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Mittwoch, 21. November 2012

ISRAEL

2. März 1981
Abflug aus Frankfurt, beweise, dass ich nicht zu feige bin, nach Tel Aviv zu fliegen.
Ankunft 19.30 Uhr Ortszeit, nachdem ich das Gepäck bekommen habe, wechsle ich Geld, finde die Touristinformation nicht und verlasse den Flughafen. Statt den Bus zu nehmen, lasse ich mich mit einem Taxi für 96 Schekel in die Hayarkon Street fahren. Vorher wäre mir in dem Gewimmel von Taxifahrern, die dauernd auf mich einredeten, fast wäre mein Rucksack verloren gegangen! Wir werden (ein Mädchen aus Yorkshire ist auch dabei) zu einem privaten Jugendhotel gefahren.  Die Betten sind elendig, Frühstück gibt es nicht, dafür zahle ich nochmals 39 Schekel.
3. März 1981
Am anderen Morgen stehe ich sehr früh auf, dem Rat eines sehr netten Engländers folgend, und erreiche das Kibbutz-Office für Volontäre. 
Dort bin ich einer der ersten Volontäre und soll nach Massada fahren. Das liegt in der Gegend, die ich als ersten Wunsch geäußert hatte. Die Volontäre seien dort sehr zufrieden, die körperliche Arbeit tue mir gut. Die Formalitäten sind schnell erledigt, da ich meine Versicherung bereits abgeschlossen habe und nicht, wie die anderen, den Betrag, der niedriger ist als in Deutschland, erst auf der Bank einzahlen muss. Mein Bus geht erst um 12.00 Uhr, so lasse ich das Gepäck zunächst im Office und sitze am Strand von Tel Aviv mit meinen Gedanken über die verlorene Beziehung.  
Es muss schon ungefähr 11.00 Uhr gewesen sein, als ich in Englisch angesprochen werde. Ein Typ mit langen Haaren will von mir die Uhrzeit wissen und wir kommen ins Gespräch. Ich erzähle ihm, dass ich nach Massada fahre. Er kennt sich gut aus, ist seit zwei Jahren nicht mehr in Deutschland gewesen und sagt mir einiges über Massada. Obwohl er sagt, das es gut sei, veranlassen mich zwei Dinge, zum Office zurückzugehen. Der Kibbutz liegt an der Grenze und außerdem scheint die Arbeit schwer zu sein. Er kommt mit mir zum Office und amüsiert sich offensichtlich über meine Befürchtungen. In meinen Augen waren die Nachteile jedoch schwerwiegend genug, um auf Änderung zu drängen. Zurück im Office fand ich nun auch die Sekretärin vor, die etwas freundlicher war als ihr Chef. Ich bat sie, mich doch in ein anderes Kibbutz zu vermitteln mit der Begründung, ich wolle nach Gilboa, vielleicht nach Tel-Josef oder En Harod. Das waren die einzigen Namen von Kibbutzen in der Gegend, die ich kannte. In Tel-Josef war ein Platz frei und ich machte mich sofort auf den Weg zur Busstation, von wo aus ich fast ohne Wartezeit nach Afula weiterfuhr. Im Ganzen war ich froh, nach Tel-Josef zu kommen. 

