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Samstag, 17. August 2013

Ringgeist - Cat


Am 25.10.2004 mischte sich mal wieder Traum mit Realität, einer Realität, die es heute nicht mehr gibt.

Epilog
Die Katze saß auf dem Nachbarbett und näherte sich. Ich fletschte die Zähne und begann zu brüllen wie ein Löwe. Die Katze erschreckte sich und verschwand. Ich wachte auf und röchelte.

Besuch
Mein Vater verdrückte sich ein paar Tränen, als er davon erzählte, was er als junger Mann unternommen hatte. Fahrradtouren zum Edersee mit der Clique, zelten draußen. Alles was schön ist, ist irgendwie schwer. Ich hatte geglaubt, meine Heimatstadt vergessen zu haben und plötzlich war alles wieder da. Die Wege der Jugend und Kindheit, die erste eigene Bude. Der Biergarten mit Blick über die Dönche ist einer der schönsten in Kassel, mir war nie bewusst, dass mein Vater den Platz so mochte. Ich hätte auch nie geglaubt, dass er mal so offen über sich spricht. Er stubste mich anerkennend am Arm und mir bekam das gut. So verbrachten wir zwei Stunden mehr in der Kneipe als gewollt und hatten keine Zeit mehr für einen Bummel in der Stadt.
Wir fuhren nach hause und doch fange ich das erste Mal seit langer Zeit an, mich in Frankfurt fremd zu fühlen.
Viielen Dank auch an die Dame, die jetzt endlich die Tür freigegeben hat, damit wir weiter fahren können, so lautete die Durchsage des Zugführers in nordhessischer Färbung. Ich sah aus dem Fenster und erkannte viele Straßen wieder, die ich jahrlang gedankenlos mit dem Auto in Richtung Kassel gefahren war.

Dienstag, 13. August 2013

Ringgeist - Nichts los auf Kos?


Der Glaube an das Gute ist doch tief verwurzelt in mir, manchmal findet man es an einem unerwarteten Ort in  Gestalt eines Menschen. So am 18.10.2004 wie folgt beschrieben.

Am liebsten hätte ich aus dem Bus gewinkt, als ich unsere Wirtin der Epikouros-Taverne sah. Es war am
Ende eines schönen Herbsturlaubstags und wir sind auf dem Weg zum Flughafen. Wie immer geht sie fast suchend durch das Lokal, um ja nichts und niemanden zu vergessen. Dabei bezeichnet sie sich als Angestellte, die dort nur arbeitet. Wir kosteten gern vom leckeren Schokoladenkuchen, der nach dem Rezept der Großmutter gebacken wurde und tranken gern den Wein, den sie schon seit 11 Jahren in gleichbleibender Qualität von der Insel Patmos bezieht.
Ihr Lokal war die Insel vor einem großen modernen Dienstleistungsresort und unsere Rettung. Es erhielt unseren Glauben an die griechische Gastfreundschaft aufrecht und nährt damit den Wunsch zur Wiederkehr und den Glauben an eine bessere Welt.

Montag, 29. Juli 2013

Ringgeist - Ein Ring, sie zu knechten,


sie alle zufinden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden.

Diese Überschrift brachte dem Beitrag vom 29.9.2004 185 Zugriffe und Platz 7 der Top-Beiträge ein. Klar, woran, es liegt, am Ring natürlich. Ob es wieder klappt?

Das wäre wohl die Lösung für viele Gedanken. Tagebuchschreiben soll ungesund machen, so stand es in der Zeitung. Zum Glück schreibe ich keins. Denn all diese Gedanken frei zu lassen, wäre ja wohl abscheulich. Andererseits wird einem geraten, es zu tun, wie wohl ein Tagebuch gegenüber dem Weblog den Vorteil bietet, dass es diskret ist.
Mein Vater ist momentan sehr diskret. Er geht ins Krankenhaus und lässt sich an der Halsschlagader operieren, ohne mir mal einen Tipp zu geben. Ich wunderte mich nur wegen seiner Nichterreichbarkeit am Telefon. Jetzt habe ich mit ihm gesprochen, er hörte sich heiser an, weil eines der Stimmbänder noch nicht wieder richtig vibriert. Er hat es an den Händen gemerkt, die nicht mehr richtig durchblutet wurden. Daraufhin ließ er sich eine Überweisung zum Gefäßchirurg geben, wurde geröntgt und die Verstopfung der linken Halsschlagader festgestellt. Schließlich war es dann soweit, mein Vater packte seinen Koffer und fuhr zum Hauptbahnhof. Er freute sich über die schöne Zugfahrt nach Volkmarsen. Dort gibt es eine Spezialklinik. Von da aus schrieb er mir eine Geburtstagskarte. Beschwerden hatte er ja noch keine. Es ist alles gut verlaufen, eine Narbe am Hals bleibt zurück. Er schilderte mir in allen Einzelheiten Details zur OP. Jetzt sei er noch ein bisschen kaputt, aber er fährt wieder jeden Tag Rad (10-15km). Bewegung sei das ein und alles.
Meine Erleichterung war riesengroß, auch wenn mir gleichzeitig klar wurde, wie wenig er seine Kinder in sein Leben einbindet. Mit meinem Bruder hatte er schon gesprochen. Der wollte allerdings nur eins: Geld.

Samstag, 27. Juli 2013

Ringgeist - Blumensketch - Das Ende


Das Ende für das Pflänzchen kam am 28.9.2004. Ich korrigiere meine Zahl der zu erwartenden Maschinenzugriffe auf 3. Im Digitalen Nichts ist das ganz schön viel.

Kollege D kam aus dem Urlaub zurück, sah die vergammelte Pflanze auf dem Fensterbrett vor seinem Arbeitsplatz. Er fragte Kollege A, warum sie da steht.
A meinte D hätte doch die Pflanze aufpäppeln wollen.
D hört aber lieber Musik und surft im Internet, außerdem muss er seinen Emailbriefkasten leeren und die Porno-Emails anschauen. D meint mehr beiläufig, man hätte das Wasser im Topf lassen sollen und die Pflanze gehöre umgetopf. Kollege B kriegt im Laufe des Tages mit, das Kollege D auch kein Interesse an der Pflanze hat. Er wirft sie daraufhin in den Mülleimer im Flur und das sogar ohne Übertopf. Damit ist ein Relikt aus der Zeit von Kollegin F beseitigt. Ein Geschenk der Kollegin F an den Kollegen B.
Warum ich gestern morgen von einer Dame mit durchsichtiger Bluse träumte, die von mir alles möglich wollte, weiß ich nicht.

Montag, 20. Mai 2013

Eigentlich müssten Sie weinen



Monolog zum Abschied

Du sagtest,
da sei niemand mehr.
Du meintest
den Rest des Lebens.
Vergeblich
die Erinnerung
daran, das
der Himmel weinte
und nicht wir.

Dienstag, 26. Februar 2013

Hirn

Eine der herausragenden und überlebensnotwendigen Leistungen unseres Gehirns ist das Vergessen, sagen die Hirnforscher. Das leuchtet ja auch ein. Schließlich ist weder unsere Festplatte erweiterbar, noch wird der Arbeitsspeicher wirklich schneller. So wird neuer Platz nur durch das Löschen als überflüssig angesehener Informationen geschaffen, wobei unser Hirn hier offensichtlich selbstständig neue Prioritäten setzt. 
Es ist auch gemein genug, nicht alles vollständig zu löschen, es komprimiert nur einfach alles ein bisschen. Kein Wunder, dass einem so manche Namen dann zwar einfallen, man hat aber die Nase dazu vergessen. 
Manchmal weiß ich noch, dass meine Kommunikationsstrukturen lax waren und ich unter Wohlstandswehwehchen gelitten habe, aber ich bringe den Namen dazu nicht mehr zusammen.
Naja, Hauptsache, man weiß noch, dass es schön und am Ende ärgerlich daher kam. Dieses Erlebnis..
Vergesslichkeit kann etwas sehr Gnädiges sein, aber manchmal ist es auch sehr ärgerlich. 
Da weiß man noch, dass es da einen Mann gab, der gut Gitarre spielte, nur der Name dazu, der fehlt.
Und der Gott des Googelns hilft hier auch nicht weiter.

Donnerstag, 14. Februar 2013

Gold - LXVII

Jemand hatte ihm gesagt, dass er seine Gene weitergegeben habe und das sie ja sich selbst hätten, die beiden.
Siehst Du, sagte Rachel, dieser jemand hatte prophetische Gaben. Wer ist denn für uns da? Wir.

Sie hatten viel mit den Puppen gespielt. Die Puppen waren lieb, lustig, aber manchmal auch heimtückisch und böse. Ihre Abbilder sahen aus wie ein in Scheiben geschnittenes Profil und sie lagerten in einem Keller. Der kleine Junge fragte, ob man die Puppen nicht wegwerfen könnte. Eine alte Frau beugte sich lächelnd zu ihm herunter. "Aber Jungchen, das geht doch nicht. Die Puppen haben Deine Seele, die musst sie nur mit Leben erfüllen. Sie sind wie Du!" Der kleine Junge zuckte mit den Schultern und wischte sich den Speichel der alten Frau ab, die ihm einen Kuss auf die Wange gegeben hatte und ging lieber zum Nachbarn, um dessen Klavierspiel zuzuhören. (2004)

Dienstag, 15. Januar 2013

Gold - LXV

An einem sonnigen Tag sitze ich im Zug nach Kassel. Mein Vater wird mich vom Bahnhof Wilhelmshöhe abholen und wir werden Weg zur seiner Wohnung zu Fuß gehen. 
In einem Kopfhörer läuft "Time & Again".  
The sun brought me
The moon caught me
The wind fought me
The rain got me..
Schon die ersten Worte drücken meine Gefühle aus. Es ist schön und traurig zugleich.
Eine tiefe melancholische Stimmung erfasst mich, die ich kaum aushalte.

