einfach langweilig diese Dialoge mit seinen Lieblingsshülern. Besser lief es für mich in BWL. Hier hatte ein Herr Schmidt mit Kinnbart das Sagen und er ließ uns an seinen sozialdemokratisch geprägten Ansichten über die Wirtschaft teilhaben. Obwohl auch BWL sehr mathematisch sein kann, kam ich gut mit und es reichte für eine Drei im Abiturzeugnis. Ein anderes Hauptfach lag mir noch besser: Englisch. Obwohl ich von Grammatik wenig begriff, machte ich gefühlsmäßig vieles richtig. Vor allem meine Aussprache war gut, das merkte auch Frau Wächter, bei der wir auch Geschichte hatten. Meine Auslandsaufenthalte in England, zuletzt 1972, waren also doch nützlich. Finanziert hatte sie Rudolf Ullrich, für uns in der Familie „der Ullrich“. Er war von Beruf Ingenieur, Selfmademan mit Kontakt nach USA. Seine Nichte Jackie (lebte mit ihrer Familie in Detroit) wollte er mir gern vorstellen, zu sehen bekommen habe ich sie nie. Dafür hatte ich neben Englisch in der Ferienschule in Poole/England die kurzen Röcke der Frau meiner Gastgeberfamilie gesehen. Aber das ist eine andere Geschichte. Geschichte wurde ebenfalls von Frau Wächter unterrichtet und immerhin kamen wir bis zum Ersten Weltkrieg und ich zu einer weiteren Zwei im Abi. Aus Quellen der Bundeszentrale für politische Bildung konnten wir im Unterricht heraus arbeiten, dass Kaiser Wilhelm II. ganz offensichtlich den Krieg wollte und das deutsche Reich somit nicht einfach so herein geschlittert ist. Die Auswertung der einzelnen Quellen fand ich sehr aufschlussreich, dieErkenntnis war für die Siebziger Jahre nicht so selbstverständlich. Meine Hausarbeit für das Abitur schrieb ich über „Die Emanzipation der Afroamerikanier durch ein sozialistisches System“. Das sollte mir später nicht nützen. Es entsprach durchaus dem Geist der Zeit, sich für Mindeheiten einzusetzen und die Geschehnisse in den USA beschäftigten mich sehr. Ich las Eldridge Cleaver, Soul on Ice etc. 

Da baute ich nun mit der Durchschnittsnote 3,4 mein Wirtschaftsabitur. Das brachte mir die allgemeine Hochschulreife ein und eine ungewisse Zukunft. Krasser als mein schulisches Dasein konnte ein Unterschied zum Leben zuhause nicht sein. Mein Vater schwärmte bereits vom Barras für mich und der Kampf um meine langen Haare sollte bald entschieden werden. Als Soldat müsste ich mir die Haare schneiden lassen. Bereits im Mai 1974 endete mein Schülerdasein und auch das mir großzügig überlassene  Elternschlafzimmer ging wieder in die eigentliche Bestimmung über. Trotz aller Schwierigkeiten, die ich zuhause hatte, wollte ich auch als Rekrut in Kassel bleiben und stellte einen Heimschläferantrag, der auch genehmigt wurde. Gemustert war ich bereits und leider auch für tauglich befunden. Warum einem dabei in den Hintern geguckt wurde, ist mir bis heute schleierhaft. Die Bundeswehr glaubte, aus Abiturienten Offiziere machen zu können. Wenn sie mein sportliches Unvermögen gesehen hätten, wäre ihnen dieses Unterfangen komisch vorgekommen. Im Sportabitur brauchte ich für 3000m über 25 Minuten und mir war am Ende schwarz vor Augen.

Die Zeiten waren also ungewiß für Mischung die Zeit sollte noch einmal stehen bleiben, als sich unsere Abiturklasse noch einmal traf. Ich wußte, dass dies unwiderruflich das letzte Mal war, dass ich Conny sehen würde. Wir saßen in großer Runde, fast wie im Klassenzimmer in einem separaten Raum eines Lokals an der Querallee. Der Abend war schon fortgeschritten, Alkohol genug getrunken, als irgendwann ein Satz von ihr fiel, der mich traf. „Das Schwein ist ja so unauffällig.“ Wenn es ironisch oder enttäuscht gemeint war, ich konnte damals nichts damit anfangen. Sehr schnell verließ ich den Ort meiner Blamage und flüchtete nach hause, wo mich mein Vater später mit offenen Augen schlafend im Bett liegend fand. Bei Licht..Mein Liebesgebäude war eingestürzt, sie hatte mich lächerlich gemacht. Ich war nicht mehr der große Held, der Liebende im Hintergrund, der aus was?  wartete. Ich war ein harmloser Trottel. Das änderte in der Folgezeit nichts an einer vagen Hoffnung des Wiedersehens, die sich erst mit den Jahren legte. 