Tel-Josef, warum? Meine verflossene Flamme schwärmte davon, dort hatte sie ihre unvergessene erste Liebe kennengelernt und mir schien das nun ein geeigneter Ort, um meine Wunde zu kurieren. Vielleicht wollte ich auch nur noch ein bisschen darin rumrühren. Denn die Hoffnung, dass es Leute gab, die sie kannten, war wohl eine der Motivationen. Tel-Josef wurde in den Zwanziger Jahren gegründet. Da das Land eigentlich sumpfig gewesen war und von den jüdischen Siedlern erst trocken gelegt werden musste, standen die Häuser für die Volontäre auf Pfählen. Sie waren aus Holz und im Winter mit Holzöfen in jedem Haus zu beheizen. Obwohl eigentlich, mit Etagenbetten ausgestattet, schliefen in der Regel nicht mehr als zwei Volontäre in jedem Haus. 
Gleich nach der Ankunft wurde mir das Zimmer zugewiesen und ich bekam meine Arbeitskleidung, blaues Hemd und Hose sowie Stiefel. Die Volontäre arbeiten 6 Stunden am Tag 6 Tage lang von 7 Uhr morgens bis 1 Uhr mittags, nachmittags und der Samstag (Shabbat) ist frei.  
Das Lager der Volontäre war etwas abseits des eigentlichen Kibbutz gelegen, die Kibbutzniks wohnten in Steinhäusern und nur gelegentlich hatten Volontäre engeren Kontakt oder wurden sogar in deren Wohnungen aufgenommen. 
Außer einigen Deutschen, die so wie ich nur einen Monat bleiben wollten, gab es u.a. Amerikaner, Engländer und Südafrikaner, die die Aufenthaltsdauer aus persönlichen Gründen so lange wie möglich hinauszögerten. Prinzipiell gabe es eine Aufenthaltserlaubnis nur für maximal drei Monate. Länger ging nur mit Zustimmung der Kibbutzverwaltung und Erteilung eines Verlängerungsvisums. 
Während die Deutschen meist religiöse Gründe für Ihren Aufenthalt angaben, Waren einige Amerikaner aus der Armee desertiert und auf der Flucht.   
Meine Arbeit bestand nun darin, morgens zur Grapefruiternte auszurücken. Die Bäume waren zum Glück nicht zu hoch, denn das Abreißen der Früchte von unten war nicht gern gesehen. Der Stiel in der Mitte der Frucht sollte nicht heraus gezogen werden. Am Vormittag gab es immer noch ein kleines Picknick zwischen drin. 
Gespräche zwischen Einheimischen und Volontären kamen je nach Herkunftsland zustande. Mit einem südafrikanischen Volontär wurde oft über von beiden Ländern erprobte Waffensysteme gesprochen.
Palästinenser kamen eigentlich nicht vor, wir sahen sie nicht und hörten immer nur von den "Indianern". 
Das meint wohl soviel wie die Eingeborenen. 
Natürlich gab es auch den Innendienst. Wer Küchendienst hatte, musste in der Regel den Abwasch besorgen. Wenn ich mit meinen Stiefelabsätzen durch die Küche knallte, erntete ich etliche angstvolle Blicke. Ältere Frauen, die dort arbeiteten hatten an deutsche Stiefelträger offensichtlich keine guten Erinnerungen. Meine Aufgabe war aber nur das Reinigen der Kübel in den großen Waschbecken.  
Auch der Kuhstall hatte mal einen neuen Anstrich nötig. An diesen Arbeitstag erinnere ich mich noch sehr intensiv wegen des Geruchs und der Dunkelheit. Somit war die Ernte draußen immer noch das beste.
Das Leben bot nicht viel Aufregendes, schnell relativierte sich die idealistische Geisteshaltung der Anfangstage. Nachmittags lagen die Volontäre in der Sonne und das Anfang März. Das frühe Aufstehen setzte mir jedoch arg zu und die Küche brachte nicht unbedingt zu Kräften.
Das vertraute Graubrot half etwas, aber ansonsten überwog das Abgebot an frischer Kost: Quark, Milch und Salate, Obst. Alles natürlich aus eigenem Anbau bzw. eigener Erzeugung. Wurst im vertrauten Sinne fand ich nicht, wenn es Fleisch gab, war es blutleer und fade. Zu den Spezialitäten der Küche, z.b. Fischköpfen fehlte mir der Zugang. 
Zu den Highlights gehörte noch die Zapfstelle für Mineralwasser. 
Es gab zwar Taschengeld, aber das war nicht zu reichlich bemessen, schließlich mussten das abendliche Bier und die Zigaretten bezahlt werden. Es gab eine kleiner Bar, in der wir uns trafen und schon bald wurde ich dort persönlich angesprochen: „Jetzt kommt das Leben.“ Aber immerhin bekam ich Komplimente für mein Englisch: „They teach you a proper English“.
Wir blieben unter uns und hatten auch nicht den Überblick über das, was
tatsächlich alles im Kibbutz hergestellt wurde. 
Denn nicht in jedem Bereich durften Volontäre arbeiten. Es ist passiert, dass Frauen z.b. drei Wochen „Dish wash“ machen mussten, ohne das diesbezügliche Beschwerden Erfolg hatten.  
Das Kibbutz war nachts bewacht und so fühlte ich mich wie in einem Lager in einem Lager. Eine Bedrohung durch eine fremde Umwelt lag immer in der Luft. Im Grunde lebten die Kibbutzniks an der Frontier. Wir erlebten nie kriegerische Handlungen, insgesamt schien diese Gegend jetzt ruhig (zwischen Afula und Bet She‘an).
Israel war groß geworden die Grenzen verschoben und wohl niemand dachte an die Rückgabe von erobertem Land. Wenn es eine politische Stimmung gab, so war die nach deutschen Maßstäben gemessen, ungefähr sozialdemokratisch. 
Es gab jemanden, der zuständig war für die Belange der Volontäre und das war im Großen und Ganzen der einzige Ansprechpartner. 
Ab und zu sah ich mich nachmittags in der Gegend um, kam bis zum Kibbutz Nir David und fand diesen natürlich viel schöner als Tel-Josef. Die Wochenenden bestanden ja nur aus einem Tag, der am Freitagabend mit dem Shabat-Essen begann. 
Am Samstag irgendwo hinzufahren war recht witzlos, die Busse verkehrten nicht so wie an den Werktagen und in den Orten gab es dann kein Leben. 
Manche Volontäre machten trotzdem Ausflüge, hatten aber Mühe, am Samstagabend wieder im Camp zurück zu sein. 
Es war mir insgesamt zu anstrengend. Meine Flamme hatte keinen so überragenden Eindruck im Kibbutz hinterlassen. Es erinnerte sich kaum einer an sie. Hier kam ich also auch nicht weiter. 
Es blieb bei kleinen nachmittäglichen Ausflügen in die nähere Umgebung: Afula und Bet She’an, wo es ein römisches Amphitheater zu sehen gab.    
Die rein israelischen Städte sagten mir nicht besonders zu. Es fehlte die Historie, alles hatte den gleichen, provisorisch wirkenden Stil. Weisse Flachdachzweckbauten ohne sonderlich gepflegte Umgebung, Tel Aviv hatte schon ähnlich gewirkt, nur größer, aber eben ohne die Vorzüge westlicher Großstädte. 