Am Bahnhof empfängt mich mein Vater. "Das kannst Du öfter machen" sagt er, während wir gehen und meint damit meinen Besuch. Wir werden in der Wohnung Musik hören, seine Musik. Er ist gut gelaunt.
Seine Hände haben dunkle blaue Streifen, ich frage danach. Er hat die alten Tonbänder vernichtet, nicht einfach weg geschmissen. Er hat sie mühsam von Hand abgespult. Da war Musik drauf von mir und von meiner Band. Er hat mich nicht gefragt vorher und wir sprechen nicht drüber.

Wir gehen zum Friedhof, zum Grab seiner Frau, meiner Mutter. Die Rosi, sie fehlt mir schon manchmal, wird er sagen. Beim Verlassen der Wohnung vergewissert er sich mehrmals, dass er den Schlüssel dabei hat. Ich kenne das. Wir gehen essen, weil ich keine Bratkartoffeln aus zerkratzten Pfannen mag. 
Wie hat Vater immer gesagt, er isst nicht bei alten Leuten. Das Lokal ist schön gelegen, "Schöne Aussicht" eben, Vater ist hier bekannt. 
In der Nähe haben die Eltern immer auf einer Bank gesessen. 
Die Luft, sage ich, ist hier besser als bei uns.


Montag, 14. Januar 2013

Gold - LXIV

Ich brauche nun noch ein Attest des Arztes, der ihn jetzt behandelt, um den Antrag auf Befreiung von der Zuzahlung bei der Krankenkasse zu stellen. Der Arzt sieht mich und meint, er wäre überrascht gewesen, dass mein Vater ansprechbar gewesen sei. Bei seiner Erkrankung sei nichts zu machen, nicht therapierbar. Als ich das Attest lese, wird mir klar, wie schwer krank Egon eigentlich ist. Ich bringe den Personalausweis ins Zentrum zurück. Bei der Gelegenheit erfahre ich von den Pflegerinnen, dass man nicht zufrieden ist mit den Informationen aus dem Krankenhaus. Eine sagt, in Frankfurt würde sie in kein Krankenhaus gehen. Nebenbei erfahre ich noch, dass Vater aggressiv auch gegen seine Pflegerinnen ist. Ich hatte gehofft, er hätte das überwunden. Auf mich wirkt er nicht aggressiv. Die Woche über nehme ich mir eine Auszeit, erledige Papierkram wie die erneute Beantragung seiner Pflegestufe, bin bei der Bank, um auch Vaters Konto endlich von der Kasseler Sparkasse umziehen zu lassen. Am Freitag Abend würde ich eigentlich gern hingehen, es klappt leider aus beruflichen Gründen nicht.  
So bleibt mir nur der Samstagnachmittag. Vormittags gehe ich zum Friseur. Mittags mache ich Besorgungen, wasche das Auto und tanke. Ich esse noch etwas, es scheint, als würde ich die Minuten schieben bis zum Wiedersehen..
Schließlich fahre ich und werde von Egon mit den Worten "Du lebst ja auch noch." begrüßt. Er soll bei der Pflege morgens angeblich kerzengerade sitzen, ich sehe ihn nur noch flach liegen. Sein Atem hat hörbar Widerstand. Ich stehe an seinem Bett. Er holt sich ein gelblich aussehendes Etwas aus dem Mund und gibt es mir in die Hand. Unschlüssig stehe ich da und weiß nicht wohin damit. Er fährt sich mit den Fingern den Mund am Gaumen entlang. Er will die Zähne im Mund haben, bekommt es aber allein nicht hin. Die Pflegerin kommt und hilft ihm. Er versucht es allein und ich vermute, er macht es falsch. Nein, nein, er hat das Gebiss richtig herum, korrigiert mich die Pflegerin. Dennoch gelingt es nicht so richtig, er ist im Mund zu verschleimt. Ich schiebe im Vorraum die Sachen der Pflegerinnen beiseite, um meine Jacke aufzuhängen. Ich räume den Schrank leer von Utensilien, die ihm nicht gehören.
Dann sprechen wir. Ich schlage vor, die Bilder mal aufzuhängen und für mich überraschend sagt er, das könntest Du mal machen. Leider habe ich in meiner Konfusion nur 3 Reißzwecken für das Poster vom Herkules dabei. So befestige ich es unten mittig mit einer.
Danach hänge ich große Bild von Klee neben den Kleiderschrank. Jetzt können wir uns mal unterhalten. Egon fragt, ob der Herkules noch eingerüstet ist, was ich bejahe. Er glaubt mir. Ich erwähne, dass ich am kommenden Wochenende zum 80. Geburtstag meiner Schwiegermutter eingeladen bin. Auf dem Rückweg will ich in seiner Wohnung noch nach  Gegenständen sehen, die ich ihm mitbringen kann. Er bemerkt, dass Kassel eben immer noch die Heimat sei. Ich sage nur ganz ruhig, dass meine Heimat damals keinen Arbeitsplatz für mich hatte. Darauf erwidert er nichts. Die Einladung zum 80. erzeugt keine positive Reaktion.
Es hätte ja auch anders sein können, aber nun sei es ja egal. Der Eckschrank in seiner Wohnung, der sei ja etwas. Er stellt sich wohl vor, wie sein neuer Fernseher nun ebenfalls in der Ecke platziert wird. Sonst interessiert ihn nichts, es kann alles weg. 
Ich komme auf das Thema Beerdigung zu sprechen. Vater hatte nach dem Tod meiner Mutter davon gesprochen, er habe alles für sich schon geregelt. Nun frage ich nach, was schon geregelt ist. Egon wiegelt ab, das wären alles nur Gespräche gewesen, nichts Richtiges. Damit ist das Thema für ihn erledigt. Allerdings fällt ihm nun das Grab der Mutter ein, seiner Frau, das er fast täglich besucht hat. Wer kümmert sich nun darum? Ich sage, dass ich einen Grabpflegevertrag abschließen werde. Ich habe mich nach den Kosten bereits beim Westfriedhof erkundigt. Wen ich im Falle des Falles benachrichtigen soll? Kassel, da ist ja nichts mehr. Bezogen auf die Verwandtschaft meiner Mutter sagt er: ich habe ja nichts zu verbergen. Vater unterhält sich gern mit mir, obwohl es ihm nicht leicht fällt. Wie sehen denn nur meine Arme aus? Fragt er mich und betrachtet und umfasst dabei  seine dünnen Handgelenke. Ich kann ihm nichts mit bringen, Kleidung braucht er nicht, weil er liegt, Essen und Trinken kann er nicht. Aber er hat seine Brille, er meint, ich könnte ihm doch mal die Bild-Zeitung bringen. Fast schäme ich mich dafür, nicht selbst daran gedacht zu haben. Im Kiosk unten im Zentrum gibt es die wahrscheinlich, nur jetzt hat er zu. Na ja, beim nächsten mal, denke ich daran.
Ob er wohl schreiben kann? Vielleicht kann er es üben. Ich zücke einen kleinen Notizblock und gebe ihm einen Kugelschreiber in die Hand. Versuche mal, Deinen Namen zu schreiben. Er versucht, aber mehr als ein etwas undeutlicher Anfang seines Namens will nicht gelingen.
Er bricht ab und sagt, es geht nicht mehr.
Nun kommt die Zeit, ich muss gehen. Vater hat sich müde geredet. Wir geben uns die Hand wie immer. Mach's gut, bis bald. Ich genieße die Fahrt über den Berg zu uns nach hause. Die Frage nach dem "wie weit" habe ich Vater ja beantwortet. Der Frühling ist in vollem Gange und bei Vater scheint Normalität einzuziehen.
Am nächsten Tag zeige ich meiner Schwägerin, wo Vater nun unter gekommen ist. Es regnet in Strömen, das Fenster seines Zimmers ist offen, als ich schräg darunter anhalte. Gute Laune, das Heim macht wirklich einen guten Eindruck. 
Zwei Tage später stirbt Vater, nachdem er zuvor noch ins Hanauer Krankenhaus eingeliefert wurde. 

