Mittwoch, 21. November 2012

ISRAEL

2. März 1981
Abflug aus Frankfurt, beweise, dass ich nicht zu feige bin, nach Tel Aviv zu fliegen.
Ankunft 19.30 Uhr Ortszeit, nachdem ich das Gepäck bekommen habe, wechsle ich Geld, finde die Touristinformation nicht und verlasse den Flughafen. Statt den Bus zu nehmen, lasse ich mich mit einem Taxi für 96 Schekel in die Hayarkon Street fahren. Vorher wäre mir in dem Gewimmel von Taxifahrern, die dauernd auf mich einredeten, fast wäre mein Rucksack verloren gegangen! Wir werden (ein Mädchen aus Yorkshire ist auch dabei) zu einem privaten Jugendhotel gefahren.  Die Betten sind elendig, Frühstück gibt es nicht, dafür zahle ich nochmals 39 Schekel.
3. März 1981
Am anderen Morgen stehe ich sehr früh auf, dem Rat eines sehr netten Engländers folgend, und erreiche das Kibbutz-Office für Volontäre. 
Dort bin ich einer der ersten Volontäre und soll nach Massada fahren. Das liegt in der Gegend, die ich als ersten Wunsch geäußert hatte. Die Volontäre seien dort sehr zufrieden, die körperliche Arbeit tue mir gut. Die Formalitäten sind schnell erledigt, da ich meine Versicherung bereits abgeschlossen habe und nicht, wie die anderen, den Betrag, der niedriger ist als in Deutschland, erst auf der Bank einzahlen muss. Mein Bus geht erst um 12.00 Uhr, so lasse ich das Gepäck zunächst im Office und sitze am Strand von Tel Aviv mit meinen Gedanken über die verlorene Beziehung.  
Es muss schon ungefähr 11.00 Uhr gewesen sein, als ich in Englisch angesprochen werde. Ein Typ mit langen Haaren will von mir die Uhrzeit wissen und wir kommen ins Gespräch. Ich erzähle ihm, dass ich nach Massada fahre. Er kennt sich gut aus, ist seit zwei Jahren nicht mehr in Deutschland gewesen und sagt mir einiges über Massada. Obwohl er sagt, das es gut sei, veranlassen mich zwei Dinge, zum Office zurückzugehen. Der Kibbutz liegt an der Grenze und außerdem scheint die Arbeit schwer zu sein. Er kommt mit mir zum Office und amüsiert sich offensichtlich über meine Befürchtungen. In meinen Augen waren die Nachteile jedoch schwerwiegend genug, um auf Änderung zu drängen. Zurück im Office fand ich nun auch die Sekretärin vor, die etwas freundlicher war als ihr Chef. Ich bat sie, mich doch in ein anderes Kibbutz zu vermitteln mit der Begründung, ich wolle nach Gilboa, vielleicht nach Tel-Josef oder En Harod. Das waren die einzigen Namen von Kibbutzen in der Gegend, die ich kannte. In Tel-Josef war ein Platz frei und ich machte mich sofort auf den Weg zur Busstation, von wo aus ich fast ohne Wartezeit nach Afula weiterfuhr. Im Ganzen war ich froh, nach Tel-Josef zu kommen. 