In Afula gab es an der Bushaltestelle einen Imbiss, wo ich zum ersten Mal Falafel probierte, das kulinarische Highlight meines Israelurlaubs. 
Die Tage verstrichen und ich bezweifelte, die volle Zeit hier hinter mich zu bringen. Das Fasching auch im Kibbutz gefeiert wurde, war eine neue Erfahrung. Die Kibbutzniks „adoptierten“ die Volontäre und statteten diese mit „Kostümen“ aus. Die besten Kostüme wurden dann prämiert. Ich betrieb insgesamt auch hier einen minimalistischen Aufwand. Mit Hut und Jacke und als klassischer Cowboy tat ich das, was ich am besten konnte: abhängen. Sehr zum Leidweisen eines amerikanischen Mädels aus L.A., die fand das alles viel lustiger als ich. 
Sie biss sich ebenso die Zähne aus wie das nette Schweizer Mädel, als wir nachmittags mal Richtung Nir David unterwegs waren. Wir wanderten und verliefen uns, aber schafften es doch zum Glück wieder zurück nach Tel-Josef.
Als sie dann abends in meine Hütte stolperte und Feuer für die Zigarette brauchte, gab ich ihr welches und das war’s..
Irgendwie stand mir der Sinn nach besserer Organisation, die Anlage von Nir David imponierte mir ebenso wie Hefzi Bah mit seinem japanischen Garten. Es war vielleicht doch ein Fehler, nach Tel-Josef gegangen zu sein, mir fehlte die Unvoreingenommenheit.
Ich musste also zur Kibbutzverwaltung und holte mir am 24. März meine Bestätigung über den Aufenthalt in Tel-Josef ab. 
Ich fuhr nach Nir David, nahm Abschied von allen Bekannten und bemühte mich dort um Aufnahme. 
Das war auch kein Problem, es gab zwar ein paar Fragen wegen des Wechsels, aber die Frau von der dortigen Verwaltung akzeptierte meine Gründe. 
Ich wurde dem Zimmer eines jungen Franzosen zugeteilt. Der Tag der Ankunft im Kibbutz ist ja arbeitsfrei, so hatte ich den Nachmittag Zeit, alles zu erkunden. 
Alles war besser als in Tel-Josef, so wohnten die Volontäre in Steinhäusern, aber auch straffer organisiert. So gab es Dienstpläne für die Volontäre und die Teilnahme an verschiedenen Veranstaltungen mit den Kibbutzniks war für die Volontäre Pflicht.
Schön und gut, das hörte sich eher nach mehr Aufwand an, war ich vom Regen in die Traufe gekommen? Die Stimmung schein hier eher sozialistisch zu sein.         
Ich ging zurück auf das neue Zimmer. Hier säuselte mich mein französischer Zimmernachbar an und äußerte unverhohlen seine Bewunderung für mich. 
Ich musste zurück, vermisste sofort die alten Holzhäuschen im Volonteers Camp von Tel-Josef und alle vertrauten Gesichter dort. 
So erklärte ich es auch der Frau von der Kibbutzverwaltung: ich habe Freunde dort. Sie verstand, es war kein Problem.
Nun fuhr ich also am gleichen Tag zurück nach Tel-Josef, wo meine Rückkehr  
großes Erstaunen weckte. Volontärinnen standen auf gepackten Koffern und wollten auch weg, konnten nicht mehr zurück. 
Mir war es egal, den Fehler musste ich so schnell wie möglich gut machen.   
Dieses Mal erwischte ich ein Häuschen auf der anderen Seite des Platzes, näher zur Toilette, das sollte sich bald als gut erweisen. Denn schon am Abend kam jemand in der Bar auf die Idee, israelischen Rotwein zu trinken. Ich schmecke noch heute das Fruchtfleisch auf meiner Zunge. Am nächsten Tag bekam ich Durchfall und musste mich krank melden. Im Medical Center bekam ich Kohletabletten, aber ich konnte keine Nahrung mehr bei mir behalten. Obwohl ich schon so gut wie nichts mehr zu mir nahm, musste ich jede Nacht mehrfach die Örtlichkeiten aufsuchen und Wasser von mir geben. Jede Kleinigkeit von Essen löste sofort Geräusche im Bauch aus, die mich fast unverzüglich zur Toilette zwangen. Nicht immer schaffte ich das in der Nacht. Zu allem Überfluss regnete es jetzt öfter. Der Boden weichte auf und die Holzhäuser boten keinen Schutz gegen die feuchte Luft. Da ich nicht mehr arbeiten konnte, quälte mich die Zeit und die Einsamkeit tagsüber. Ich wusste, ich würde es nicht mehr lange aushalten. Es galt zu warten, bis der Durchfall nachließ, also möglichst nicht mehr essen, und dann die letzte Kraft zu sammeln, um nach hause zu entkommen. Ich hatte Angst, nun aber richtig. Am 28. März war es soweit, ich teilte der Verwaltung meine Abreise mit, eine neue Bescheinigung brauchte ich ja nicht. Es könnte höchstens passieren, dass ich am Flughafen nach den Gründen für meine Abreise vor Monatsfrist gefragt werden würde. 
Ich nahm den Bus nach Afula, von dort aus weiter nach Tel Aviv-Yaffo (Ben- Gurion-Flughafen). Mein Flug nach Frankfurt ging erst am nächsten Vormittag.
Also verbrachte ich die Nacht auf den Gepäckförderbändern liegend, schlafend so gut es ging. Die Toilette brauchte ich nicht mehr und nach Tel-Aviv hatte ich keine Sehnsucht. Tatsächlich kam die Frage nach dem „Warum?“, die ich aber überzeugend beantworten konnte. So verließ ich das biblische Land am 29.März 1981.
Im El-AL-Jumbo saß ich neben zwei amerikanischen Damen, die zunächst nach Israel gereist waren und sich nun auf ihre Europarundreise freuten. Sie fanden mich wohl recht nett, aber davon hatte ich nicht viel, da ich meisten Teils wieder döste. Über Grenzschutzbeamte mit Maschinenpistolen in der Hand habe ich mich wohl nie wieder so gefreut, wie beim Ausrollen des Jumbos in Frankfurt. 
Die Amerikanerinnen fanden natürlich auch die sehr nett. 
Mein Gewicht war beim Rückflug etwa um 12 Kilo geschwunden und es dauerte Jahre, bis ich wieder den Stand von vor der Reise erreichen würde. Ein Jahr später hatte ich gerade erst 4 Kilo aufgeholt. 
Meine Flamme schlief nicht mehr in meiner Wohnung, hatte nur noch ihre Möbel dort. Sie kehrte ebenfalls nach Tel-Josef noch im gleichen Jahr zurück. Nach drei Wochen „Dishwash“ verließ sie den Kibbutz und ging nach Hefzi-Bah. Es trieb auch sie immer wieder nach Tel-Josef, obwohl die Arbeit im anderen Kibbutz „besser“ war. Sie traf dort einige Volontäre, die mich kannten und schrieb mir unter anderem: 
„Jane und Debbie verstehen nicht, dass Du nicht zu Ihnen geschrieben hast.“
Die Verdrängung der Kibbutz-Erlebnisse und mein gesundheitlicher Zustand mögen mich daran gehindert haben. Außerdem zählte ich im Kaufhaus M. Schneider die Besucher des Restaurants und las aufmerksam Anzeigen aller Art  in der Frankfurter Rundschau. 