Montag, 7. Januar 2013

Gold - LVIII

Eines schönen Wintertages fuhr Paul mit dem Zug in die Stadt, um seine Wiedereinstellung perfekt zu machen. Zum Glück war der Chef wegen des Studiums nicht nachtragend. Und es war auch für ihn eine einfache Lösung, Paul wieder einzustellen, denn die Stelle, die Paul vorher inne hatte, war wieder frei geworden. Damit war seine finanzielle Unabhängigkeit gesichert und Paul über den Verdacht erhaben, von seiner Freundin leben zu wollen. Was er einst als Stagnation empfunden hätte, sah er nun als die sichere Rettung. Wenngleich er schon ahnte, dass seine Unzufriedenheit zurück kehren könnte, denn an den Herrschaftsgebaren seines Chefs hatte sich naturgemäß nichts geändert. Er war Frauen gegenüber wesentlich aufgeschlossener und glaubte immer in jeder Äußerung eines Mannes, die seiner Meinung widersprach, einen Angriff auf sein Patriarchat sehen zu müssen. Das machte es Paul schwer, sich wohl zu fühlen, zumal er solche Verhaltensweisen bestens kannte. Die Personalpolitik des Chefs war eindeutig, hier arbeiteten überwiegend junge Frauen. Eine Kollegin zum Beispiel, die manche Äußerungen Pauls mit einem herzhaften Lachen quittierte. Sie lud ihn zu sich nach hause ein, um ihm einen Vogel zu zeigen (das meinte sie ernst), dabei war klar, sie hatte bereits einen Freund. Der Arbeitsplatz erschien Paul mehr und mehr als wenig gutes Pflaster für einen mühsam den Hafen der Ehe ansteuernden Mann. 
Paul näherte sich einem zurück haltenden, stets um Seriosität bedachten Mann an, der im Verlag als Autorenbetreuer arbeitete und zweifelsohne ein besseres Standing als er selbst genoss. 
Paul hatte geträumt und erzählte während eines gemeinsamen Kneipenbesuchs davon. Die Eltern waren beide gestorben und er empfand das Gefühl des Verlustes als entsetzlich. Sie sprachen also über seine Eltern, die zu dem damaligen Zeitpunkt beide noch sehr lebendig waren und insbesondere über den Vater.
Überraschenderweise fand Paul nun in seinem Gesprächspartner einen verständnisvollen Menschen, der ihm die Rolle des Vaters zu erklären suchte. Ob er denn meinen würde, dass der Vater alles so gewollt habe, wie es sei. Er habe doch immerhin eine Familie aufgebaut, seine Familie und suche sicher ab und zu seine Freiheit. Da fand sich Paul wider Willens in der Position eines Anklägers, dem die moralische Berechtigung für ein Urteil fehlte.
    

Montag, 31. Dezember 2012

Gold - LIII

Wir haben einen Termin in Nidderau, eigentlich soll heute der Heimvertrag gemacht werden. Auch den muß ich zur Kündigung von Vaters Wohnung vorlegen. Man läßt uns warten. Zwar begrüßt uns der Heimleiter mit der Frage, ob er etwas für uns tun könne, doch die Verwaltung läßt sich Zeit. Als wir schließlich herein gebeten werden, begrüßt man uns mit der Frage, warum wir eigentlich da sind. Die Dame, die uns angerufen hat, ist nicht im Haus. Da ist ein Fahler passiert. Das Zimmer ist an einen Kurzzeitpflegepatienten vergeben.
(In Vaters Krankenzimmer wird Musik gemacht, ein Mann spielt Gitarre, eine Frau schlägt auf eine flache Trommel. Paint it black, lautet die Melodie. Ein Junge ist auch noch dabei. Zuerst glaube ich, es sei mein Kind, aber es gehört wohl zu dem  Mann. Vater stört die Musik, er liegt im Bett. Seine Haare sind wieder dunkler geworden. Ich will ihm am Fenster zeigen, wo ich wohne. Er springt fast aus dem Bett und läuft in seinem Jogginganzug vor mir her. Er sieht kräftig aus. Wir verlassen das Zimmer, vor dem Fenster draußen stehen hohe Häuser, so dass wir nicht weit sehen können. Vater genügt es dennoch. Als er wieder ins Bett geht, sehe ich, dass sein Oberkörper ganz gerötet ist. Ich sitze fast auf ihm und beginne zu weinen.
Das ist meine Anspannung, versuche ich zu erklären, aber er weiß schon, was das ist. Ich höre das zweite Klopfen, sagt er. Er macht sich bereit, so als wüsste er, was das bedeutet. Er ist zufrieden. Ich wache auf und fühle mich geborgen. Ich weiß, dass ich nichts und niemanden fürchten muss und meine Zeit in Gelassenheit zu Ende leben werde, egal, was auch passiert.
24.9.2007)
Wir können es uns ansehen. Der Anblick begeistert mich schon nicht. Das Risiko, zu warten, ob nach der Kurzzeitpflege das Zimmer noch frei wird, ist uns zu hoch. Wo sollen wir mit Vater bleiben? Dazu kommt diese übergroße, schnodderig unsympathische Art der Verwaltungsdame. Meine Frau insistiert und regt sich auf, das kann ich schon lange nicht mehr. Aber es hilft nichts, Konsequenzen soll das Ganze haben. Von denen werden wir nichts haben. (Der Heimleiter will mir nach meiner Beschwerde später ein Zimmer anbieten und ruft mich sooft an, bis ich seine Entschuldigung akzeptiere.)  

Mittwoch, 29. August 2012

Der Ort am Meer

So selbstverständlich in Polen die Eingliederung Kolbergs als polnische Stadt angesehen wird und so verständlich die Freude über die erste Stadt am Meer für die Polen ist, die Stadt hat nun mal auch eine deutsche Geschichte. In ihr lebten meine Vorfahren väterlicherseits, abstammend von Julius Dreyer sen. sind dies die Gebrüder Johannes und Julius Dreyer mit ihren Familien und der später nach Kassel verzogene weitere Bruder Kurt Dreyer, außerdem auch die mit ihnen befreundete Familie Fabricius mit Anhang.


Doch nun zur Geschichte Kolbergs:  

Die Stadtbeschreibung Kolberg nach Neumann 1894 sagt dazu folgendes:

Stadt an der Persante (3 km von deren Mündung in die Ostsee); ...Bahnhof der Linie Belgard-Kolberg der Preußischen Staatsbahn und der Altdamm-Kolberger Eisenbahn; Reichsbanknebenstelle, Vorschussverein, Landratsamt, Amtsgericht, 4 Konsulate fremder Länder, Hauptsteueramt, 4 evangelische Kirchen (Marienkirche), 1 katholische Kirche, 1 methodistische Kirche, Synagoge, Gymnasium mit Realgymnasium, adliges Fräuleinstift, Waisenhaus, Denkmal Friedrich Wilhelms III. auf dem Mark, Rathaus, Zucht- und Arbeitshaus, Eisengießereien, Maschinenfabriken, Tabaksfabriken, Dampfsägemühlen, Ziegelbrennerei, Solbad, Fischerei, lebhafter Handel (Reederei 1891: 9 Seeschiffe zu 1.732 Registertons). Der Hafen der Stadt, Kolbergermünde mit eigenem Post- und Telegraphenamt, Rettungstation für Schiffbrüchige, Seemannsamt, Seebad, Leuchtfeuer, an der Mündung der Persante in die Ostsee (westlich die Maikuhle), ist befestigt, während die Festungwerke der Stadt beseitigt sind. Geschichte: Kolberg war die alte Hauptstadt des Kassubenlandes, erhielt 1255 deutsches Stadtrecht und kam 1277 an das Bistum Kammin; es nahm 1530 die Reformation an, wurde 1653 von den Schweden an Brandenburg übergeben, im Siebenjährigen Krieg 1758, 1760 und 1761 dreimal von den Russen belagert, nur das letzte Mal eingenommen, nochmals 1807, aber vergeblich, von den Franzosen (Gneisenau, Schill, Nettelbeck).. Kolberg besitzt eine reiche Kämmerei (1660 ha Holz).

Das Ende des deutschen Kolbergs 1945


Überall kämpfte die Wehrmacht im 2. Weltkrieg an der Ostfront seit Jahren ums Überleben. Der Krieg wurde dennoch so geführt, als ob man ihn gewinnen könne. Am Ende ging es aber nur noch darum, möglichst viele Zivilisten zu retten. Seit Monaten herrschte in Kolberg bereits Aufregung wegen der eintreffenden Flüchtlinge aus Ostpreußen. Der Zivilbevölkerung verweigerte man jedoch die rechtzeitige Evakuierung mit dem Hinweis, der Russe sei zurück geschlagen und nichts zu befürchten. Derweil flüchteten die Nazis samt Anhang bereits mit Bussen und den letzten Zügen, die am Morgen des 3. März 1945 Kolberg verließen. Die Stadt wurde vorher von den Nazis zur Festung erklärt, ein neuer Kommandant Anfang März 1945 ernannt.

Die militärische Lage besagt: „Truppen der Sowjets erreichen das Stettiner Haff, das Gebiet vor Kolberg und Dievenov den Übergang nach Wollin.“

Es kam unweigerlich zur Einkesselung von Zivilisten und restlichen Truppen u.a. auch in Kolberg. Ca. 3200 Mann inklusive schlecht bewaffnetem Volkssturm sollten die Stadt so lange wie möglich halten. Am 3. März 1945 wurden die Volkssturmmänner aus ihren Häusern gerufen. Erst am Folgetag begann die Evakuierung von Flüchtlingen. Die Versorgung der Stadt bricht zusammen. Am 5. März 1945 beginnt der Beschuss durch russische Truppen. Die Panzersperren werden durchbrochen und in den folgenden Tagen von Haus zu Haus gekämpft. Vom Hafen erwidern deutsche Kriegsschiffe das Feuer der sowjetischen Artillerie.