Tel-Josef, warum? Meine verflossene Flamme schwärmte davon, dort hatte sie ihre unvergessene erste Liebe kennengelernt und mir schien das nun ein geeigneter Ort, um meine Wunde zu kurieren. Vielleicht wollte ich auch nur noch ein bisschen darin rumrühren. Denn die Hoffnung, dass es Leute gab, die sie kannten, war wohl eine der Motivationen. Tel-Josef wurde in den Zwanziger Jahren gegründet. Da das Land eigentlich sumpfig gewesen war und von den jüdischen Siedlern erst trocken gelegt werden musste, standen die Häuser für die Volontäre auf Pfählen. Sie waren aus Holz und im Winter mit Holzöfen in jedem Haus zu beheizen. Obwohl eigentlich, mit Etagenbetten ausgestattet, schliefen in der Regel nicht mehr als zwei Volontäre in jedem Haus. 
Gleich nach der Ankunft wurde mir das Zimmer zugewiesen und ich bekam meine Arbeitskleidung, blaues Hemd und Hose sowie Stiefel. Die Volontäre arbeiten 6 Stunden am Tag 6 Tage lang von 7 Uhr morgens bis 1 Uhr mittags, nachmittags und der Samstag (Shabbat) ist frei.  
Das Lager der Volontäre war etwas abseits des eigentlichen Kibbutz gelegen, die Kibbutzniks wohnten in Steinhäusern und nur gelegentlich hatten Volontäre engeren Kontakt oder wurden sogar in deren Wohnungen aufgenommen. 
Außer einigen Deutschen, die so wie ich nur einen Monat bleiben wollten, gab es u.a. Amerikaner, Engländer und Südafrikaner, die die Aufenthaltsdauer aus persönlichen Gründen so lange wie möglich hinauszögerten. Prinzipiell gabe es eine Aufenthaltserlaubnis nur für maximal drei Monate. Länger ging nur mit Zustimmung der Kibbutzverwaltung und Erteilung eines Verlängerungsvisums. 
Während die Deutschen meist religiöse Gründe für Ihren Aufenthalt angaben, Waren einige Amerikaner aus der Armee desertiert und auf der Flucht.   
Meine Arbeit bestand nun darin, morgens zur Grapefruiternte auszurücken. Die Bäume waren zum Glück nicht zu hoch, denn das Abreißen der Früchte von unten war nicht gern gesehen. Der Stiel in der Mitte der Frucht sollte nicht heraus gezogen werden. Am Vormittag gab es immer noch ein kleines Picknick zwischen drin. 
Gespräche zwischen Einheimischen und Volontären kamen je nach Herkunftsland zustande. Mit einem südafrikanischen Volontär wurde oft über von beiden Ländern erprobte Waffensysteme gesprochen.
Palästinenser kamen eigentlich nicht vor, wir sahen sie nicht und hörten immer nur von den "Indianern". 
Das meint wohl soviel wie die Eingeborenen. 
Natürlich gab es auch den Innendienst. Wer Küchendienst hatte, musste in der Regel den Abwasch besorgen. Wenn ich mit meinen Stiefelabsätzen durch die Küche knallte, erntete ich etliche angstvolle Blicke. Ältere Frauen, die dort arbeiteten hatten an deutsche Stiefelträger offensichtlich keine guten Erinnerungen. Meine Aufgabe war aber nur das Reinigen der Kübel in den großen Waschbecken.  
Auch der Kuhstall hatte mal einen neuen Anstrich nötig. An diesen Arbeitstag erinnere ich mich noch sehr intensiv wegen des Geruchs und der Dunkelheit. Somit war die Ernte draußen immer noch das beste.
Das Leben bot nicht viel Aufregendes, schnell relativierte sich die idealistische Geisteshaltung der Anfangstage. Nachmittags lagen die Volontäre in der Sonne und das Anfang März. Das frühe Aufstehen setzte mir jedoch arg zu und die Küche brachte nicht unbedingt zu Kräften.
Das vertraute Graubrot half etwas, aber ansonsten überwog das Abgebot an frischer Kost: Quark, Milch und Salate, Obst. Alles natürlich aus eigenem Anbau bzw. eigener Erzeugung. Wurst im vertrauten Sinne fand ich nicht, wenn es Fleisch gab, war es blutleer und fade. Zu den Spezialitäten der Küche, z.b. Fischköpfen fehlte mir der Zugang. 
Zu den Highlights gehörte noch die Zapfstelle für Mineralwasser. 
Es gab zwar Taschengeld, aber das war nicht zu reichlich bemessen, schließlich mussten das abendliche Bier und die Zigaretten bezahlt werden. Es gab eine kleiner Bar, in der wir uns trafen und schon bald wurde ich dort persönlich angesprochen: „Jetzt kommt das Leben.“ Aber immerhin bekam ich Komplimente für mein Englisch: „They teach you a proper English“.
Wir blieben unter uns und hatten auch nicht den Überblick über das, was