Freitag, 26. Oktober 2012

Und nu: Glauchau

Der Plan, einmal nach Glauchau zu fahren, war nicht neu. Auch nicht neu, war der Wunsch,
es nicht zu tun. Man kommt nicht zufällig nach Glauchau. Und die Personen aus meiner Familie, die dort einmal gelebt haben, hielten sich mit Informationen zurück.
Der Weg in den Westen erfolgte sicher für viele nicht ganz freiwillig aufgrund des Einrückens der Roten Armee als Folge der Aufteilung Deutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. 
Ziel einer Glauchaureise war es nun, die beiden bekannten Adressen des Urgroßvaters und des Großvaters zu finden und sich so manches Bild zu machen.
Wir wählten als Anreiseart die Deutsche Bahn. Die Reise sollte von Frankfurt am Main über Fulda nach Weimar und dann nach Glauchau gehen. Da unser Zug bereits in Fulda zu spät ankam, erfolgte die Reise aber über Erfurt und Altenburg/Lehndorf. 
Der Glauchauer Bahnhof ist sehr schlicht gehalten. Außer einer historisch anmutenden Bahnhofsuhr sind im Bahnhofsgebäude mehr oder weniger weiße Wände zu sehen.
Die ursprünglichen Stuckdecken sind weg und lediglich ein kleines Stehcafé und eine Buch- und Zeitschriftenhandlung hauchen der kleinen Halle ein bisschen Leben ein.
Es regnete draußen passend dazu und zum Glück stand wenigstens ein Taxi vor dem Ausgang.
Die durchaus freundliche Fahrerin klärte uns darüber auf, dass in Glauchau nur Rentner leben würden und da nichts los sei. Auch der Einwurf eines Mitreisenden, dass hier seine Eltern geheiratet hätten, beeindruckte die Dame nicht sonderlich. Das „Deutsche Haus“ am Marktplatz sei das einzig gute.
So eingestimmt ratterten wir über das helle Kopfsteinpflaster der August-Bebel-Strasse in Richtung Hotel Meyer, einer ehemaligen Weberei in der Agricolastraße. 
Ein erster Rundgang führte uns zum Marktplatz, wo wir in besagtem „Deutschen Haus“ Kaffee trinken wollten. Die Kuchenauswahl am Nachmittag war jedoch nicht so ansprechend, sodass wir uns nicht zum Bleiben entschließen konnten. Wir fanden den Weg zu einem Stehcafé, gerade noch rechtzeitig bevor die Öffnungszeit um 17 Uhr endete. Wir wurden dennoch ausgesprochen freundlich bedient. Im Tresen sah ich eine mir unbekannte  Spezialität vor mir liegen. Sie schien die hügelige Vorgebirgslandschaft simulieren zu wollen, in der Glauchau liegt. Der Aufläufer ist etwas goldgelb Gebackenes, rund und gewellt. Er wird mit heißer Butter und Zucker und/oder Konfitüre bestrichen und ist ein länger haltbares Gebäck. Aufläufe vor allem an Menschen sollten wir an diesem Tag nicht mehr sehen.
Bei anhaltendem Nieselregen passierten wir die Stelle, an der früher das Nicolaitor stand,
die Umrisse der Durchfahrt rot gepflastert. 
Leer gefegt präsentiert sich die Leipziger Straße, die wir auf unserem Weg zurück ins Hotel besichtigen. Es ist die Einkaufstraße von Glauchau. Doch neben leeren Läden hindert uns vielfach der frühe Ladenschluss an weiteren Einkäufen.
Am nächsten Tag nun wollen wir gut gestärkt zwei Adressen anlaufen. Der erste Weg führt uns zur Körnerstraße. Wir befinden uns in der Oberstadt und passieren auf dem Weg dorthin eine Straße mit dem schönen Namen „Hoffnung“. 
Gewisse Erwartungen haben sich in uns breit gemacht. Erzählungen in der Familie nach, haben meine Mutter und ihre Geschwister in einer Villa gewohnt und in einem Garten mit einem großen Baum gespielt. Als wir die Körnerstrasse erreichen und vor dem Haus Nr. 9 stehen, erkennen wir, dass es sich um ein gut gepflegtes Mehrfamilienhaus mit angebauten Holzbalkonen handelt. Es gibt auch einen Garten mit einem nicht ganz so großen Baum und einigen Gartenhütten. Der Bürgersteig vor dem Haus ist, wie in Glauchau vielfach, nicht asphaltiert sondern besteht aus platt gewalzter Erde mit Steinchen und Sand darin, begrenzt durch Steine. Wir fotografieren uns, das Haus und was wir für wichtig halten und tun bei so, als handele es sich um eine Glauchauer Sehenswürdigkeit. In diesem Haus hat 1936 mein Urgroßvater gewohnt, sein Sohn scheint jedoch, obwohl in der Hirschgrundstraße gemeldet,
seine Familie auch hier untergebracht zu haben. 
Nun pilgern wir also weiter in der Hoffnung, die erwartete Villa vorzufinden, in Richtung Hirschgrundstraße. Wir sehen, das Glauchau ein großes Klinikum hat und folgen der abschüssigen Hirschgrundstraße bis zum Eckhaus Nr.51. Zu unserer Enttäuschung steht das Haus leer und macht einen verfallenden Eindruck. Putz bröckelt von der Außenwand, die Hausnummer scheint noch aus den Tagen unserer Vorfahren übrig geblieben zu sein. 
Im Erdgeschoß stehen ein paar alte Stühle und ein grüner Kachelofen. Durch die Doppelfenster aus Holz lässt sich das schlecht fotografisch dokumentieren. 
Hier also war der Großvater bzw. Vater 1936 gemeldet. Neue Hoffnung keimt in uns auf,
vielleicht handelt es sich gar nicht um besagtes Haus, vielleicht ist hier nach dem Krieg neu gebaut worden. Wir bereuen es, einige Passanten nicht angesprochen zu haben. Eine ältere Frau mit Fahrrad spricht uns an, aber wir lassen sie ziehen.