Mein Vater indes schuf wieder einmal Tatsachen: „Du bleibst in der Kaserne.“ Damit war die Heimschäferei vom Tisch. Nur am Wochenende durfte ich kommen. So zog ich denn am 1.7.1974 in die Lüttich-Kaserne Kassel, in der nur ein paar Jahre zuvor noch belgische Soldaten stationiert waren. Eine dreimonatige Grundausbildung bei den Funkern stand an. 

Diese Ausbildung sollte sich schon bald als für mich ungeeignet erweisen. Hatte ich mich gerade damit abgefunden, meine Individualität in der Kleiderkammer abgegeben zu haben und die Haare kontrolliert kurz tragen zu müssen, fehlte mir beim ein oder anderen körperlichen Drill die Kraft. Ich konnte nicht eine Holzwand hoch steigen und auf der anderen Seite herunter springen, geschweige denn mich irgendwo hoch ziehen. Ein Ausbilder formulierte das mal so: „Dreyer, irgendein Klops ist immer dabei.“. Neben den verschiedensten Leibesübungen, gern auch im Gelände der naheliegenden Dönche, wurden wir an fast allen Waffen, inklusive der Panzerfaust ausgebildet. Die Standardwaffe war jedoch das Schnellfeuergewehr G3, dass auch auf Einzelschuss eingestellt werden konnte. Das spielte bald eine tragende Rolle. Als wir auf dem Truppenübungsplatz in Schwarzenborn ein Nachtschießen mit dem Infrarotzielgerät durchführten, machte mich der Aufseher am Schießstand derart nervös, dass ich einen Handgriff vergaß und das Gewehr nicht gesichert, aber mit scharfer Munition geladen war. Die Folge war, dass sich ein Schuss in die Dunkelheit löste. Schreckensbleich kam der Unteroffizier aus dem Dunkel gerannt, der war gerade mit dem Auswerten der Schießergebnisse an der Scheibe beschäftigt gewesen. Ich wurde nun zur Sau gemacht, nicht etwa die Aufsicht. Zur Strafe durfte ich nun Wache schieben, damit war ich noch gut bedient. Aber meine Karriere als Funker war nach der Grundausbildung vorbei. Ich wurde zum Jägerbatallion 42 in die Wittichkaserne versetzt und tauschte das Schiffchen gegen ein grünes Barett ein. Mein Vater hätte mich zu gern in der Ausgehuniform gesehen, die ich  gezwungenermaßen bei der Formalausbildung tragen musste. Über den Sinn mancher militärischen Gebräuche bin ich mir im Grunde bis heute nicht im Klaren. Zwar fand ich den Radetzkymarsch toll, wenn er in alten Filmen gespielt wurde und vor allem die Idee und vollem Wichs mit der ganzen marschierenden Truppe manches Mädchenherz zu begeistern, aber in der Realität erschien mir das alles sehr nervend. Vater selbst war nie beim Militär. Als Jahrgang 1929 hatte er das Glück, nicht mehr in Hitlers letztes Aufgebot berufen zu werden. Seine beiden Halbbrüder jedoch, dienten beide. Der Lieblingsbruder Wolfgang, dessen Name ich trage, liegt am Gardasee auf dem Soldatenfriedhof in Costermano begraben. Er fiel nach einer Verletzung, die er bei der Schlacht um Monte Cassino erlitten hatte, einem alliierten Bombenangriff in einem Krankenhaus in Rom zum Opfer. Während der überlebende Bruder seine Kriegserlebnisse durchaus melancholisch vearbeitete, in dem er ein Gedicht dazu schrieb, war die Begeisterung meines Vaters für das Militär ungebrochen. So war sein Ansinnen, dass ich mich verpflichten sollte, nur logisch. Doch da fiel mir eine patente Lösung ein. Ich behauptete einfach, ich hätte wegen einer Verpflichtung als Zeitsoldat nachgefragt, man hätte dies aber abgelehnt Vater glaubte das, sein Vertrauen in mich war sowieso nicht besonders. 

Meine soldatische Wirklichkeit stand im krassen Gegensatz zu seinen Vorstellungen. „Tapfer und Treu“ war das Motto des Jägerbatallions 42, dem Verein, dem ich bis zum Ende meiner Dienstzeit angehören sollte. Die Jäger waren laut Theorie eine Eliteeinheit, die hinter den feindlichen Linien operieren sollte. In der Praxis waren es die „Spatenpaulis“, die so genannt wurden, weil sie ständig im Gelände unterwegs waren. Entsprechend körperlich gebaut waren die meisten Kameraden, nur leider war der Verstand weniger ausgeprägt vorhanden. „Kung-Fu Fighting“ war ein Hit des Jahres und das war das, was viele auch wollten. In der Gesellschaft dieser Keuler ging meine Seele vollends baden. Mich als langen Lulatsch hatte nan schnell zum MG-Schützen auserkoren. Mit dem MG3 auf der Schulter ging es oft durch die Wälder rings um Kassel. Zu mehrtägigen Übungen wurde oft herausgefahren. Die in der Kaserne gebliebene Besatzung hatte dann oft mit scharfer Munition Wache zu stehen. Beides begeisterte mich nicht besonders. 