tatsächlich alles im Kibbutz hergestellt wurde. 
Denn nicht in jedem Bereich durften Volontäre arbeiten. Es ist passiert, dass Frauen z.b. drei Wochen „Dish wash“ machen mussten, ohne das diesbezügliche Beschwerden Erfolg hatten.  
Das Kibbutz war nachts bewacht und so fühlte ich mich wie in einem Lager in einem Lager. Eine Bedrohung durch eine fremde Umwelt lag immer in der Luft. Im Grunde lebten die Kibbutzniks an der Frontier. Wir erlebten nie kriegerische Handlungen, insgesamt schien diese Gegend jetzt ruhig (zwischen Afula und Bet She‘an).
Israel war groß geworden die Grenzen verschoben und wohl niemand dachte an die Rückgabe von erobertem Land. Wenn es eine politische Stimmung gab, so war die nach deutschen Maßstäben gemessen, ungefähr sozialdemokratisch. 
Es gab jemanden, der zuständig war für die Belange der Volontäre und das war im Großen und Ganzen der einzige Ansprechpartner. 
Ab und zu sah ich mich nachmittags in der Gegend um, kam bis zum Kibbutz Nir David und fand diesen natürlich viel schöner als Tel-Josef. Die Wochenenden bestanden ja nur aus einem Tag, der am Freitagabend mit dem Shabat-Essen begann. 
Am Samstag irgendwo hinzufahren war recht witzlos, die Busse verkehrten nicht so wie an den Werktagen und in den Orten gab es dann kein Leben. 
Manche Volontäre machten trotzdem Ausflüge, hatten aber Mühe, am Samstagabend wieder im Camp zurück zu sein. 
Es war mir insgesamt zu anstrengend. Meine Flamme hatte keinen so überragenden Eindruck im Kibbutz hinterlassen. Es erinnerte sich kaum einer an sie. Hier kam ich also auch nicht weiter. 
Es blieb bei kleinen nachmittäglichen Ausflügen in die nähere Umgebung: Afula und Bet She’an, wo es ein römisches Amphitheater zu sehen gab.    
Die rein israelischen Städte sagten mir nicht besonders zu. Es fehlte die Historie, alles hatte den gleichen, provisorisch wirkenden Stil. Weisse Flachdachzweckbauten ohne sonderlich gepflegte Umgebung, Tel Aviv hatte schon ähnlich gewirkt, nur größer, aber eben ohne die Vorzüge westlicher Großstädte. 
In Afula gab es an der Bushaltestelle einen Imbiss, wo ich zum ersten Mal Falafel probierte, das kulinarische Highlight meines Israelurlaubs. 
Die Tage verstrichen und ich bezweifelte, die volle Zeit hier hinter mich zu bringen. Das Fasching auch im Kibbutz gefeiert wurde, war eine neue Erfahrung. Die Kibbutzniks „adoptierten“ die Volontäre und statteten diese mit „Kostümen“ aus. Die besten Kostüme wurden dann prämiert. Ich betrieb insgesamt auch hier einen minimalistischen Aufwand. Mit Hut und Jacke und als klassischer Cowboy tat ich das, was ich am besten konnte: abhängen. Sehr zum Leidweisen eines amerikanischen Mädels aus L.A., die fand das alles viel lustiger als ich. 
Sie biss sich ebenso die Zähne aus wie das nette Schweizer Mädel, als wir nachmittags mal Richtung Nir David unterwegs waren. Wir wanderten und verliefen uns, aber schafften es doch zum Glück wieder zurück nach Tel-Josef.
Als sie dann abends in meine Hütte stolperte und Feuer für die Zigarette brauchte, gab ich ihr welches und das war’s..
Irgendwie stand mir der Sinn nach besserer Organisation, die Anlage von Nir David imponierte mir ebenso wie Hefzi Bah mit seinem japanischen Garten. Es war vielleicht doch ein Fehler, nach Tel-Josef gegangen zu sein, mir fehlte die Unvoreingenommenheit.
Ich musste also zur Kibbutzverwaltung und holte mir am 24. März meine Bestätigung über den Aufenthalt in Tel-Josef ab. 
Ich fuhr nach Nir David, nahm Abschied von allen Bekannten und bemühte mich dort um Aufnahme. 
Das war auch kein Problem, es gab zwar ein paar Fragen wegen des Wechsels, aber die Frau von der dortigen Verwaltung akzeptierte meine Gründe. 
Ich wurde dem Zimmer eines jungen Franzosen zugeteilt. Der Tag der Ankunft im Kibbutz ist ja arbeitsfrei, so hatte ich den Nachmittag Zeit, alles zu erkunden. 
Alles war besser als in Tel-Josef, so wohnten die Volontäre in Steinhäusern, aber auch straffer organisiert. So gab es Dienstpläne für die Volontäre und die Teilnahme an verschiedenen Veranstaltungen mit den Kibbutzniks war für die Volontäre Pflicht.