Schließlich entfernen wir uns von dem mal hellbraun bis gelblich verputzten Haus nicht ohne die obligatorischen Siegerfotos zu machen. Jawoll, wir waren da, aber was hat es uns gebracht? Mir gelingt es dennoch auf dem Weg zur nahe gelegenen Sparkasse in der Sonnenstraße einen alten Mann anzusprechen. Er hat es eigentlich eilig, gibt uns aber dennoch Auskunft. Wir fragen ihn, wann das Haus in der Hirschgrundstraße 51 denn gebaut worden sein könnte. Nach einigem Überlegen meint er, das sei vor dem Krieg gewesen. Ist sich sehr sicher, in der DDR-Zeit habe man ja nischt gehabt. Daher der Verfall.
Meine Internetrecherche ergibt später, dass nach dem Krieg an dieser Stelle auch keine neuen Sozialwohnungen entstanden sind. Mich erinnert der Baustil auch eher an die Zwanziger/Dreißiger Jahre.
Die Hoffnung auf eine Villa zerstört, haben wir nun aber immerhin die Gewissheit, das Haus, in dem der Großvater/Vater mal wohnte, gesehen zu haben. 
Nun wird uns unser Weg weiter zum Gründelteich führen, den wir nach dem Abstieg vom Gründelberg erreichen werden. Wir sind also beim touristischen Teil angelangt und wollen auch noch den Stausee und das Schloss sehen.
Es gibt verschiedene Pfade vom Gründelberg hinunter, einige durchaus mit starkem Gefälle
und steilem Ausblick. Hat in diesem Gelände die Mutter ihre Streiche vollbracht? Ein gewisser Witz scheinen den Menschen hier gegeben, auch wenn wir gelegentlich auf mürrische Zeitgenossen treffen. Wie benutzen jedenfalls die Gründelallee, überqueren die Albertsthalerstraße und gelangen dort über den Naundorfer Wiesenweg zum Stausee, ohne auf ein geöffnetes Lokal zu treffen.
Nach kurzer Besprechung fällt der Entschluss, zurück zum Ort zu gehen. Denn ob das Lokal im Ortsteil Hölzel geöffnet hat, das erscheint uns ungewiss.
Wir nehmen nun die andere Seite des Wegs um den Gründelteich, passieren die wohl längst geschlossene Parkschänke am Gründelhaus und laufen entgegen des Ratschlags eines Einheimischen (se müssen über den Berg nüber) den Hammerdammweg, der uns links an einem großen Kleingartengelände und rechts an dem sumpfigen kleinen Teich Richtung Mühlberg führt. Hat sich mein Großvater in diesem Kleingartengelände versteckt, als er von den Russen gesucht wurde? Möglich scheint es mir. 
Wir erreichen den Mühlberg und den gepflasterten Aufstieg zum Schloss. 
Dort rasten wir ausgiebig bei einem italienischen Lokal. Als wir es betreten und vom etwas mürrischen Kellner angesprochen werden, geben wir zu verstehen, dass wir eigentlich nur mal gucken wollen und lieber draußen Platz nehmen. Na, dann gucken Se mal, meinte der Kellner recht schmallippig. Zum Glück wurden wir von einem sehr freundlichen, einen osteuropäischen Dialekt sprechenden, Kellner bedient. Hier konnte nicht nur der Akku meiner Kamera aufgeladen werden. Die eine oder andere Familiengeschichte ging uns durch den Kopf und gestärkt betraten wir später den Innenhof des Schlosses Glauchau, wobei uns der Unterschied zwischen den Schlössern Forder- und Hinterglauchau nicht bewusst wurde. 
Für 5 € hätten wir an einer Ausstellungseröffnung teilnehmen können, wir wurden darüber aufgeklärt, als wir uns verbotener Weise Zutritt zur Kirche des Schlosses verschafft hatten.
Jedenfalls strömten für Glauchauer Verhältnisse Menschenmengen an uns vorbei. So wird Professor Schnürpel (der Künstler) es verkraftet haben, dass wir uns weiter in Richtung Ort bewegten, vorher jedoch einen Abstecher in die Georgenkirche machten. 
Zwei alte Damen begrüßen uns sehr freundlich und ermuntern uns, die Kirche genauer anzusehen, nachdem wir eingetreten waren. Sie standen uns für unsere Fragen gern zur Verfügung und als eine der beiden erwähnte, dass sie auch für die Familienforschung arbeitet,
waren Hemmungen genommen und es entwickelte sich ein sehr interessantes und anrührendes Gespräch. Schnell war der Gedanke aufgekommen die Eltern/Großeltern könnten hier geheiratet haben, die Kinder hier getauft worden sein. Was sich nun später bestätigte.
In Glauchau wurde erst 1903 eine weitere Kirche in der Unterstadt gebaut. Die Georgenkirche aber war durch den Brand 1712 fast völlig zerstört worden und musste neu aufgebaut werden. Dies obwohl fast alle Bürger der Stadt ebenfalls ihre Häuser verloren hatten. Doch ein Gotteshaus war den Bürgern wichtig. So konnten sie sich ihre eigenen Plätze in der Kirche erkaufen und damit die Finanzierung ermöglichen. Im Zweiten Weltkrieg blieb die Georgenkirche von Beschädigungen verschont, obwohl in den letzten Kriegstagen aufgrund deutschen Widerstands amerikanische Artillerie Glauchau unter Beschuss nahm. Das Schloss wurde beschädigt und viele Einwohner verloren noch Angehörige, als ein Güterzug am Glauchauer Bahnhof bombardiert und getroffen wurde. Vor weiteren Bombenschäden blieb Glauchau im Wesentlichen verschont. 
Werner Löbel aus Kassel war als Flüchtling aus Ostpreußen nach Kriegsende auch in Glauchau und schreibt dazu: "Hier eine kurze Einflechtung im Zeitverlauf. Ich erinnere mich, dass in Glauchau am Bahnhof eine Bretterwand mitten auf der Straße aufgebaut war, die Straße mit den umliegenden Gebäuden diente den Russen als Militärkommandantur und Besatzungskaserne."