Ich war froh, in meiner knappen Freizeit, noch den Kontakt zu meinen beiden Kumpels Bernd und Gerhard T. zu haben. Wir wollten Bluesmusik machen und Bernd war so etwas wie der Leader der Truppe.

Inoffiziell hatten wir den Namen „Blues Unlimited“ und spielten in einem Raum über einer Autowerkstatt in der Weserstraße. Musiker wie John Mayall oder Alexis Korner war unsere Heroes. Und damit war meine Lebensrealität anno 1974 weit weg von irgendwelchen Kasernen.







 




Montag, 13. April 2015

Mäh sin mäh

Ab und zu kommt Kassel auch in den Medien mal vor. Wenn, dann leider nicht immer besonders vorteilhaft. Das beruhigt mich auch ein bisschen, denn es zeigt mir, dass sich seit meiner Zeit dort kaum etwas geändert hat. Eine Shopping-Queen wurde nun in Kassel gekürt, was immerhin angenehmer ist, als sich die Frage zu stellen, wer den schmierigen Herrn Szieleit aus dem Leben befördert hat.
Kurzum, die vier Kandidatinnen verkörperten Prototypen Ihres Gattung. Der Kassel-Faktor verstärkte dies dann eindrucksvoll. Da hätten wir die klassische Provinzblondine, der das hier verkürzt genannte Motto "Frühlingsrock" einfach am hübschen Allerwertesten vorbei saust. Schwarz geht immer, sagt sie und nimmt den schwarzen engen Leder-Rock. Auch nach der schlechtesten Bewertung findet sie sich noch gut. Dann wäre da noch die Frau mit der lila Brille und den fisseligen, rot gefärbten, Haaren. Eine Pädagogin, die in ihrer eigenen, selbst geschaffenen, Welt lebt. Sie schreckt vor keiner Farbe zurück, was sie offenbar hip findet. Mir fällt es schwer zu beurteilen, welche Eigenschaft bei ihr im Vordergrund steht: Arroganz oder Ignoranz.
Dann wäre da noch das zunächst anrührend wirkende Heimchen am Herd, das zunächst ihrer Familie die Hose anzuhaben scheint. Im Kaufhaus allerdings ergibt sie sich jedem Kleidungsvorschlag der angesetzten Verkäuferin (schließlich weiß jedes Geschäft in Kassel, dass das Shopping-Queen Auto in der Stadt ist)  mit einem hastig gesprochenen "Nehm' ich", was nur noch durch ein "Nehm' ich auch" zu steigern ist.
Am normalsten gebärdet sich noch die scheinbar verrückteste Kandidatin im Contest. Die verspätete geborene Hippietante und Feenliebhaberin schaffte es als einzige der Frauen, das gewünschte Motto im eigenen Stil umzusetzen. Den Sieg verdankte sie jedoch dem Votum des Messias Guido. Denn die Frauen hatten sich gegenseitig nicht zu viele Punkte gegönnt, allen voran selbstredend die Pädagogin. Geiz ist eben eine Eigenschaft, die in Kassel gepflegt wird.
Was bleibt: sicher wird man die locker flockig gemeinten Off-Kommentare der Sendung, soweit sie Kassel allgemein betreffen, in Kassel kritisch kommentieren. Über Seitenhiebe schrieb die hna.
Aber wozu die Aufregung? Kassel ist ein Dorf mit Straßenbahn, das wussten schon die alten Kasselaner, aber "Mäh sind mäh".
   