Schön und gut, das hörte sich eher nach mehr Aufwand an, war ich vom Regen in die Traufe gekommen? Die Stimmung schein hier eher sozialistisch zu sein.         
Ich ging zurück auf das neue Zimmer. Hier säuselte mich mein französischer Zimmernachbar an und äußerte unverhohlen seine Bewunderung für mich. 
Ich musste zurück, vermisste sofort die alten Holzhäuschen im Volonteers Camp von Tel-Josef und alle vertrauten Gesichter dort. 
So erklärte ich es auch der Frau von der Kibbutzverwaltung: ich habe Freunde dort. Sie verstand, es war kein Problem.
Nun fuhr ich also am gleichen Tag zurück nach Tel-Josef, wo meine Rückkehr  
großes Erstaunen weckte. Volontärinnen standen auf gepackten Koffern und wollten auch weg, konnten nicht mehr zurück. 
Mir war es egal, den Fehler musste ich so schnell wie möglich gut machen.   
Dieses Mal erwischte ich ein Häuschen auf der anderen Seite des Platzes, näher zur Toilette, das sollte sich bald als gut erweisen. Denn schon am Abend kam jemand in der Bar auf die Idee, israelischen Rotwein zu trinken. Ich schmecke noch heute das Fruchtfleisch auf meiner Zunge. Am nächsten Tag bekam ich Durchfall und musste mich krank melden. Im Medical Center bekam ich Kohletabletten, aber ich konnte keine Nahrung mehr bei mir behalten. Obwohl ich schon so gut wie nichts mehr zu mir nahm, musste ich jede Nacht mehrfach die Örtlichkeiten aufsuchen und Wasser von mir geben. Jede Kleinigkeit von Essen löste sofort Geräusche im Bauch aus, die mich fast unverzüglich zur Toilette zwangen. Nicht immer schaffte ich das in der Nacht. Zu allem Überfluss regnete es jetzt öfter. Der Boden weichte auf und die Holzhäuser boten keinen Schutz gegen die feuchte Luft. Da ich nicht mehr arbeiten konnte, quälte mich die Zeit und die Einsamkeit tagsüber. Ich wusste, ich würde es nicht mehr lange aushalten. Es galt zu warten, bis der Durchfall nachließ, also möglichst nicht mehr essen, und dann die letzte Kraft zu sammeln, um nach hause zu entkommen. Ich hatte Angst, nun aber richtig. Am 28. März war es soweit, ich teilte der Verwaltung meine Abreise mit, eine neue Bescheinigung brauchte ich ja nicht. Es könnte höchstens passieren, dass ich am Flughafen nach den Gründen für meine Abreise vor Monatsfrist gefragt werden würde. 
Ich nahm den Bus nach Afula, von dort aus weiter nach Tel Aviv-Yaffo (Ben- Gurion-Flughafen). Mein Flug nach Frankfurt ging erst am nächsten Vormittag.
Also verbrachte ich die Nacht auf den Gepäckförderbändern liegend, schlafend so gut es ging. Die Toilette brauchte ich nicht mehr und nach Tel-Aviv hatte ich keine Sehnsucht. Tatsächlich kam die Frage nach dem „Warum?“, die ich aber überzeugend beantworten konnte. So verließ ich das biblische Land am 29.März 1981.
Im El-AL-Jumbo saß ich neben zwei amerikanischen Damen, die zunächst nach Israel gereist waren und sich nun auf ihre Europarundreise freuten. Sie fanden mich wohl recht nett, aber davon hatte ich nicht viel, da ich meisten Teils wieder döste. Über Grenzschutzbeamte mit Maschinenpistolen in der Hand habe ich mich wohl nie wieder so gefreut, wie beim Ausrollen des Jumbos in Frankfurt. 
Die Amerikanerinnen fanden natürlich auch die sehr nett. 
Mein Gewicht war beim Rückflug etwa um 12 Kilo geschwunden und es dauerte Jahre, bis ich wieder den Stand von vor der Reise erreichen würde. Ein Jahr später hatte ich gerade erst 4 Kilo aufgeholt. 
Meine Flamme schlief nicht mehr in meiner Wohnung, hatte nur noch ihre Möbel dort. Sie kehrte ebenfalls nach Tel-Josef noch im gleichen Jahr zurück. Nach drei Wochen „Dishwash“ verließ sie den Kibbutz und ging nach Hefzi-Bah. Es trieb auch sie immer wieder nach Tel-Josef, obwohl die Arbeit im anderen Kibbutz „besser“ war. Sie traf dort einige Volontäre, die mich kannten und schrieb mir unter anderem: 
„Jane und Debbie verstehen nicht, dass Du nicht zu Ihnen geschrieben hast.“
Die Verdrängung der Kibbutz-Erlebnisse und mein gesundheitlicher Zustand mögen mich daran gehindert haben. Außerdem zählte ich im Kaufhaus M. Schneider die Besucher des Restaurants und las aufmerksam Anzeigen aller Art  in der Frankfurter Rundschau. 