Der Beschuss insbesondere mit den Stalinorgeln und zusätzlich Luftangriffe machen die Zivilbevölkerung panisch. Wer es schafft, bis zum Hafen durchzukommen (über die Persante führt nur eine Notbrücke und alles liegt unter Beschuss), steht im großen Gedränge und läuft Gefahr von hinten in das Hafenbecken gestoßen zu werden. Viele ertrinken dabei. Manche verharren apathisch in den Kellern und müssen von den Soldaten heraus geholt werden. Am Hafen entschied sich das Überleben und wurden Familien getrennt. So verstarb am 11.3.1945 Adalbert Fabricius, seiner Frau Emilie gelang die Flucht. Trotz allem wurde im Krankenhaus noch operiert, bis dann die Verwundeten und das Personal evakuiert werden. So hält eine Kampflinie noch bis 15. März 1945.

Erste polnische Soldaten wollen in die Stadt. Das Ende zeichnet sich ab. Mehrere Zerstörer verlassen mit Truppen und Flüchtlingen Kolberg. Diese Zerstörer hatten mit in den Kampf eingegriffen. Erst am 18.3.1945 bereiten die Verteidiger ihre Evakuierung vor. Lediglich 350 Mann sollen in Feindeshand geraten sein. Was mit verbliebenen Frauen und Männern passiert, muss hier nicht beschrieben werden. Es ist die Rache der Sieger. Die Toten auch der Sieger werden monatelang unbeerdigt bleiben. Selbst die Maikuhle, das kleine Wäldchen westlich des Hafens ist total zerschossen.


Kolberg - eine Stadt nimmt Gesicht an:


 Die Straße heißt heute: Armii Wojska Polskiego.

Kolberg lebte vom Fischfang und der Salzgewinnung, bevor die Stadt zum Kurort wurde. Das Klima und die Sole machten aus der ehemaligen Hansestadt ein Kurbad.

Kaufleute waren sie, die drei Brüder, Kinder des Fleischermeisters Julius Dreyer sen. Jeder auf seine Weise und nicht jeder dazu geboren. Während Sohn Julius in die Fußstapfen des Vaters tritt,
übernimmt Johannes (mein Großvater) nach seiner Marinezeit einen Kolonialwarenladen und führt ihn mit seiner Frau Elisabeth geb. Prohl. Kurt Dreyer, der dritte Bruder, wird nach seiner Militärzeit Handlungsreisender und wird Kolberg vor 1924 der Liebe wegen verlassen. Seine Frau Paula (eine geborene Kaminski hat er als Soldat kennen gelernt.
Johannes dagegen bleibt in Kolberg und hat bereits zwei Kinder, erst den Sohn Werner 1913 und schließlich Tochter Frieda, die am 30.11.1914 geboren wird. Es sind keine einfachen Zeiten. Der erste Weltkrieg hat begonnen, viele Männer sind freiwillig ins Feld gezogen, doch zu Weihnachten, wie gedacht, sind sie nicht zurück.
Julius jun. und Johannes wohnen beide in der Kolberger Altstadt. Johannes ist in der Lindenallee und später in der Gneisenaustrasse zuhause.
Das Haus Gneisenaustrasse 8 gehörte ehemals der Kösliner Actienbrauerei.  Ein Freund der Familie ist stets der Schornsteinfegermeister Adalbert Fabricius. Seine Schwägerin Anna ist um 1911 bereits verwitwet und lebt um 1911 in der Lindenstrasse. 1924 findet sich ihre Eintragung hier nicht mehr. Adalbert hat eine Frau, Emilie, geb. Finger und ein Kind lebt bei ihnen. Vorher aber noch einmal die in den Adressbüchern dokumentierten Personen und deren Aufenthaltsorte in Kolberg:
1911:
Julius Dreyer sen. Fleischermeister , Lindenstrasse 50;
Julius Dreyer jun. Fleischermeister , Lindenstrasse 50;
Johannes Dreyer Kaufmann, Lindenalleee 48;
Adalbert Fabricius Bezirksschornsteinfegermeister , II. Pfannschmieden 27;
Anna Fabricius geb. Beduhn verw. Bezirksschornsteinfegermeisterin, Lindenstrasse 18.
1924:
Julius Dreyer Fleischermeister , Lindenstrasse 50;
Johannes Dreyer Kaufmann, Gneisenaustrasse 8;
Adalbert Fabricius Bezirksschornsteinfegermeister , II. Pfannschmieden 27.

Als das jüngste Kind von Johannes Dreyer, Tochter Frieda also geboren ist, gibt es Lebensmittel nur gegen Marken und die Seeblockade Englands bewirkt, dass es Kolonialwaren eigentlich nicht mehr gibt. Man muss sich mit dem begnügen, was im Inland verfügbar ist. Man kennt sich in Kolberg und im Umland, gute Kontakte sind überlebenswichtig. So fehlen Johannes und seine Frau Elisabeth auf keiner Feier, auch wenn nun offiziell wenig gefeiert wird. Die Leute sagen, Johannes habe sich kaputt geraucht und auch seine Frau (eine gebürtige Danzigerin) musste den Belastungen Tribut zollen.  Die Inflation nach Kriegsende verführt manch einen dazu, durch den Verkauf von Grundstücken oder Häusern utopische Preise zu erzielen, um Geschäftsverluste vermeintlich auszugleichen. Der Erlös aber war schon bald nichts mehr wert. Davon mag Johannes bei seinem Hauskauf profitiert haben. Mit der Umstellung 1923 in die Renten- und später die neue Reichsmark geht es zunächst wieder bergauf. Ende der zwanziger Jahre ist die Arbeitslosigkeit recht hoch und es bahnt sich die Weltwirtschaftskrise an. Waren sind genug vorhanden, das Geld aber fehlt. Das Leben der beiden Kinder Frieda und Werner spielte sich wegen der Geschäftstätigkeit der Eltern schon früh sehr selbstständig ab. Oftmals waren sie bei der Familie Fabricius, die sich anstelle der Eltern um die beiden kümmerte. Frühzeitig musste auch Werner die Verantwortung für seine Schwester übernehmen. Obwohl Frieda sehr lebenslustig war und vor Energie sprühte, hatte sie doch von Anfang an Probleme mit der Lunge, die durch die knappe Ernährung während der ersten Lebensjahre ungünstig beeinflusst wurden. Tb war in Kolberg eine häufige Erkrankung. So kam es, dass beide Eltern daran erkrankten. Vielleicht begünstigt vom Kontakt mit dem Publikum im Geschäft, unter denen sicher auch der ein oder andere Kurgast war, und auch durch die Lebensweise bedingt, die nicht unbedingt gesundheitsbewusst genannt werden kann, erkrankten beide Eltern daran. Im Februar 1929 schließlich verstarb Johannes Dreyer. Da die Mutter bereits ebenfalls stark beeinträchtigt war und die Gefahr einer weiteren Ansteckung durch die offene Tb gegeben war, sprach alles dafür, Frieda den Aufenthalt in einer Lungenheilstätte zu ermöglichen. Adalbert Fabricius besprach dies mit dem Onkel Kurt in Kassel, der von einer entsprechenden Anstalt in Kaufungen bei Kassel wusste. Dort war gerade ein neues Patientenhaus für Kinder eröffnet worden, somit sollte die Aufnahme kein Problem sein. Die Mittel für die Einweisung in eine Heilkur wurden immer weniger, aber Adalbert konnte erreichen, dass die Kur schnellstens nach der Beerdigung des Vaters bewilligt wurde. Ende Februar oder Anfang März 1929 brachte Adalbert Frieda zum Bahnhof in Kolberg und in Kassel sollte Onkel Kurt sie in Empfang nehmen und nach Kaufungen bringen. Ironie des Schicksals ist es, dass dem Mädchen in einem Kurort für Lungenkranke nicht geholfen werden konnte.

Neben der Altstadt gibt es in Kolberg das Kurviertel, in dem die beiden Kinder ja zu hause waren. Hier spielte sich das Leben auf der Strandpromenade ab, wo die Patienten und ihre Besucher flanierten. Das Strandschlösschen mit seinen Kurkonzerten, die Seebrücke und das Damenwäldchen, aber auch die Altstadt mit ihren Parks und Bürgerhäusern, der Persante mit ihren Weidenbäumen, das Maikuhlewäldchen mit dem Ausflugslokal, all das sollte Frieda bald vermissen. Wie gern wäre sie mit Adalbert und seiner Kutsche wieder an der Persante entlang gefahren.