Donnerstag, 5. März 2015

Biographische Notizen zu meinem Bruder - oder Michael ist größer als ich

Mein Bruder heißt Frank und wurde am 24.1.1962 geboren. Zu der Zeit lebten wir in der Kasseler Hansastraße in der Nähe des Bebelplatzes. An der Ecke des Bebelplatzes befand sich noch ein Trümmer - Grundstück, das vom Zweiten Weltkrieg übrig geblieben war. Frank kam als Hausgeburt zur Welt. Meine Mutter hatte bereits vor Ihrer Schwangerschaft mit dem regelmäßig en Trinken einer Dreiviertel-Liter-Flasche Wein angefangen. Zuckerwürfel wurden heraus gelegt, damit der Klapperstorch ein Kind bringen sollte. Mir war das gar nicht so recht, fühlte ich mich doch als Mutters Liebling ganz wohl. Immerhin durfte ich ihr die Haare kämmen. Als das Baby dann da war, reagierte ich entsprechend verhalten.
Unsere Tage in der Hansastraße waren damit auch gezählt. Obwohl ich erst sechs Jahre alt war, musste ich morgens vor der Schule schon Fleischsalat, Brötchen und die Bild-Zeitung holen. Einmal passte ich dabei nicht auf und hatte einen Scheinwerfer eines Autos in meiner Kniekehle, ohne das mir viel passiert waere. Früh schon habe ich mich als Dienstleister betätigt. Meine Welt war vom Herumlaufen draußen (bis zum Tannnenwäldchen führten mich meine Wege) und den beiden,, wie ich fand, schönen Kirchen in unserer Umgebung geprägt. Da war die katholische Kirche am Bebelplatz uns gegenüber und die weiter entfernte Kirche mit dem grünen Dach die Friedenskirche. Erst spät habe ich erfahren, dass ich dort getauft wurde. Mein Vater konnte sich daran nicht mehr erinnern.
Ein Freund unserer Familie und ehemaliger Chef meines Vaters hatte beschlossen, sein
Leben mit unserem enger zu verknüpfen und sich eine Doppelhaushälfte gekauft, in der er mit uns zusammen alt werden wollte.
Bevor es dazu kam wurde Frank noch als Säugling krank. Da er keine Nahrung bei sich behalten konnte, kam er ins Stadtkrankenhaus. Wir durften ihn, hinter einer Glasscheibe liegend, besichtigen. Er musste künstlich ernährt werden und hatte einen Schlauch in der Nase. Bei seiner Entlassung teilte man den Eltern mit, es sei um Leben und Tod gegangen.
In der Auerstraße nun stand "unser Haus". Im Garten war ein Laufstall aufgebaut, in dem Frank bei gutem Wetter spielen konnte. Er machte zu der Zeit ein leicht mürrisches Gesicht. Mit geballten Händen ist er auf einem Foto zu sehen.
Ich ging derweil nach Schule und Hausaufgaben einkaufen, manchmal spielte ich auch mit einem Freund, dessen Eltern in die neu gebauten Wohnungen des neuen Stadtteils Helleböhn ziehen sollten.
Eines Tages ging Frank mit seinem Vater an der Hand die Treppe hoch zum Schlafzimmer im ersten Stock. Vater hielt ja immer Mittagsschlaf auch aufgrund seiner Schichtarbeit. Kurzzeitig muss er die Hand los gelassen haben, denn Frank fiel rückwärts die Treppe herunter, wobei er jede der einzelnen Stufen mit dem Kopf traf.
Äußerlich war ihm jedoch auch unmittelbar danach nichts an zu merken.
Das mit dem Freund der Familie-Wohnen ging nicht lange gut. Zu oft stand er mit seinem eigenen Schlüssel in unserem Wohnzimmer. Schließlich kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen meinem Vater und ihm, wobei Vater mit der Axt in der Hand im Garten vor ihm stand. Die Zeit der eigenen süßen und sauren Kirschen und der Johannisbeeren war vorbei.
Wir zogen 1965 nach Helleböhn, ein Stadtteil, in dem ich mich nicht zuhause fühlte. Ich hatte zum dritten Mal eine andere Schule zu besuchen und beim Einkauf belästigten mich die "Schlacken",, die einen immer wieder mal hänselten.
Hier begann 1969 auch für Frank der Ernst des Lebens. Es war nicht verwunderlich, dass er ein Jahr zurück gestellt wurde.
Er war in Allem ein bisschen zurück und blieb das auch. Ein Schicksal eines jüngeren Bruders ist es nun einmal, dass er das über nimmt, was der ältere Bruder hinterlässt. Meiner Sammlung von Matchboxautos bekam das nicht gut. Er zerlegte die Autos, ohne sie wieder zusammen setzen zu wollen. Er raufte gern mit mir trotz des großen Altersunterschieds. Ich hatte manches Mal Probleme, ihn unter Kontrolle zu halten. Der gute alte Schwitzkasten leistete mir hier gute Dienste. Meine Mutter wollte sogar gesehen haben, wie ich mit der Handkante schlug. Wie auch immer, ging etwas schief , ich war derjenige, der die Verantwortung trug und die Ohrfeige bekam.
Frank ging auf die Schule im Stadtteil und schnell war mir klar, dass er hier nicht gefördert werden würde.
Aber was hatte ich schon zu sagen, ich kämpfte selbst darum, das Wirtschaftsgymnasium besuchen zu dürfen. Ich war ja nur für die "Mittlere Reife" vorgesehen.