Dienstag, 20. November 2012

Gold - XVII

Wir merken, dass Vater allmählich verwahrlost, die Fingernägel sind zu lang, die Haare wachsen. Wir hinterlassen Geld für die Maniküre. Von seinem Zimmer kann man auf den Balkon gehen. Dort stehen Leute, ich gehe mal hinaus, sehe in der Ferne den eingerüsteten Herkules, wie er ohne Kopf da steht. Vater meint, als ich hinaus gehe, dass er nicht senkrecht nach unten sehen kann, da würde ihm schwindlig. Solche Bekenntnisse überraschen mich, die Sonne scheint nun etwas ins Zimmer.
Immer wieder ermuntere ich ihn, zu essen und mit zu arbeiten Aber er spricht von einer klaren Linie.
Die Kontrolle seiner verbliebenen Sachen wird nun obligatorisch. Es ist aus Bad Wildungen nicht alles mitgekommen. Das Problem ist, Vater kennt die von uns zugekauften Sachen gar nicht. Er könnte also das Einpacken nicht selbst kontrollieren.
Wir wundern uns, dass Vater nicht mal im Rollstuhl sitzen will. Überall im Krankenhaus gibt es doch Leute, die mit Urinbeuteln oder Infusionsflaschen im Gestell sogar gehen.
Eine Krankenschwester fragt uns, ob wir Vater Haftcreme für seine Zähne besorgen können.
Ja, die bekommt er dann aber erst in zwei Wochen.
Wir verlassen das Krankenhaus dennoch etwas erleichtert.
Das einzige Kontaktersinnen der Krankenhäuser besteht in der Regel in der Nachfrage nach Genehmigungen für ärztliche Untersuchungen. So kommt denn auch in der Folgewoche per Fax das Formular für die Genehmigung der CT. Ich frage wieder eine Woche später nach dem Ergebnis. Schließlich macht mir der Gedanke an einen Tumor Sorge.
Es ist immer schwierig, die Ärztin zu erreichen. Meist lande ich zunächst bei einer Schwester.
So erfahre ich beiläufig, dass Vater eine Lungenentzündung hatte, die kuriert werden muß und das er zeitweise über eine Magensonde künstlich ernährt wird. Für Frau Dr. H. ist der Fall klar, ein Hirntumor konnte nicht erkannt werden. Er wird nun weiter behandelt und soll dann erneut in eine Reha-Maßnahme gehen. 
Die Haftcreme für die Zähne habe ich gleich vor der Rückfahrt am Bahnhof gekauft. Aber vor dem nächsten Besuch habe ich sie verlegt und somit nicht dabei. Vater liegt noch im gleichen Zimmer, aber nicht mehr am Fenster, sondern links neben der Tür. Am Fenster liegt jetzt ein unangenehmer jüngerer Kauz, der zum Glück bald das Zimmer verläßt. Die Zweibettzimmer sind länglich geschnitten und haben einen Zugang zum Balkon. Das Gitter am Bett ist wie meistens hoch geklappt. Vater begrüßt mich meistens mit einem Stoßseufzer: „Ach, ach’, ach’“, gefolgt von meinem Namen. Auch die Bemerkung: „Endlich ein Mensch!“ kommt schon mal über seine Lippen. Heute trägt er ein Nachthemd. Wie ich sofort sehe, hat er einen Katheder und bekommt Infusionen. Schwestern reden von einer Braunüle, die Vater sich oft heraus reißt, ohne das ich weiß, wovon die Rede ist.
Wir waren zuvor wieder in seiner Wohnung, ich habe mich getraut, den schwarzen Koffer zu öffnen. Siehe da, Vater hatte komplett für einen Krankenhausaufenthalt gepackt. Was verwertbar ist, insbesondere seinen eigenen Waschzeugbeutel, das nehmen wir mit. Die Wäsche ist jedoch in keinem guten Zustand, wir sehen viele Wäschestücke die unterschiedliche Färbungen haben, offensichtlich hatte Vater mit der Hand gewaschen. Eine Waschmaschine steht nicht in der Wohnung. Gelegentlich hatte ich mit der Nachbarin telefoniert und sie informiert, wo mein Vater liegt. Aber im Krankenhaus werden wir die einzigen Besucher bleiben.  