Die aktuelle Situation ist vom Exitus der jungen Bevölkerung geprägt. Die Textilindustrie, die hier einst heimisch war, ist fast völlig verschwunden. Während früher Webereien und Färbereien Arbeitsplätze boten, sind es heute Betriebe der Autozuliefererbranche, die sich im Gewerbegebiet positioniert haben. Übrig blieb nur der in den Dreißiger Jahren geschaffene in Stausee, der Frischwasser für die Textilbetriebe bereit stellte. Dazu wurde die Zwickauer Mulde in den Naundorfer Wiesen angestaut.

Die Geschäftsleute in der Stadt beklagen die Situation durchaus plakativ, vor allem den Mangel an Parkplätzen.
Die Zukunft wird hier aber der Pflege älterer Menschen gehören. Gegenüber unserem Hotel wird ein historisches Gebäude zum Pflegeheim umgebaut. 
Nachdem wir im Ratshof tatsächlich ein offenes Lokal, ein Eiscafé, fanden, dürfen wir die Öffnungszeiten des Fremdenverkehrsamtes bewundern. Am Wochenende ist es lediglich am 1. Samstag im Monat von 8-12 Uhr geöffnet. Es ist Samstagnachmittag und die offensichtlich Pause machende Putzfrau hat es sich auf einem der Beratungsarbeitsplätze gemütlich gemacht. Sie überwacht nun, ob wir uns nicht doch noch Eintritt verschaffen.
Offensichtlich finden nicht allzu viele Touristen den Weg nach Glauchau. So ist auch der mit historischen Bildern Glauchaus geschmückte Laden auf dem Marktplatz am Samstag gar nicht auf. Das Café gegenüber der Georgenkirche war zwar offen, aber man hatte eine geschlossene Gesellschaft.
Dass Fremde durchaus eine herzige Begrüßung erfahren können, bemerkte ich auf dem Rückweg ins Hotel. Als ich eine junge Familie durch ein Portal mit der Aufschrift „Freizeitparadies“ gehen sah und mich noch über diese Bezeichnung für eine kleine Grünanlage wunderte, drehte sich der junge Mann um, während ein Autofahrer uns mit „Du Orschloch“ anrief, was ich geistesgegenwärtig mit „Super, klor, danke!“ kommentierte und zunächst dem jungen Mann zurechnete. Wir hatten gar nicht damit gerechnet, dass auf der Straße auch Autos fahren und die Agricolastraße als Fußgängerweg missbraucht.  Sie scheint aber auch wirklich nicht die Pulsader von Glauchau zu sein. 
Vielleicht aber, so ging es mir durch den Kopf, ist „Du Orschloch“ einfach nur ein nett gemeinter Gruß, den sich die Einheimischen gerne sagen.
Es heißt hier ja auch „Guden Toch“ statt „Guten Tag“, Thüringen lässt grüßen und ein reines Sächsisch ist es sicher nicht, was hier gesprochen wird. Also versuche ich mich gegenüber Einheimischen nicht als Nachmacher des Sächsischen zu präsentieren.
Am Abend machen wir noch einen Spaziergang durch die Agricolastraße, die in weiten Bereichen von leerstehenden und verfallenden Häusern geprägt ist zur Lichtensteiner Straße (Grenzstein Glauchau / St.Egidien) bis wir uns dem sowieso geschlossenen Bismarckturm nähern. Dann treten wir den Rückweg durch die ausgedehnte Kleingartenanlage vorbei an der „Gaststätte Gartenfreunde“, die demnächst auch geschlossen haben wird und als öffentliche Gaststätte auch gar nicht erkennbar ist, und stoßen an der Lungwitzer Strasse wieder auf die Stadt. 
Nach einem erholsamen Abend im wirklich empfehlenswerten Hotel Meyer traten wir nun am Folgetag die Heimreise an. Unser Taxifahrer konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als ich ihm von der Begegnung mit dem Autofahrer vom Vortag und seinem „sächsischen Gruß“ erzähle. 
Nun standen wir also wieder am Bahnhof und unterhielten uns über die Umstände, unter denen die Großeltern bzw. Eltern Glauchau verlassen mussten. Ob sie 1948 auch den Zug nach Göttingen genommen haben?
Glauchau erscheint mir wie ein verwunschenes Städtchen. Schon geografisch hat es alles, was man braucht: Fluss, Tal, Berg, von allem etwas, von nichts zuviel. Eine gewisse Ordnung, eine Ober- und eine Unterstadt. Die Leute haben Geduld und eine gewisse Sanftmut, sind freundlich, manchmal mürrisch, nie unverschämt und haben ein Beharrungsvermögen. Hätte es meine Mutter hier ausgehalten?  
Mutter war stets ungeduldig und als die Familie im Aufnahmelager Friedland ankam, hat sie versucht, sich vorzudrängen. Dabei war sie zunächst erfolgreich, wurde dann aber mit der ganzen Familie ans Ende der Schlange zurück geschickt. 
Ja, der Schalk saß ihr stets im Nacken und wenn es etwas von ihr übrig geblieben ist, dann sicher ihr Lachen, das alle, die sie kannten, in Erinnerung behalten werden.     
Was aber werde ich von Glauchau in der Erinnerung behalten? Es erscheint mir wie ein Traum, durch diese Straßen zu laufen, fast traumatisch. Die Realität kann mir hier nichts anhaben. Ich habe das Gefühl, da waren außer unserer kleinen Gruppe noch mehr Menschen in dieser Stadt, die ihre Erinnerung suchten.
„Das könnte schon möglich sein.“ würde meine Mutter dazu sagen und vermutlich versonnen schauen, wenn ich ihr etwas von Glauchau erzählen würde.  