Exkurs: Kolberg - Weihnachten 1941  

Kolobrzeg
  
Mit donnerndem Krach und einem klirrenden Geräusch knallt mein Schädel vor die Unterkante der Stahlwand über dem Ausgang der Fähre, die uns von Ahlbeck nach Misdroy auf der Insel Wollin gebracht hat. Zwar hatte ich den Kopf schon gesenkt, aber eben nicht tief genug. Der Aufprall entlockte sogar ein paar deutschen Touristen einen Schreckensruf. Ich pralle ein wenig zurück und steige dann doch aus. Wie immer hält das Schicksal für mich ein paar Unannehmlichkeiten bereit, wenn ich etwas zu sehr will. Heute ist es meine Mission, Kolberg zu besuchen, die Stadt meiner Ahnen väterlicherseits. Das polnische Kolobrzeg ist also mein Ziel und davon werde ich mich nicht abbringen lassen. Zum Glück habe ich eine Mütze auf dem Kopf gehabt und die Haare sind auch nicht zeitgemäß kurz geschnitten. Es blutet erkennbar nichts und bis auf den relativ schnell vergänglichen Akutschmerz scheine ich auch sonst keine Nachwirkungen zu haben. Wahrscheinlich hängt alles bloß damit zusammen, dass ich meine Aufregung mit einem vermeintlich günstigem Glas Bier schon zu sonst ungewohnter Stunde dämpfen wollte. Meiner Aufmerksamkeit beim Ausstieg hat das nicht geholfen. Auf der Seebrücke, die ganz anders als auf Usedom schon zu dieser Zeit gut gefüllt ist (wir haben noch frühen Vormittag) empfängt uns Robert, unser polnischer Reiseleiter. Er sieht so aus, wie man sich einen Slawen vorstellt. Dunkelhaarig und klein und mit sehr viel Sinn für hintersinnigen Humor und Doppeldeutigkeiten ausgestattet.
Dass ich wegen des Biers auf dem Schiff nicht mehr auf Toilette gegangen bin, merke ich jetzt.
Macht nichts, ich bin entschlossen, auch das durchzuhalten bis Kolberg. Robert erzählt viel über die Polen nach dem Krieg und heute. Auch über das Ende Kolbergs weiß er einiges. Unter anderem, dass 1943 die 1. polnische Armee aufgestellt wurde und das polnische Soldaten Kolberg eroberten. Das Stalin bestimmt kein Freund der Polen war und die Sowjets ganz einfach nicht den hohen Blutzoll allein tragen wollten, der bei den harten Kämpfen um Kolberg und später auch um Berlin zu erwarten war, kommt nicht zur Sprache. Polnischer Befreiungskampf ist eher das Motto. Kolberg, slawische Staatsgründung, soll nie wieder aufgegeben werden, so schworen es die Eroberer. Diese Stadt scheint eine wahnwitzige Tradition zu haben. Zwischen Wollin und Kolobrzeg liegen an der Küste militärische Sperrgebiete, sodass wir nicht direkt an der Küste entlang fahren können. Stattdessen sind wir ca. 10 km hinter der Küste unterwegs und erreichen schließlich das kleine und gut erhaltene Städtchen Treptow und endlich Kolobrzeg. Völlig unspektakulär beginnt die Stadt völlig austauschbar mit Tankstellen und anderem Gewerbe. Wir überqueren die Parseta und sehen links von uns einen Ring von Hochhäusern, der in etwa mit der Grenze der ehemaligen Altstadt zusammen fällt. Links von den Plattenbauten ist also die Altstadt, rechts die Neustadt. Schnell wird mir klar, dass ein alter Stadtplan hier nichts bringt. Der Plan ist ein schlechter, sagt Robert, als er meinen historischen Stadtplan von 1931 sieht. Unser Bus hält an einem großen Platz, auf dem ein Gemüsemarkt statt findet. Roberts Finger zeigt auf den Kaiserplatz. Hier werden wir wohl sein. Die alte Bebauung Kolbergs soll maximal zweistöckig gewesen sein, später werde ich sehen, dass es durchaus höhere Bürgerhäuser, z.b. im Jugendstil, gegeben hat. Somit ist bei der Wiederbebauung zumindest in Bezug auf die Höhe der Häuser historisch alles richtig. Wir gehen an einer Häuserzeile mit vielen Trödelläden vorbei, davor findet sich ein kleiner Platz mit Blick auf den Kolberger Dom, die Marienkirche. Diese Strasse wird von den Einheimischen die Goldgasse genannt und müsste der früheren Schmiedegasse entsprechen, eine der ältesten Straßen Kolbergs. Die wieder aufgebaute Altstadt entstand erst in den Achtziger Jahren, die großen Plattenbauten rings herum sind älter. Gern haben die Polen alte und verfallende Wohnungen und Häuser aufgegeben, um in einem modernen Plattenbau zu wohnen. Die Belegung der von den Deutschen hinterlassenen Häuser durch polnische Vertriebene erfolgte nicht sofort nach dem Krieg. Es kamen auch nicht so viele Menschen, wie zuvor vertrieben wurden. In Kolobrzeg, wo 90% der Häuser zerstört waren, musste schnellstmöglich neuer Wohnraum entstehen.
"Wir Polen sind keine Kirchenzerstörer." Sagt Robert. In der Tat wurden jedoch auch die noch erhaltenen Kirchen in Kolberg, z.b. die Münderkirche, in den Fünfziger Jahren abgetragen.
Lediglich der Dom blieb schwer beschädigt erhalten. Die Kirche konnte erst in den Siebziger Jahren wieder aufgebaut werden, nachdem durch die deutsche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze Rechtssicherheit auch für die Kirche geschaffen wurde und auch hier die Verantwortung endgültig bei Polen lag. Der Wiederaufbau der Kirche erfolgte so authentisch wie möglich. So entschlossen sich die Polen, schiefe Säulen auch wieder schief aufzubauen, da sonst das Kirchenschiff kleiner als ursprünglich ausgefallen wäre. Gerettete Gegenstände aus der deutschen Zeit stehen an verschiedenen Plätzen. Robert meint, durch die Reformation sei eine Trennung der deutschen und der slawischen Bevölkerung Kolbergs entstanden.
Die Deutschen waren nun protestantisch. Draußen zeigt uns Robert ein Denkmal, das Kolberger Bürger anlässlich des 1000. Geburtstags Kolbergs gestiftet haben. Es soll den Verlauf der deutsch-polnischen Geschichte symbolisieren. Ganz oben verbindet eine Taube die beiden Säulen. Tatsächlich ist die Geschichte Pommerns und Kolbergs keineswegs so eindeutig von einer Seite dominiert worden, wie es gern von polnischer oder deutscher Seite dargestellt wird. Es war ein wechselhafter Kampf zwischen pommerschen Herzögen und Polen, schließlich kamen die Schweden und mit dem Verschwinden Polens wurde Pommern preußisch.
Draußen sind wir wieder in einer fremden Welt. Polen feiert an diesem Tag, dem 2. Mai 2008 den Tag der Fahne, Es ist Feiertag. Robert hat für uns ein Essen in einem Lokal bestellt. Unsere stille Reisegesellschaft hat sich mehrheitlich für sein Angebot entschieden. Wir können im lokal mit Euro bezahlen.
Im Henkerhaus essen wir ziemlich ungewürzte und soßige Schweinelendchen mit Pfifferlingen oder Lachs mit Gemüse. Robert isst nicht mit uns. So ist es recht still. An unserem Tisch sitzt ein alleinreisender Mann aus Ostfriesland. Unser Tischnachbar taut etwas auf, nachdem ich ihm von meinen Vorfahren aus Kolberg berichtet habe. Wir reden dann hauptsächlich über das Kriegsende, darüber hat er gelesen. Ob das Haus wohl ein altes ist, das werde ich später nachlesen müssen. Die dunklen Holzvertäfelungen mit den Gemälden lassen darauf schließen. Nach dem Essen ist die Altstadtbesichtigung zu Ende. Ich wollte eigentlich Ansichtskarten kaufen, das ist aber nicht so einfach. Die Karten sind mit Nummern versehen, diese müsste ich dann einer polnischen Verkäuferin durchgeben. Ich lasse das, versuche ein paar Straßenschilder zu entdecken, was mir aber nicht gelingt. Robert ist auch zurück und wird gleich im Bus erzählen, dass der Bürgermeister heute noch auf dem Platz eine Rede halten wird. Auf der Bühne probt schon eine Musikband für ihren Auftritt.
Der Weg soll uns nun zum Kurviertel führen, wir fahren durch die Neustadt, stoßen an einem Kreisel auf die Straße nach Koszalin (Köslin), die weiter Richtung Danzig führt. Die Plattenbauten der Neustadt grenzen direkt an den Park hinter den Dünen. Bei den Hotels handelt es sich zumeist um ehemalige Erholungsheime für die Beschäftigten der staatlichen Betriebe. Der Bahnhof liegt links von uns, an ihm konnte ich mich aufgrund meines alten Plans orientieren. Die Altstadt und das Kurviertel sind über eine Brücke über die Gleisanlagen zu erreichen. Das, so Robert, bereitet den Senioren oft Probleme. Probleme hat auch unser Busfahrer mit der Parkplatzsuche. Abseits des Kurviertels führen viele Straßen zum Strand quer durch einem Laubengang ähnlichen Park. Wir steigen schließlich an einem Halteverbotsschild aus. Durch ein Spalier von Verkaufsständen gelangen wir geraden Wegs zum Strand. Für die Seebrücke müssten wir Geld bezahlen, also sparen wir uns den Besuch. Links von uns befindet sich der Park, es ist das sogenannte Damenwäldchen. Östlich der Seebrücke befand sich früher das Strandschlösschen. Darüber berichtet Robert nichts. Wir kommen nun an einem Denkmal der Eroberer Kolbergs vorbei. Die Namen der Einheiten sind dort genannt, ebenso einiges an Symbolik zur früheren slawischen Geschichte des Orts. Immer wieder wird eine Brücke aus grauer Vorzeit in die Nachkriegszeit geschlagen. An derselben Stelle stand früher ein anderes Denkmal. Schließlich erreichen wir den Leuchtturm und wieder etwas, was ich auf Anhieb erkenne: die Mündung der Persante ins Meer, begrenzt durch die beiden Molen. Ich werfe einen Blick auf den Fluss und das gegenüberliegende Wäldchen. Robert erzählt nichts darüber, über den Leuchtturm weiß er umso mehr. Der ist 1945 wieder aufgebaut worden. Die Deutschen hatten ihn gesprengt, um der Artillerie kein Ziel für den Beschuss zu bieten. Der russische Stadtkommandant wollte die Versorgung der Stadt sichern, der Hafen war vermint und so mussten gefangene Deutsche den Leuchtturm wieder aufbauen. Dabei wurde das alte Fundament genutzt.
Drei Wege sollen uns zum Bus zurück führen, einer am Fluss entlang, einer durch die Mitte und der letztere zur Seebrücke zurück. Am Hafen entstehen überall Apartments, das Bild eines durch und durch touristischen Badeorts ist bestimmend. Ich fühle mich durchaus unbehaglich, den gemütlich sind die aufgeschnappten Gesprächsfetzen aus der Unterhaltung drei junger Deutscher, die über den Umgang mit Geld reden, nicht. Auch das Angebot der Verkaufsstände ist sehr unübersichtlich. Wir wollen eine Waffel kaufen, die Preise sind günstig, wenn man Zloty in Euro umrechnet. Für einen Euro sollte das gehen. Die Verkäuferin weigert sich jedoch, unseren Euro anzunehmen. Wir sehen weder eine italienische Eisdiele noch eine Fischbraterei. Dafür hätten wir auf Bernsteinschmuck gern verzichtet.
Als ich auf einen Kettenanhänger zeige, nimmt ihn die Verkäuferin gleich aus der Vitrine, um ihn uns zu zeigen. Ich winke ab. Wir sind beide rechtzeitig am Bus und froh, dem Menschengewimmel zu entkommen. Der Park ist von einem deutschen Gartenbaumeister angelegt worden, ein polnischer hat sich nach dem Krieg darum gekümmert und entsprechend wird sein Name gewürdigt. Immerhin ist die Erläuterung auch in deutsch auf der Hinweistafel zu finden. Der Park erweckt in mir ein Gefühl der Vertrautheit, wie eine dichte Decke scheinen die Baumwipfel auf meinem Gemüt zu liegen. Der Bus steht noch nicht direkt am Ausgangspunkt. Pünktlich fährt er dann vor. Wer nicht kommt ist unser ostfriesischer Tischnachbar. Auch nach einer Viertelstunde nicht. Robert telefoniert und schaut in der Jacke des Mannes nach. Wir müssen fahren, denn wir brauchen eine bestimmte Zeit, um unsere Anschlussfähre nach Swinemünde zu erreichen. So bleibt also einer von 13 in Kolobrzeg zurück. Ich frage mich, wie man von hier aus nach hause kommen will. Wir verlassen Kolobrzeg, fahren am Hafen vorbei, überqueren die Persante auf einer anderen Brücke, rechts von uns das Maikuhlewäldchen. Im Fluss sprudeln Quellen. Das Solewasser darf von allen Bürgern kostenlos genutzt werden. Es wird, wie auf dem Markt schon gesehen, gern zum Einlegen von Gemüse genutzt. Wir passieren etliche Kasernen, die für die Deutschen in den letzten Kriegstagen von strategischer Bedeutung waren. Robert sagt immerhin, dass das Hauptanliegen der Verteidiger die Rettung der Flüchtlinge war und dass durch die Sprengung des Leuchtturms ein Versenken der Schiffe nicht erfolgen konnte. Wir verlassen die Stadt völlig undramatisch, überqueren die Schienen einer Kleinbahn, und sind bald wieder auf dem Weg nach Treptow.