Montag, 19. November 2012

Gold - XXVI

Es war erneut an Rachel, sich über diese Schreiberei zu ärgern. Was er über Israel und seine Zeit dort berichtet hatte, war ihr zu romantisiert. Das entsprach nicht dem Typen, den sie kannte.Wieso schreibt er immer über seine Befindlichkeiten und sieht nicht, was er den Leuten angetan hatte. Diese Gleichgültigkeit, mit der er alles ab tat. So oft hatte sie gedacht, dass kann er nicht machen und dann machte er es doch.  

Paul dagegen lächelte in sich hinein. Klar gab es da einen Bericht, den er aus Tagebuchaufzeichnungen zeitnah zusammen gestellt hatte Aber wen interessierte der schon, andererseits er wusste, wenn er die Wahrheit nicht ans Licht brächte, sie würde nicht ruhen  und die Spekulation sich verselbstständigen.  

Während er seine deutlich sichtbaren Rippen betrachtete, dachte er vielleicht nicht an Fertiggerichte, aber darüber nach, wie er, ohne mühsam in Kneipen herum zu stehen, an eine Frau kommen könnte.
Eine Kontaktaufnahme ohne großes Drumherum-Gerede, ohne das übliche Balzgehabe und die vertane Zeit.
Zeit, die wie im Kreis herum läuft, so wie eine V60 auf den Gleisen. 
Diese kleine Diesellok, die nur rangiert und Güter für andere schleppt. Die nicht wirklich auf große Tour geht und deren Lauf durch Schienen begrenzt ist. Sie sorgt dafür, dass die Waggons an die richtige Stelle kommen und mit der richtigen Lok fahren. Eine Lok ist eben für den Waggon sozusagen der passende Partner.

Passende Berichte dagegen konnte er sich sparen, da hilft nur die Wahrheit.
  