10 Jahre lang sollte seine Schulzeit dauern. Eine Zeit, in der viel passierte. Wir durften, zunächst noch in einem Zimmer, den nächtlichen Auseinandersetzungen meiner Eltern lauschen, die immer durch den Alkoholkonsum bedingt waren. Oft ging die Tür unseres Zimmers auf, ich wurde von meiner Mutter aus dem Bett geholt und durfte Moderator spielen.
Frank war, zumindest wenn mein Vater mich an ging, auf meiner Seite. Er fand das nicht richtig.
Als Gymnasiast bekam ich ein eigenes Zimmer und wir waren das erste Mal getrennt. Frank wäre über all mit mir hin gegangen, nur es war klar, ich würde  immer zahlen müssen. Ich hatte allerdings ganz andere Dinge im Kopf. Mein Abschied von zuhause begann bereits am 1.7.1974 mit der Einberufung zur Bundeswehr. Vater sorgte dafür, dass ich wochentags in der Kaserne schlief. Mit dem Ende meiner Bundeswehrzeit am 30.9.1975 war auch das Ende meiner gemeinsamen Zeit mit Frank gekommen. Die Eltern forderten ihr Schlafzimmer zurück und wg. mir wollte sich Vater auch keine grössere Wohnung nehmen.
So half der Freund der Familie mit einem monatlichen Zuschuss aus und ermöglichte mir den Umzug in ein möbliertes Zimmer. Bereits im Mai 1978 siedelte ich nach Frankfurt am Main um. Frank war nun endgültig allein auf sich gestellt.
Vater wollte aus seinem Sohn etwas machen, ich war ja der ihrige. Anlässlich der Beerdigung meines Großvaters sollte ich nach Kassel fahren, um Frank zu beaufsichtigen, was ich ab lehnte. Ich selbst sollte ja nicht mit und ein Besuch in Frankfurt war auch nicht geplant, obwohl die Eltern meiner Mutter ja in Mainz lebten.
Frank konnte immerhin den Volksschulabschluss nachträglich machen, die Prüfung nahm ihm mein ehemaliger Deutschlehrer von der Realschule ab. 1980 wurde er schließlich zur Bundeswehr eingezogen. Ein Projekt, das mein Vater sehr gern sah, ohne sich zu fragen, wie Frank das schaffen sollte. Es stellte sich heraus, dass Frank den Anforderungen nicht gewachsen war. Er war zu langsam und so etwas toleriert das Militär nicht. Immerhin erkannte man das und musterte Frank aus. 
Nach dem Intermezzo bekam er immerhin beim Volkswagenwerk in Baunatal eine Lehrstelle. 
Spätestens jetzt hätte er mich, was die berufliche Karriere angeht, eingeholt. Doch auch die Lehrzeit stand er nicht durch. Er konnte seine Emotionen nur durch Schreie zum Ausdruck bringen. Vater fuhr mit ihm dann im Auto durch den Wald, die Scheibe wurde herunter gekurbelt und Frank schrie. 
Das war aber nur ein Teil der Aggression, die in ihm steckte. Wenn ein Kind mittags zu laut draußen spielte und Frank lag mittags im Bett, dann stand er auf, ging vor die Haustür, schlug das Kind und kam wieder zurück. Auch Besuch war vor Franks Schlägen nicht gefeit. Als ein Onkel von uns mit seinem Sohn zu Besuch war, schlug er diesen, was den Onkel veranlasste, mitten in der Nacht die Heimreise anzutreten.
Von der Mutter umsorgt, hatte Frank nach seiner abgebrochenen Lehrstelle keine Aufgabe mehr.
Noch heute schwärmt er von den Bratkartoffeln, die ihm die Mutter machte. 1984 jedoch begann seine "Karriere" in psychiatrischen Krankenhäusern im Ludwig-Noll-Krankenhaus. Hier war er dann auch stationär und arbeitete tagsüber zeitweise in einer Behindertenwerkstatt. Ich bekam nicht mehr all zu viel von seinem wahren Zustand mit. Bei meiner Hochzeit im Jahr 1982 war meine komplette Familie nicht anwesend. Meine Mutter befand sich in fundamentaler Opposition gegenüber meiner zukünftigen Frau. Vater war verhaltener, aber im Endeffekt mit der Frage, warum wir eigentlich heiraten, gut aufgestellt. So waren unserer Besuche in Kassel kurz und immer nur auf der Durchreise. Ein einziges Mal wollten mich meine Eltern besuchen. Obwohl meine Mutter sonst wegen jeder Kleinigkeit bei uns anrief, erfolgte die Ankündigung nun per Postkarte, die ich erst einen Tag vor einer geplanten Reise zu meinen Schwiegereltern bekam. Da konnte und wollte ich nicht mehr zurück. Vermutlich sind wir auf der Autobahn nach Kassel aneinander vorbei gefahren. Es sollte der einzige Besuch bleiben.
Frank durchlief nun weitere Stationen: zunächst die Psychiatrie in Merxhausen, wo es Anfang der neunziger Jahre zu weiteren Zwischenfällen kam. Er schlug einen alten Mann so, dass dieser mit Hämatomen in Behandlung kam, weil dieser ihn nicht gegrüßt hatte.
Es kam zu einem Gerichtsverfahren in Wolfhagen.
Ich selbst schaltete mich ein, da ich der Meinung war, dass mein Vater als Verfahrenspfleger nicht richtig sei. Immer wieder äußerte er ja, Frank sei nur zu faul zum Arbeiten und die vielen Medikamente, mit denen er ruhig gestellt werden musste, hielt er für falsch.
Ich schrieb an das Krankenhaus im Februar 1992:

"Seit über zehn Jahren verfolge ich den Werdegang bzw. die Krankheit meines Bruders zwar aus der Entfernung dennoch mit Anteilnahme.
Mit ist bewußt, daß sich das Schicksal in diesen Tagen zu seinen Ungunsten entschieden hat. Ich verstehe die Gründe, die Sie zu einer gesonderten Unterbringung meines Bruders veranlassten und die möglicherweise zu einer Überweisung in eine geschlossene Anstalt führen.

Sie sollten jedoch noch einige Tatsachen kennen, bevor Sie endgültige Entscheidungen treffen.
1. Frank Dreyer war als Säugling wegen Ernährungsstörungen im Stadtkrankenhaus in Behandlung. Er wurde künstlich ernährt  und lag nach Auskunft des Pflegepersonals im Sterben.
2. Es bestehen Vermutungen, die erblich bedingte Störungen möglich erscheinen lassen bzw. diese erklärbar machen."

Und weiter an den zuständigen Richter in Wolfhagen:

"... als behandelnder Arzt wurde von mir mit Schreiben vom 15. Februar 1992 über einige Umstände informiert, die Franks jetzige psychische Verfassung mit verantwortet haben dürften. Er zeigte sich anlässlich eines kurz darauf geführten Telefonats nicht davon überzeugt, dass sich daraus grundsätzlich neue Aspekte für die Behandlung ergeben und stellt die Sicherheitsaspekte zum Schutz seiner Mitarbeiter und der Patienten in den Vordergrund. Die ärztliche Diagnose wird aufgrund des jetzigen Krankheitsbildes gestellt. Eventuelle organische Störungen aufgrund des Krankenhausaufenthalts sind in den Akten bekannt, werden aber meines Erachtens nicht untersucht.
Eine Einbeziehung meiner Person in die Therapie Franks wird mit dem Hinweis beantwortet, ich hätte aus bestimmten Gründen die Distanz zu meinen Eltern gesucht.

Zwar ehrt die Rücksichtnahme und in der Tat ist der gemeinsame Konsens in der Familie gleich Null, dem Patienten Frank Dreyer wird damit eher geschadet als genutzt. Eine offizielle Reaktion des Krankenhauses Merxhausen ging mir heute zu.
 Soweit mir die Umstände bekannt sind, die Franks körperlichen Attacken voraus gingen, entstanden diese immer aus Situationen, in denen sich der Patient missachtet oder provoziert fühlte. Er handelte stets im Bewusstsein der Rechtmäßigkeit der eigenen Handlungen und vor allem im Affekt. Ich halte den Patienten Frank Dreyer für einen friedlichen, gutmtigen und nicht unintelligenten Menschen, der seine zweifelsohne vorhandenen psychischen Probleme nicht bewältigen kann. Möglicherweise tritt eine mehr oder weniger schwere Nervenschwäche hinzu, die zum Einen für seine Ausbrüche verantwortlich ist, zum anderen sein geringes Durchhaltevermögen bedingt. Sicher wird seine Reizbarkeit von anderen Patienten bemerkt und unter Umständen auch getestet. So jedenfalls lassen sich die Erfahrungen der letzten Wochen im Krankenhaus Merxhausen deuten.

Eine Strafanzeige gegen Frank Dreyer und insbesondere eine Verurteilung und Überweisung an das Krankenhaus in Haina schließen wohl endgültig eine Normalisierung seines Zustandes aus. Sie erscheint mir auch unsinnig, da eigentlich nur ein voll für sich              
verantwortlicher, mündiger Mensch einigermaßen "sinnvoll" bestraft werden kann. Eine Verurteilung seiner Person wrde allerdings mit Sicherheit weitere Türen schließen. Eine Integration Franks in eine beschützte Werkstatt, zumindest seine Unterbringung in Anstalten wie Hephata oder Bethel, halte ich für erstrebenswert. Es ist für Frank wichtig zu wissen, dass seine Betreuung glaubwürdig ist.