Kolberg - ein Nachwort

Es gibt eine Zeit vor meinem Kolberg-Besuch und eine danach. Pommernland ist abgebrannt, soviel ist sicher. Mit ihm sind die Sitten und Gebräuche verschwunden. Da ein Teil Pommerns bei Deutschland verblieben ist, kann man sich jedoch leicht einen Einblick in die Lebensweise der Pommern verschaffen.
Das nachstehende Bild habe ich vor meiner Fahrt angefangen und danach beendet.



Auch wenn die Illusionen des Gelesenen in der Realität schnell zerplatzen, wenn man über eine geographische Intuition verfügt, dann stellt sich eine gewisse Vertrautheit ein. Man stellt sich vor, wie anstelle des quirligen polnischen Badeorts hier einmal eine norddeutsche Kleinstadt lag, die auch Kurort war. Man setzt Lebensläufe in Bezug zu geografischen Punkten. Beim Anblick der jungen polnischen Mädchen in ihren Spitzenstrumpfhosen unter kurzen Röcken denke ich an Frieda. Auch sie wird sich schön gemacht haben auf der Suche nach Liebe. Das Leben wiederholt sich und aus dem Vergessen entsteht Geschichte.
Das Meer vor Kolberg ist auch im Sommer mit 18 Grad zu kalt zum Genussbaden, der Strand nicht so breit wie zum Beispiel vor den Kaiserbädern auf Usedom. Es ist nicht alles Gold, was glänzt, schon gar nicht in Kolbergs Goldgasse, der restaurierten Häuserzeile in der "Altstadt".
Wenigstens gab es beim Verlassen von Kolberg dieses Mal keine Verluste. Der verschollene Reisegast ist an gleichen Tag noch nach Heringsdorf zurück gekehrt. Er hatte sich rettungslos verlaufen, landete bei der Polizei, dort musste ein Dolmetscher gefunden werden. Man empfahl ihm, ein Taxi zu nehmen und so zahlte er 150 € für die Rückkehr. Es ist ihm sonst nichts weiter passiert. Da ich erwartungsgemäß keine neuen Informationen über meine Familie gewinnen konnte und die Toten auch nicht reden, stütze ich mich im nachfolgenden auf meine Recherchen von 1985/1989 bei der Heimatortskartei und verschiedenen Telefonaten von damals. Dazu kommen Einträge aus Adressbüchern sowie Urkunden.
Was immer mir das Schicksal an Hinweisen geben mag, ich bin dankbar dafür.

Kleine Magie der Zahlen
  
Am 30.11.1914 wird Frieda, meine Großmutter, in Kolberg geboren, am 30.11.1934 meine Mutter. Am 25.12.1943 fällt mein Großonkel Werner in Russland, am 25.12.1998 stirbt meine Mutter. Nur mein Vater ist einen Tag später dran. Kolberg fällt am 18.3.1945, am 19.3.2007 stirbt mein Vater, der Kolberg ja nie sehen durfte. Ein Schelm, der da Zusammenhänge sieht.

Zusammenhang

Nichts im Sinn habe ich mit der Verdrehung historischer Zusammenhänge. Das das Thema der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten für die Polen heikel ist, ist sehr verständlich. Die Polen in Pommern sind selbst Vertriebene und derer gedenkt kein Mensch in Deutschland. Dazu kommt nun einmal die historische Tatsache, dass Deutschland einen unsinnigen Krieg angefangen hat und dabei vor allem im Osten barbarisch aufgetreten ist.
Wie hätten sich deutsche Truppen damals verhalten, wenn wir überfallen worden wären und hinterher als Sieger in Polen einmarschiert wären? Man mag nicht daran denken.
Demzufolge sind Touristen gern gesehen in Polen, nicht jedoch Menschen, die irgendein Erinnern an erlittenes Leid konservieren wollen. Die Veteranen der Kämpfe um Kolberg haben sich die Hand gegeben, damit ist die Sache für die Polen erledigt und ich meine, wir sind gut bedient damit. 
Als ich auf der Promenade bei Heringsdorf mit dem Fahrrad von hinten mal wieder angeklingelt werde, weil ich nicht rechtzeitig in die Büsche springe, um dem Hintermann freie Fahrt zu ermöglichen, denke ich an Robert. Es ist gerade diese Rechthaberei und der Egoismus, der Deutschland so beliebt macht in der Welt. Stolz sein, so wie Robert, auf die typisch slawische Bauweise von Häusern ohne Mörtel, das ist in Ordnung. Das hat aber nichts mit Aggression zu tun. Aber noch und längst stehen die Zeichen in Deutschland auf Versöhnung. Man gesteht Lukas Podolski sein polnisches Herz zu, wenn er für Deutschland Tore gegen Polen schießt, im Fußball. 
  