Samstag, 17. November 2012

Gold - XXV


Es fällt mir nicht schwer, die vorzeitige Heimreise zu organisieren, obwohl wir kein Geld zurück bekommen. 
Einen Tag später kaufen wir für Vater eine Tasche, so daß seine Sachen endlich einen Platz finden, nehmen noch eine Waschzeugtasche mit und beschließen nun, einen Tagesbesuch in Kassel zu machen. Als wir das Krankenzimmer betreten wollen, sehe ich, wie Vater von einer Schwester geführt, die Toilette verläßt. Er trägt einen Schlafanzug. Es ist schmal geworden und geht langsam zu seinem Bett, als er sich setzt, sieht er uns. Er bricht in Tränen aus, „weil ich mich so freue!“. Nachdem er sich beruhigt hat, berichtet er voller Entrüstung, aber fast entschuldigend, dass er auch auf mich geschimpft hat. Kein Besuch zu Weihnachten, keiner zu Silvester..
Da hilft es kaum, dass ich ihm von dem Päckchen berichte. Die Weihnachtskarte ist nicht da.
Das kleine Radio kann er gar nicht bedienen, es funktioniert auch nicht. Mir ist es sehr peinlich. Vater liegt nun allein in dem Zweibettzimmer, hat einen Platz am Fenster. Wir waren zuvor noch in seiner Wohnung und haben die große Pflanze im Wohnzimmer gegossen. Die Nachbarin hat keine Post für ihn entgegen genommen, es liegt noch alles im Briefkasten. Unter anderem hat er Post von der Klinik in Bad Wildungen. Sie informieren ihn über ein neues Behandlungskonzept.
Wir fragen nach der behandelnden Ärztin und sie gibt uns wegen dem Tumorverdacht Auskunft. Der Blutungsrest läßt eine klare Diagnose nicht zu. Erst wenn sich dieser zurück bildet, kann man etwas sehen. Daher soll erneut eine CT vom Schädel gemacht werden. Ich werde gebeten, die Genehmigung erforderlichenfalls per Fax zu geben. Einstweilen wird er medikamentös sowohl wegen der Blutung als auch gegen einen Hirntumor behandelt.
Vater will nicht viel wissen, von dem was ich in Erfahrung brachte. Er bemerkt nur, dass ich hätte Arzt werden können, halbwegs an meine Frau gewandt.
Ich sage Vater, dass ich nun sein Betreuer bin. Darauf lacht er und meint, ich solle aufpassen. Der Gedanke an seine Wohnung beschäftigt ihn noch immer. Ich soll ihm seine Lederjacke und eine gute Hose beim nächsten Mal mit bringen. Er müßte nur mal ein paar Tage zu hause vernünftig essen, dann könne er mit dem Fahrrad wieder weg fahren. Ich zeige ihm seinen Schlüssel, nachdem er mich fragt. Er läßt die einzelnen Schlüssel bedächtig durch seine Finger gleiten und ich halte den Atem an. Schließlich gibt er ihn mir doch zurück.

Freitag, 16. November 2012

Gold - XXIV

Er fragte sich, ob er den Flughafen erreichen würde und bekam wirkliche Angst, es nicht zu schaffen. Da er weniger als vier Wochen im Kibbuzz geblieben war, musste er sich seine vorzeitige Abreise in der Verwaltung betätigen lassen, um in Tel-Aviv überhaupt ein Ticket für den Heimflug zu bekommen, der mit El-Al erfolgen musste.Sobald alles geregelt war, verließ er den Kibbuzz, zu Fuß zur Bushaltestelle und dann mit dem Bus weiter nach Afula, der nächsten Stadt. Dort weiter mit dem Bus nach Tel-Aviv, viel Taschengeld hatte er zuletzt nicht gebraucht und so leistete er sich ein Taxi zum Flughafen. Nach Erledigung der Formalitäten verbrachte er die Nacht auf dem Gepäckband, da der Abflug nach Frankfurt erst am nächsten Morgen möglich war. 
So verließ er das Land der Kibbuzzniks und Indianer. Indianer, das waren die einheimischen Araber aus der Sicht der Kibbuzzniks. Mit dem Ein- und Ausreisestempel im Pass war für ihn das Reich der Rohkost nun passé. Die Illusionen über das Kibbuzzleben mussten zurück bleiben, vom normalen israelischen Leben hatte er nichts gesehen, außer Afula, Bet She'an und Tel Aviv nichts besichtigt.
Er fand sich neben zwei amerikanischen Damen auf der Reise nach Europa wieder. Sie hatten die wunderbare Eigenschaft, alles toll zu finden inklusive der Bundesgrenzschützer, die mit Maschinenpistolen den Jumbo der El Al beim Ausrollen in Frankfurt sicherten.
Er war aus der Wildnis zurück in seiner Zweizimmerwohnung, in der die Möbel der Ex-Freundin noch immer standen. Um etliche Kilos leichter und um Erfahrung schwerer, die Reise ganz gut überstanden, es sollte länger dauern, bis er wieder vollständig gesund war. 
Er wusste nun, dass er die früher so geliebten Kneipenabende auf Dauer nicht mehr durchstehen würde. Das Gefühl der eigenen Verletzlichkeit und Empfindlichkeit hinsichtlich der Nahrungsaufnahme machte sich breit.
Die unbestimmte Sehnsucht, Frauen anzugraben, die für ihn völlig unpassend waren, wich einer klaren Absicht sich an eine verlässliche Person zu binden.
Noch allerdings war er Student der Anglistik und klammerte sich an die Philosophie. Noch schwebte der Plan, in England zu studieren in seinem Kopf herum.
Einstweilen beschränkte er sich darauf, nur gut gekochte und industriell produzierte Nahrung zu sich zu nehmen.
  