Desweiteren sollte bei einer eventuell anstehenden gerichtlichen Anklage und der resultierenden Entscheidung nicht vergessen werden, in welcher Weise die Eltern in Zukunft noch die Betreuung des Patienten allein tragen können."

Ich glaubte also tatsächlich daran, eine Verurteilung in einem Strafverfahren verhindern zu können und irgendwie auch für meinen Bruder diesbezüglich zuständig zu sein.
Dabei hatte ich selbst ein durchaus zwiespältiges Verhältnis zu meinem Bruder. Als ich ihn später in in der gerichtlichen Psychiatrie in Gießen besuchte, schrie er jedes Mal, wenn ich auch nur ansatzweise Vorhaltungen wegen seines Verhaltens vor brachte. Die Ausbrüche kamen sehr spontan und erschreckten mich jedes mal. Eine Mitpatientin meinte jedoch, ich solle dran bleiben, es lohne sich.

Die Behörden ignorierten weiterhin meine Kompetenz. Das Urteil bekam ich nicht zu sehen.
So forderte ich es auch im Namen meiner Eltern an.

"Ich bitte in obiger Angelegenheit dringend um eine Kopie des gegen meinen Bruder, Herrn Frank Dreyer, ergangenen Urteils aus der Verhandlung vom 9. Juni 1993.

Er ist angeblich für ein Jahr zur Unterbringung in einem geschlossenen psychiatrischen Krankenhaus verurteilt worden, dazu noch zu einer Geldstrafe. Genaueres ist jedoch weder mir, noch den Eltern des Verurteilten, bekannt, da uns die Einsichtnahme in die Unterlagen auch von seiten des psychiatrischen Krankenhauses in Gießen bisher nicht gewährt wurde.

Eine entsprechende Anfrage meiner Eltern an Sie blieb auch bislang anscheinend ohne Antwort. Ich darf Sie daher bitten, die bestehende Ungewissheit über die Art der ihm zur Last gelegten Vergehen sowie die Dauer seiner Strafe zu beseitigen bzw. eine Kopie des ergangenen Urteils an meine Adresse zu senden."

Frank sollte nun in den nächsten Jahren zwischen Gießen und Haina hin und her pendeln.
Schließlich kam er endlich in ein betreutes Wohnheim in Homberg/Ohm, wo er sich zu stabilisieren schien. Zur Arbeit wurde er täglich in eine Werkstatt nach Schotten gebracht. Das war um die Jahrtausendwende. Mutter war mittlerweile Ihrem Alkoholkonsum erlegen und verstorben. Vater
wendete sich allmählich ab, schickte aber noch Briefe.
Doch eines Tages war auch das vorbei. Frank bedrohte eine Putzfrau und wieder begann ein Kreislauf,
der ihn zurück nach Haina und auch wieder nach Gießen führte. Über weitere Gerichtsurteile gegen Frank fehlt mir die Kenntnis, da Vater bis zu seinem Tod im Jahr 2007 Verfahrenspfleger blieb.
Zeit seines Lebens blieb es bei Vaters Unverständnis der Behandlung von Frank gegenüber und Frank war ambivalent ihm gegenüber. Zwar hatte er Respekt vor dem Vater und übernahm kritiklos des autoritäres Machtverhalten, Gleichzeitig begehrte er immer wieder auf und schrie auch ihn am Telefon an.

Ironie des Schicksals war, das ich im Jahr 2007, als ich darum kämpfte, Vater nach seiner Hirnblutung in meine Nähe zu verlegt zu bekommen, beide in Gießen am selben Tag besuchen konnte. Vater lag erst im psychiatrischen Krankenhaus in Gießen, die nichts mit ihm anfangen konnten, danach im Balserischen Stift und letztlich im evangelischen Krankenhaus Gießen, ohne etwas davon zu wissen. Frank, im psychiatrischen Krankenhaus Gießen stationiert, hätte ihn mühelos
besuchen können, wollte das aber nicht. Vater hatte im Zustand seiner Aphasie seinen zweiten Sohn zeitweise vergessen und weinte, als ich ihm von Franks Anwesenheit in Gießen erzählte.
Frank hingegen wunderte sich, dass ich Vaters Betreuer war. Auf einmal geht das, meinte er.