1929
  
"Vorschriftsmäßige Liegekuren in jeder Jahreszeit, vorgeschriebene Spaziergänge und Wasserbehandlungen und gute, abwechslungsreiche Nahrung mit Durchführung einer zweckmäßigen Hausordnung sowie das Rauch- und Wirtshausverbot, bedeuten das A und O der Tuberkulose-Bekämpfung, wie sie hier oben durchgeführt würde. Auch sei man nach anfänglicher Skepsis zum Gebrauch von spezifischen Heilmitteln geschritten. Seit 1910 werde auch die Höhensonne angewandt...
Am 15. Oktober 1928 konnte das dritte Patientenhaus, das als Kinderheilstätte mit 40 Betten vorgesehen war, feierlich eröffnet werden. In achteinhalb Monaten stand der Bau. Ermöglicht hatte dies eine für die damalige Zeit neuartige Baumethode. Auf den massiven Unterbau befestigte man die Fertighaus-Holzkonstruktion,
Dieser große, rechtwinklig angelegte Baukörper auf dem schönen Grundstück in Südhanglage bot einen weitreichenden Fernblick. ..
Außerdem kam es zur Anschaffung eines neuen Röntgenapparates. Wirtschaftlich gesehen war 1929 wohl das schwierigste Jahr seit der Inflation. Zudem gab es noch 1928/29 einen außergewöhnlich starken Winter, der die Belegungszahlen bis April stark absinken ließ."
(Aus Geschichte der DRK Klinik Kaufungen)
Das Jahr 1929 war aber auch das Schicksalsjahr für Frieda. Onkel Kurt besuchte sie regelmäßig in Kaufungen und sie gingen in der Parkanlage oft spazieren. Frieda war sich ihrer Trauer kaum bewusst, es war, als stünde sie noch unter Schock, auch ihre eigene gesundheitliche Situation nahm sie nicht so ernst. 
Alles in allem waren ihr die Menschen hier so fremd. Man ist im nordhessischen Land nicht nur autoritätstreu, man hält sich auch daran. Die Überwachung ihrer Teilnahme an allen Heilmaßnahmen erschien ihr hier noch strenger als anderswo.

In der Klinik war ein bekannter und renommierter Lungenarzt für den Vaterländischen Frauenverein tätig. Man müsse Geduld haben, Frieda konnte es sich nicht vorstellen.

Die minderjährige Frieda wurde mit 14 Jahren schwanger.
An ein Ende ihrer Kur oder gar an die Rückkehr nach Kolberg war nicht zu denken. Eine Abtreibung kam aus gesundheitlichen Gründen nicht in Frage, die Ärzte in der Klinik wären nicht bereit, die Verantwortung zu übernehmen. Der Vater wurde jetzt gesucht und Onkel Kurt erwachte aus einem bösen Traum. Zwar gab es noch andere Verdächtige und Frieda selbst behauptete, sich an den Mann nicht erinnern zu können.
Seine Frau jedoch glaubte an all das nicht, schwieg aber.
Frieda konnte auf keinen Fall minderjährig und schwanger nach Kolberg zurück kehren.
Die Nachricht ihrer Schwangerschaft war für ihre Mutter Elisabeth ein Schock, von dem sie sich nicht mehr erholte. Auch wenn sie sich mühte, die Wahrheit zu ergründen, sie hatte keine rechte Kraft mehr dazu. Das Kind war verloren. Bruder Werner hatte es kommen sehen.
Im August 1929 stirbt auch Elisabeth an Tb. Sie folgt ihrem Mann ins Grab, ohne dass ihre schwangere Tochter an der Beerdigung hätte teilnehmen können.
Da beide Kinder noch minderjährig waren und das Erbe der Eltern so früh anzutreten hatten, entstanden die Dreyer'schen Erben. Adalbert und Emilie Fabricius übernahmen, so wie es die Mutter gewollt hatte, die Vormundschaft. Auch sie waren der Meinung, dass das Kind in Kolberg nicht auftauchen dürfe. Es wurde nun ein Vater gesucht, ein Mann, der diese Vaterschaft ohne Schaden übernehmen könnte, denn Kurt Dreyer kam ja nur als Ernährer in Frage und sollte das Kind adoptieren. Es wäre unauffällig, wenn er das Kind seiner minderjährigen Nichte aufnehmen würde.
Adalbert hatte eine Lösung, der Hermann Stahnke, Freund der Familie, Postschaffner a.D., der könnte das machen. Ihm würde kein Schaden erwachsen. Hermann konnte die Not der über Jahrzehnte verbundenen Familien erahnen und ließ sich dazu überreden.
So bekam Kurt's Frau Paula einen weiteren Sohn. Sie würde es erdulden müssen, um Schaden von sich abzuwenden. Die Zeiten waren wirtschaftlich schlecht genug.
Frieda konnte bis zur Entbindung, die im Krankenhaus des Roten Kreuzes in Kassel stattfinden sollte, in Kaufungen bleiben, nun allerdings nicht mehr in der Kinderstation sondern im Frauenhaus.

Die Anstalt war um ihren Ruf besorgt und versuchte den Fall zu vertuschen. Kurt schien nicht anderes im Sinn zu haben, als ihr das Kind zu nehmen. Trotz der schweren Umstände wollte sie das Kind, es würde leben, auch wenn sie selbst nicht daran teil hätte. Sie machte sich keine Vorstellung davon, welche Verantwortung das Kind bedeuten würde. Sie wartete sehnlichst auf die Entbindung, als ihren 15. Geburtstag im Krankenhaus verbrachte. Das Kind wurde auch aus medizinischen Gründen gleich nach der Geburt von ihr getrennt, nur einmal durfte sie es ansehen aus sicherer Entfernung, denn die Gefahr einer Infektion des Säuglings war groß. Mittags, am 6. Dezember 1929 war es geschehen. Der Name de Kindes, meines Vaters, sollte Egon Alfons Christian sein.
Sie war zunächst sehr schwach und musste noch bleiben. Sobald man es aus gesundheitlicher Sicht erlaubte, konnte sie nach Kolberg zurück kehren. Schließlich müsse ja ein Erfolg der Behandlung sichtbar sein.
Frieda sollten ihr noch knapp 10 Jahre ihres Lebens bleiben. Ein Leben in dem Bemühen, das Geschehene zu vergessen, im Kampf um das tägliche Brot noch etwas zu lernen, zumindest einen Freund zu finden, der wohl tunlichst nicht erfahren sollte, dass sie eigentlich schon eine junge Mutter war, das lag vor ihr. Der alte Fabricius kümmerte sich noch immer um sie. Werner hielt zu ihr, auch wenn er so manches Mal sein Unverständnis über das Geschehene durch blicken ließ. Schwierig war der Umgang mit den Jungen, die sie teils noch aus ihrer Schulzeit kannte. Gerüchte über ihr Verhältnis zu einem ganz alten Mann gingen um. Lernte sie mal einen anderen Jungen kennen, so musste sie damit rechnen, dass er alsbald irgendetwas gesteckt bekommen würde. Frieda zog sich in ihre Träume zurück, in denen auch ihr Kind vor kam. Wie mochte der Junge aussehen? Anfangs erfuhr sie noch, dass der Junge gesund sei und später gar nichts mehr. Dem Kind erzählte man, die Mutter sei bei der Geburt gestorben. Sein Vater sei ein uralter Mann. Später erfuhr er die Wahrheit, viel später, da war die Mutter längst tot.
Für Frieda gab es kein gutes Ende. Trotz ihrer Begabung, immer wieder das Beste aus allen Situationen zu machen, erlitt sie im Winter 1938/39 einen schweren Rückfall und verstarb am 21. Januar 1939 im Kolberger Krankenhaus. Sie konnte den Fluss sehen und die Weidenbäume, unter denen sie als Kind so gern gesessen hatte. Bruder Werner war wie sein Vater Vater Soldat geworden und diente bei der Wehrmacht. Frieda aber, gerade erst 24 Jahre alt geworden, beerdigte man auf dem Maikuhlefriedhof. Die Kunde ihres Ablebens drang auch nach Kassel, wo Kurt nun erst recht beschloss, den Fall Frieda aus seinem Gedächtnis zu tilgen. Das Leben sollte schwer genug werden in den kommenden Jahren. Als der heranwachsende Egon erfährt, dass Paula Dreyer nicht seine Mutter ist, bricht für ihn eine Welt zusammen. Er meint sich die strenge Behandlung erklären zu können, die ihm während seiner Kindheit widerfuhr. So manchen Streit sieht er in einem neuen Licht. Und auch den Rauswurf, er könne ja gehen, Paula wirft ihm wutentbrannt einen Putzlappen vor die Füße. 
Sein Vater Kurt, so mutmaßt Egon später, habe ihn wohl nur adoptiert, um an sein Erbteil zu kommen. Kurt ließ sich in der Tat beglaubigen, dass Egon der Sohn von Frieda Dreyer ist. Da ihr Bruder Werner 1943 bei Pavolotsch fiel, gab es die Dreyerschen Erben nicht mehr. Das Erbe stand ja dem minderjährigen Sohn und somit zunächst verwaltend seinem Vater zu. Nach dem verlorenen Krieg war davon nun nichts mehr vorhanden. Egon hatte auch das verloren. Mit seiner Volljährigkeit hielt es ihn nicht mehr zu hause. Kurt beließ es bei der lapidaren Feststellung, der Junge könne jederzeit zu ihm kommen. Für Egon war jedoch jeder Anreiz, zu hause zu bleiben, auch durch den Tod seines Lieblingshalbbruders Wolfgang, verschwunden.
Dessen Tod war eine Folge der schweren Kämpfe um Monte Cassino im Jahr 1944 gewesen. Zwar war die im Kampf erlittene Verletzung nicht tödlich gewesen, aber durch die Bombardierung des Lazaretts kam er durch den Einsturz einer Zimmerdecke ums Leben. 
Der älteste Halbbruder Siegward war kein Trost für ihn, der Altersunterschied mag eine Rolle gespielt haben. Siegward gerät an der Westfront in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Egon geht auf Wanderschaft, arbeitet im Bergbau im Raum Aachen und bei den Amerikanern in Frankfurt als Wachmann. Letztlich siegt aber das Heimweh, er kehrt nach Kassel zurück und noch einmal geraten Vater und Sohn aneinander. Dennoch bleibt er Rothenditmold oder dem Rothenberg, wie er sagt, verbunden.
Vom Streit erzählte er mir bei einem meiner letzten Besuche. Das er seine leibliche Mutter nie gesehen hat, war für ihn eine besondere Tragik.
Wenn er wüsste, wo ihr Grab sei, sagte er einmal.