Dienstag, 13. November 2012

Gold - XXIII

Das Problem mit Bestellungen seitens der Krankenschwestern ist, dass die eine nicht weiß, was die andere bestellt hat. Und das, was bestellt wird, kann ich aufgrund der räumlichen Entfernung erst in zwei Wochen liefern. Aber in Urlaub muss ich nun. Die Hotelwirtschaft ist eisenhart, auch bei einer früheren Abreise gibt es kein Geld zurück. Und die Reiserücktrittkostenversicherung deckt das nicht. Davon abgesehen, rät mir ein jeder, doch in Urlaub zu fahren. 
Nicht gerade eine Entscheidungshilfe sind meine Gespräche mit Dr. Santana, dem behandelnden Art in Bad Wildungen. Zum einen soll ich unterschreiben, dass mein Vater sich erneut einer Schädeltomographie unterziehen muss. Zum anderen informiert er mich noch vor Weihnachten darüber, dass mein Vater aus dem Zimmer genommen wurde, weil er den anderen Patienten zu sehr gestört hat, zum anderen fordert er mich auf, zu sagen, was ich in einer lebensbedrohlichen Situation tun würde. Wegen des Verdachts auf einen Hirntumor habe er wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben. Der Schädeldruck sei angestiegen, was ein Indiz sei. Auf Nachfrage erwidert Dr. Santana, wir reden über Monate. Wahrscheinlich würde es Vater sehr oft schlecht gehen und er müsse im Ernstfall künstlich beatmet werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Vater das will.
Ich finde die Diskussion über ihn am Telefon widerlich. Meine Vorstellung, noch einige Zeit mit Vater gewonnen zu haben, zerrinnt mir.
Ich habe einen Umschlag mit dem Namen meines Vaters angelegt und die Kaufbelege für seine Sachen da hinein getan. Dr. Santana ist, wie ich finde, wirklich ein passender Name für einen Arzt in einem nordhessischen Kurort. Der Name beruhigt und macht mich gleichzeitig misstrauisch. Dr. Santana ist an den Feiertagen nicht in Dienst. Ein Oberarzt ruft mich an. Wir sind im Urlaub und haben den Heiligabend Weihnachtslieder brummelnd im Kreise der Hotelgäste überstanden. Mein Handy ist aber immer an. Vater sei nicht mehr zu halten, er dränge sehr auf seine Wohnung. Ich versuche mir vorzustellen, wie der schwache, nörgelige Mann gehalten werden muß. Ich solle zu einem persönlichen Gespräch nach Bad Wildungen kommen. Als ich sage, dass ich in Urlaub bin, erwidert er, dass er das nicht weiß. Wir hatten es in der Klinik und auch Dr. Santana gesagt. Prinzipiell warte ich auf ein persönliches Gespräch mit seinen Ärzten schon lange, ich sichere ihm also zu, am nächsten Tag anzurufen. Der Herr Oberarzt möchte meinen Vater in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen, da er so nicht therapierbar ist. Am nächsten Morgen spreche ich mit der Chefärztin, die mir einen weiteren schönen Urlaub wünscht und meint, ich hätte da was falsch verstanden. Mein Vater solle nach Kassel überwiesen werden, weil man dort die Untersuchung bzw. weitere Behandlung in Sachen Hirntumor machen wolle. Am 28.12. solle die Verlegung erfolgen. Ich bin einstweilen froh und wir lassen uns im Speisezimmer unserer Pension noch ein bisschen von einem jecken sturen Rheinländer im Trachtenlook anglotzen. Die Verhaltensweisen der Menschen ändern sich ja nicht, nur weil es einem selbst nicht gut geht. Der Mann ist ungefähr so alt wie mein Vater. Um wie viel weniger unverschämt ist mein Vater, denke ich bei mir. Der hat nie Ansprüche ans Leben gestellt, war eher mit zu wenig zufrieden.