Montag, 3. September 2012

Gold - III

Parsenn

Erstmals ist es mir gelungen, etwas Sinnlichkeit in dieses Schlafzimmer unserer Ferienwohnung zu bringen. Eine kleine Sensorlampe lässt die ansonsten sehr rustikale Ausstattung dieser Wohnung vergessen. Nachts leuchtet allerdings über uns ein Sternenhimmel, in dessen Mitte die Worte „I Love You“ erscheinen. Einziemliches Phänomen und doch eines, das mir besonders am ersten Abend ein Gefühl der Geborgenheit gab. Im Skistall duftet es nach geräuchertem Fleisch, sodass sich einem der Magen umdreht.
Dann gibt es die Eiche in rustikalen Überresten in der Möblierung. Ansonsten ein bisschen Murks im Bad und keine Jalousien vor den Fenstern unserer Parterrewohnung. Nun gehen zum Glück nicht so viele Leute am Fenster vorbei. Vermutlich sind zwei Eichhörnchen die einzigen Beobachter unseres Urlaubslebens.

Eindrücke können sehr oft täuschen. Was als übersinnliches Phänomen erscheint, sind bei Tageslicht dann Pickel auf dem Putz, die mit einer im Dunkeln leuchtenden Farbe gestrichen sind. Eine passive Projektion also.

Mittwoch, 29. August 2012

Der Ort am Meer

So selbstverständlich in Polen die Eingliederung Kolbergs als polnische Stadt angesehen wird und so verständlich die Freude über die erste Stadt am Meer für die Polen ist, die Stadt hat nun mal auch eine deutsche Geschichte. In ihr lebten meine Vorfahren väterlicherseits, abstammend von Julius Dreyer sen. sind dies die Gebrüder Johannes und Julius Dreyer mit ihren Familien und der später nach Kassel verzogene weitere Bruder Kurt Dreyer, außerdem auch die mit ihnen befreundete Familie Fabricius mit Anhang.


Doch nun zur Geschichte Kolbergs:  

Die Stadtbeschreibung Kolberg nach Neumann 1894 sagt dazu folgendes:

Stadt an der Persante (3 km von deren Mündung in die Ostsee); ...Bahnhof der Linie Belgard-Kolberg der Preußischen Staatsbahn und der Altdamm-Kolberger Eisenbahn; Reichsbanknebenstelle, Vorschussverein, Landratsamt, Amtsgericht, 4 Konsulate fremder Länder, Hauptsteueramt, 4 evangelische Kirchen (Marienkirche), 1 katholische Kirche, 1 methodistische Kirche, Synagoge, Gymnasium mit Realgymnasium, adliges Fräuleinstift, Waisenhaus, Denkmal Friedrich Wilhelms III. auf dem Mark, Rathaus, Zucht- und Arbeitshaus, Eisengießereien, Maschinenfabriken, Tabaksfabriken, Dampfsägemühlen, Ziegelbrennerei, Solbad, Fischerei, lebhafter Handel (Reederei 1891: 9 Seeschiffe zu 1.732 Registertons). Der Hafen der Stadt, Kolbergermünde mit eigenem Post- und Telegraphenamt, Rettungstation für Schiffbrüchige, Seemannsamt, Seebad, Leuchtfeuer, an der Mündung der Persante in die Ostsee (westlich die Maikuhle), ist befestigt, während die Festungwerke der Stadt beseitigt sind. Geschichte: Kolberg war die alte Hauptstadt des Kassubenlandes, erhielt 1255 deutsches Stadtrecht und kam 1277 an das Bistum Kammin; es nahm 1530 die Reformation an, wurde 1653 von den Schweden an Brandenburg übergeben, im Siebenjährigen Krieg 1758, 1760 und 1761 dreimal von den Russen belagert, nur das letzte Mal eingenommen, nochmals 1807, aber vergeblich, von den Franzosen (Gneisenau, Schill, Nettelbeck).. Kolberg besitzt eine reiche Kämmerei (1660 ha Holz).

Das Ende des deutschen Kolbergs 1945


Überall kämpfte die Wehrmacht im 2. Weltkrieg an der Ostfront seit Jahren ums Überleben. Der Krieg wurde dennoch so geführt, als ob man ihn gewinnen könne. Am Ende ging es aber nur noch darum, möglichst viele Zivilisten zu retten. Seit Monaten herrschte in Kolberg bereits Aufregung wegen der eintreffenden Flüchtlinge aus Ostpreußen. Der Zivilbevölkerung verweigerte man jedoch die rechtzeitige Evakuierung mit dem Hinweis, der Russe sei zurück geschlagen und nichts zu befürchten. Derweil flüchteten die Nazis samt Anhang bereits mit Bussen und den letzten Zügen, die am Morgen des 3. März 1945 Kolberg verließen. Die Stadt wurde vorher von den Nazis zur Festung erklärt, ein neuer Kommandant Anfang März 1945 ernannt.

Die militärische Lage besagt: „Truppen der Sowjets erreichen das Stettiner Haff, das Gebiet vor Kolberg und Dievenov den Übergang nach Wollin.“

Es kam unweigerlich zur Einkesselung von Zivilisten und restlichen Truppen u.a. auch in Kolberg. Ca. 3200 Mann inklusive schlecht bewaffnetem Volkssturm sollten die Stadt so lange wie möglich halten. Am 3. März 1945 wurden die Volkssturmmänner aus ihren Häusern gerufen. Erst am Folgetag begann die Evakuierung von Flüchtlingen. Die Versorgung der Stadt bricht zusammen. Am 5. März 1945 beginnt der Beschuss durch russische Truppen. Die Panzersperren werden durchbrochen und in den folgenden Tagen von Haus zu Haus gekämpft. Vom Hafen erwidern deutsche Kriegsschiffe das Feuer der sowjetischen Artillerie.

Der Beschuss insbesondere mit den Stalinorgeln und zusätzlich Luftangriffe machen die Zivilbevölkerung panisch. Wer es schafft, bis zum Hafen durchzukommen (über die Persante führt nur eine Notbrücke und alles liegt unter Beschuss), steht im großen Gedränge und läuft Gefahr von hinten in das Hafenbecken gestoßen zu werden. Viele ertrinken dabei. Manche verharren apathisch in den Kellern und müssen von den Soldaten heraus geholt werden. Am Hafen entschied sich das Überleben und wurden Familien getrennt. So verstarb am 11.3.1945 Adalbert Fabricius, seiner Frau Emilie gelang die Flucht. Trotz allem wurde im Krankenhaus noch operiert, bis dann die Verwundeten und das Personal evakuiert werden. So hält eine Kampflinie noch bis 15. März 1945.