Es fällt schwer, sich das Schicksal von Frieda Dreyer vorzustellen, denn ich habe kein Foto meiner Großmutter. Nachforschungen nach ihrem Bruder, meinem Großonkel, bei der Deutschen Dienststelle (WASt), führten bislang zu keinem Ergebnis. Zwar bin ich vermutlich der nächste noch lebende Angehörige, aber ich kann es nicht beweisen. Das für die Ostgebiete zuständige Standesamt I in Berlin verweist auf Bearbeitungszeiten von zwei Jahren und antwortet nicht auf meine Schreiben. Datenschutz in Deutschland, ich habe keine Hoffnung auf weitere Informationen.

Exkurs: Kolberg - Der muß hinaus - Der muß hinaus!  

Nachwort 1929

1929 - in diesem Jahr fielen die Katastrophen im Leben der Friede Dreyer mit denen der Weltgeschichte zusammen. Die Weltwirtschaftskrise und das Erstarken der NSDAP sind schlechte Rahmenbedingungen für ein von Krankheit geprägtes Leben. Tb entsteht heute nicht mehr so oft und ist heilbar. Unter den heutigen Lebensbedingungen wäre Dreyers wohl ein längeres Leben vorhersagbar gewesen. Andererseits, die Vernunft durch eine gesündere Lebensweise älter zu werden, wurde wohl oft genug vom Wunsch nach dem Leben verdrängt.
Dies trifft zu mindest auf Elisabeth und Johannes Dreyer zu.
Frieda wird entweder unter dem Verlust des Kindes gelitten haben oder diesen durch ihren Lebensstil verdrängt haben. Die Wahrheit liegt meist in der Mitte.
Am allerwenigsten wird sie Probleme mit dem konservativen Zeitgeist gehabt haben. Denn Kolberg und Pommern waren mehrheitlich der NSDAP und den anderen konservativen Parteien zugetan. Daran kann auch die bürgerliche Sicht auf kommunistische Aktivitäten nichts ändern. Man ertrug sein Schicksal und dachte gar nicht an etwas anderes. Oder man war euphorisch und aufgeschlossen gegenüber den sich ändernden Bedingungen. Man lernte nichts aus der Niederlage des ersten Kriegs, sondern wollte Revanche, um die Schmach von Versailles zu tilgen. Das ging durch alle Bevölkerungsschichten.
So starb 1943 auch Werner Dreyer viel zu jung bei einem Ort namens Pavolotsch, der ca. 100 km südwestlich von Kiew liegt. Die Bevölkerung des Ortes bestand überwiegend aus Juden, die alle die deutsche Besetzung nicht überlebten. Werner ist hier vermutlich in einem Massengrab beerdigt. Ende 1943 wurden selbst kleinste Orte hart umkämpft. Auf Vorstoß folgte Gegenvorstoß. So überlebten "schneidige" Kommandeure oft den Krieg, viele ihrer Soldaten nicht. Man riskierte bei den Vorstößen oft von den eigenen Truppen abgeschnitten oder gar eingekesselt zu werden. Doch letztlich ging es am Ende nur zurück und versank auch in der heutigen Ukraine oftmals Mann und Gerät im schlammigen Tonboden.
Frieda immerhin erkämpfte einen schmerzvollen Triumph des Lebens über den Tod. Und auch das nicht immer glückliche Leben meines Vaters relativiert sich, wenn man die Zeilen seines Halbbruders Siegward liest, der zum Schluss mit der Panzerfaust den Endsieg erreichen sollte.

"... Es ist vorbei, wir sind umstellt.
Vier leben noch. Die ander'n?
Zerfetzt, verblutet und zerschellt
sie schon im Jenseits wandern.

Wie haben alle zwölfe wir
am Leben heiß gehangen.
Acht sind nun stumm, die letzten vier
zermürbt, besiegt, gefangen."
(aus Siegward Dreyer, Der Opfergang)


Ich bin froh, in Frieden hier am Kolberger Hafen zu stehen und auf die See hinaus zu sehen.

Dank sagen möchte ich an dieser Stelle der einzigen Person in der Familie Dreyer, die mir betätigt hat, was ich schon wusste. Es ist meine Halbcousine, wenn man es genau nimmt. Danken möchte ich auch dem Betreiber der Pommerndatenbank, Herrn Gunthard Stübs, für die Möglichkeit in seinen Adressbüchern nachzuforschen. Neben den amtlichen Dokumenten, die mir vorliegen, haben mich die zahlreichen Berichte im Internet und Lebenserinnerungen in gedruckter Form inspiriert. Stellvertretend sei hier das Buch von "Tina Georgi, Mein Leben im Wechsel der Zeit" genannt. Solche Quellen sind ungemein wertvoll, weil sie etwas über die damalige Denkweise der Menschen aussagen.
In diesem Zusammnhang möchte ich auch Frau Lieselotte Dumtzlaff erwähnen, die mir freundlicherweise den Beitrag Ihres Mannes, Ernst-August Dumtzlaff, im vergriffenen Buch "Die letzten Kriegstage - Ostseehäfen 1945"
zur Verfügung stellte. In seinem Bericht "Ich war dabei beim Kampf um Kolberg" wird die Zeit noch einmal lebendig.




Dienstag, 28. August 2012

2010 - I

Sweet Fires in The Night


Der Vollmond fliegt vorbei
am Fenster.
Wie lange noch sehe ich
Gespenster?
Die Nacht umschließt
meine Reise.
Sie singt eine
alte Weise.
Am See sind alle Stühle leer
und mein Herz, es wird süßlich schwer.

Montag, 27. August 2012

2009 - VI

Manches Mal

Manchmal bin ich nicht ganz dicht,
dann werde ich Dichter.
Manchmal haben wir Sommer
und die Termine lichter.
Manchmal geht ein Mensch
und es fehlen Gesichter.
Manchmal liebe ich nicht
und werde zum Richter.
Manchmal passt eben
gar nichts in irgendeinen Trichter.

Mittwoch, 22. August 2012

2009 - I

Wieder Neujahr
Wie wird man mit einem verlorenen Gefühl fertig? Ganz einfach, gar nicht. Gefühle verliert man nicht. Sie sind Teil des Selbst, sie lassen sich nicht ausbuchen. Welchen Termin man sich auch setzen mag, er ist von vorn herein nichtig. Mit der verlorenen Liebe ist es so, wie mit einem verstorbenen Menschen, den man geliebt hat. Auch er ist nicht mehr Teil des Alltags genau wie ein geliebter Mensch, der nicht da ist oder nicht da sein will oder kann. Aber würde man behaupten, den Verstorbenen, den habe es nicht gegeben? Das wäre ein Selbstbetrug, der höchstens im Kopf funktioniert. Um vergangene Liebe trauere ich so wie um einen Toten. Es bleibt aber im Gegensatz dazu immer die Hoffnung, dass die Trauer unerwartet unterbrochen wird. Und wenn nicht, wird auch die stärkste Trauer sich einmal mindern müssen. Sie wird weniger ein Teil sein als eine schöne Erinnerung.

Sonntag, 19. August 2012

2008 - IV

Neu Fahrland - Far away

Der Kirchberg
und die Seen pur,
die Wälder
prägen die Natur.
Wer wandert
über Brücken ein,
der findet
Wege, Lampenschein.
Steg am See
mit Tanz und Wonne,
Lichterglanz,
Gesang und Sonne,
Far away,
so weit zu fahren
nach Fahrland:
far away, so far too long.



Montag, 13. August 2012

2006 - VI

I came in from Metallica zappin'

Keinen Besuch mehr
sagt der Mann,
wünscht er sich, was soll
es bringen,
Zeitreiter ihre
Sense schwingen.
Die Ernte ist gut,
die Zeiger
singen die Strophe
der Einkehr
in Heimatdingen.

Freitag, 10. August 2012

2006 - III

Irgendwann

fing die Unruhe an,
als das Drehen
der Räder begann.
Irgendwann werden
Zahnräder enden
nicht mehr greifen,
den Zeiger nicht
wenden.

Sonntag, 5. August 2012

2005 - XI

Mutter

Du drehtest dich weg und hattest die Kraft nicht mehr.
Dein Lachen war berühmt.
Du konntest das Leben nicht erwarten.
Dein Lachen ist unvergessen.
Du warst so still und doch so laut.
Du hast bekommen, was Du wolltest.
Du sagtest zu mir, das wird schwer.
Du fragtest mich, wann ich wieder komme.
Du wolltest nicht in ein Krankenhaus.
Dein Lachen war beliebt.
Dich habe ich gehört und nicht gesehen.

Mittwoch, 1. August 2012

2005 - VII

Zero Ground

Where I stand
is where I was
before and now.
Nothing happened
and will ever be
that's what I can see.
No time to
fall in tears
or even fears. .
Just a little of
"being pissed of
feeling" creeping
into my intention.
But I am
where I stand
before and now and then:
".. aint't no way to express
myself on zero ground."