Nach dem Ableben des Vaters, dachte ich tatsächlich dran, meine Erfahrungen für Frank sinnvoll einzusetzen. Vater hatte mir zwar nur mitgegeben, dass ich seine Ersparnisse vor dem Landeswohlfahrtsverband retten sollte, ich persönlich, wusste aber, dass es rein rechtlich nicht geht.
Als Betreuer allerdings hätte ich mehr Chancen, ihm auch in dieser Hinsicht zu helfen. Doch mein Ersuchen wurde vom Amtsgericht abgelehnt. Frank war befragt und beraten worden und hatte sich gegen mich entschieden.  
So kam es zu einem längeren Zerwürfnis, denn ich konnte die Zurückweisung schwer ertragen.
Seit 2005 hatte er die damalige bestellte Betreuerin und diese war denn auch sehr schnell mit der Eintreibung von Franks Erbe. Nur ein kleiner Teil des Erbes fiel ihm zu, ohne das ich hätte kontrollieren können, wie viel. Den Rest erhielt der Landeswohlfahrtsverband. Immerhin kam Frank nun in meine Umgebung. Seit 2007 lebt er in einem Pflegeheim für alte und behinderte Menschen in Bad Salzhausen. Seit einiger Zeit habe wir wieder regelmäßigen Kontakt.

Bedingt durch den frühkindlichen Hirnschaden ist er nun Epileptiker und kann das Gebäude des Wohnheims nicht mehr erlassen. Einen Spaziergang an meiner Hand in den Kurpark wird es nicht mehr geben. Es selbst sagt über seinen Aufenthalt: "Besser hätte es nicht kommen können."
Mittlerweile hat er ein Einzelzimmer und ist bei den betreuenden Schwestern beliebt.
Briefe an mich lässt er schreiben, weil er es selbst nicht kann. Er ist ruhiger geworden und ein verlässlicherer Gesprächspartner, wenngleich ihm sein Kurzzeitgedächtnis immer wieder im Sich lässt. Zahlen von früher hat er allerdings stets parat.

Und unsere Begrüßung beginnt seinerseits immer mit dem Satz, dass der Michael (mein Onkel) aber größer sei als ich.






   

Donnerstag, 16. Januar 2014

Ringgeist - Die Ankündigung II

Versuchte zu verstehen, was meinem Vater passiert ist. Kombinierte aus seinen Erzählungen am 9.3.2007. Das er mich auf einem Volksfest gesehen haben wollte, wo ich definitiv nicht anwesend war, schmeichelte mir.

Die Geschichte müsste umgeschrieben werden. Er wollte doch weg, in das Krankenhaus, wo sein Sohn als Baby lag. Eine Sanitäterin war nett, sie sagt: wir machen das schon. Seine Telefonrechnung zeigt einen Anruf. Die Nachbarin hat den Notdienst gerufen. Drei Männer hätten ihn eingekreist, in der Aue. Bis zum letzten Tag ist er mit dem Fahrrad gefahren, zu seinem Lieblingsplatz. Er will sich wehren, bekommt einen Schlag auf den Kopf von hinten. 15 Euro hatte er gehabt. Dann ist er weg gelaufen, weiß nicht wohin. In der Nähe eines Volksfests sei es gewesen.
Der Herkules steht eingerüstet ohne Kopf.
Er sagt, die Sonne scheint, ins Krankenzimmer.

Montag, 23. Dezember 2013

Ringgeist - Eine Sekunde

Ja, auch mal wieder so ein Beitrag wie der vom 1.11.2006, der nichts an Aktualität eingebüßt hat.

Der durchschnittliche Deutsche ist ein bisschen zu dick, bewegt sich zu wenig und hat irgendwann in der Regel eine Herz-/Kreislauferkrankung. So geht es durch die Presse.
Das allein ist nur die halbe Wahrheit. Er fürchtet sich nämlich auch vor BSE und dem Waldsterben. Das große Ozonloch macht ihm eine Heidenangst. Er moralisiert über den Feinstaub und weigert sich das Rauchen in öffentlichen Gebäuden sein zu lassen. An der Nahrung spart er, er gibt das Geld lieber für teure Autos aus und feiert. Solange die Erderwärmung das noch zulässt, fährt er gern schnell. Er hasst den Stau und steht gern drin.
Er mag keine Experimente und die Angst ist seine Lust. Die Polizei in Kassel hat jetzt ein Faltblatt herausgegeben, in dem die letzte Sekunde vor dem Unfalltod beschrieben wird (beim Aufprall mit Tempo 80 und vermutlich unangeschnallt und ohne Airbag). Der Deutsche mag es plakativ, aber begreift die Aussagen nur als Parole. Was soll er auch machen, er hat keine Zeit, auch am Sonntag nicht und er baut rasbare Straßen, die er benutzen will.
Das kommt Ihnen übertrieben vor?
Es gibt ja auch Ausländer, die Schuhe auf der Fußmatte vor der Wohnungstür unhygienisch finden.