Erste polnische Soldaten wollen in die Stadt. Das Ende zeichnet sich ab. Mehrere Zerstörer verlassen mit Truppen und Flüchtlingen Kolberg. Diese Zerstörer hatten mit in den Kampf eingegriffen. Erst am 18.3.1945 bereiten die Verteidiger ihre Evakuierung vor. Lediglich 350 Mann sollen in Feindeshand geraten sein. Was mit verbliebenen Frauen und Männern passiert, muss hier nicht beschrieben werden. Es ist die Rache der Sieger. Die Toten auch der Sieger werden monatelang unbeerdigt bleiben. Selbst die Maikuhle, das kleine Wäldchen westlich des Hafens ist total zerschossen.


Kolberg - eine Stadt nimmt Gesicht an:


 Die Straße heißt heute: Armii Wojska Polskiego.

Kolberg lebte vom Fischfang und der Salzgewinnung, bevor die Stadt zum Kurort wurde. Das Klima und die Sole machten aus der ehemaligen Hansestadt ein Kurbad.

Kaufleute waren sie, die drei Brüder, Kinder des Fleischermeisters Julius Dreyer sen. Jeder auf seine Weise und nicht jeder dazu geboren. Während Sohn Julius in die Fußstapfen des Vaters tritt,
übernimmt Johannes (mein Großvater) nach seiner Marinezeit einen Kolonialwarenladen und führt ihn mit seiner Frau Elisabeth geb. Prohl. Kurt Dreyer, der dritte Bruder, wird nach seiner Militärzeit Handlungsreisender und wird Kolberg vor 1924 der Liebe wegen verlassen. Seine Frau Paula (eine geborene Kaminski hat er als Soldat kennen gelernt.
Johannes dagegen bleibt in Kolberg und hat bereits zwei Kinder, erst den Sohn Werner 1913 und schließlich Tochter Frieda, die am 30.11.1914 geboren wird. Es sind keine einfachen Zeiten. Der erste Weltkrieg hat begonnen, viele Männer sind freiwillig ins Feld gezogen, doch zu Weihnachten, wie gedacht, sind sie nicht zurück.
Julius jun. und Johannes wohnen beide in der Kolberger Altstadt. Johannes ist in der Lindenallee und später in der Gneisenaustrasse zuhause.
Das Haus Gneisenaustrasse 8 gehörte ehemals der Kösliner Actienbrauerei.  Ein Freund der Familie ist stets der Schornsteinfegermeister Adalbert Fabricius. Seine Schwägerin Anna ist um 1911 bereits verwitwet und lebt um 1911 in der Lindenstrasse. 1924 findet sich ihre Eintragung hier nicht mehr. Adalbert hat eine Frau, Emilie, geb. Finger und ein Kind lebt bei ihnen. Vorher aber noch einmal die in den Adressbüchern dokumentierten Personen und deren Aufenthaltsorte in Kolberg:
1911:
Julius Dreyer sen. Fleischermeister , Lindenstrasse 50;
Julius Dreyer jun. Fleischermeister , Lindenstrasse 50;
Johannes Dreyer Kaufmann, Lindenalleee 48;
Adalbert Fabricius Bezirksschornsteinfegermeister , II. Pfannschmieden 27;
Anna Fabricius geb. Beduhn verw. Bezirksschornsteinfegermeisterin, Lindenstrasse 18.
1924:
Julius Dreyer Fleischermeister , Lindenstrasse 50;
Johannes Dreyer Kaufmann, Gneisenaustrasse 8;
Adalbert Fabricius Bezirksschornsteinfegermeister , II. Pfannschmieden 27.

Als das jüngste Kind von Johannes Dreyer, Tochter Frieda also geboren ist, gibt es Lebensmittel nur gegen Marken und die Seeblockade Englands bewirkt, dass es Kolonialwaren eigentlich nicht mehr gibt. Man muss sich mit dem begnügen, was im Inland verfügbar ist. Man kennt sich in Kolberg und im Umland, gute Kontakte sind überlebenswichtig. So fehlen Johannes und seine Frau Elisabeth auf keiner Feier, auch wenn nun offiziell wenig gefeiert wird. Die Leute sagen, Johannes habe sich kaputt geraucht und auch seine Frau (eine gebürtige Danzigerin) musste den Belastungen Tribut zollen.  Die Inflation nach Kriegsende verführt manch einen dazu, durch den Verkauf von Grundstücken oder Häusern utopische Preise zu erzielen, um Geschäftsverluste vermeintlich auszugleichen. Der Erlös aber war schon bald nichts mehr wert. Davon mag Johannes bei seinem Hauskauf profitiert haben. Mit der Umstellung 1923 in die Renten- und später die neue Reichsmark geht es zunächst wieder bergauf. Ende der zwanziger Jahre ist die Arbeitslosigkeit recht hoch und es bahnt sich die Weltwirtschaftskrise an. Waren sind genug vorhanden, das Geld aber fehlt. Das Leben der beiden Kinder Frieda und Werner spielte sich wegen der Geschäftstätigkeit der Eltern schon früh sehr selbstständig ab. Oftmals waren sie bei der Familie Fabricius, die sich anstelle der Eltern um die beiden kümmerte. Frühzeitig musste auch Werner die Verantwortung für seine Schwester übernehmen. Obwohl Frieda sehr lebenslustig war und vor Energie sprühte, hatte sie doch von Anfang an Probleme mit der Lunge, die durch die knappe Ernährung während der ersten Lebensjahre ungünstig beeinflusst wurden. Tb war in Kolberg eine häufige Erkrankung. So kam es, dass beide Eltern daran erkrankten. Vielleicht begünstigt vom Kontakt mit dem Publikum im Geschäft, unter denen sicher auch der ein oder andere Kurgast war, und auch durch die Lebensweise bedingt, die nicht unbedingt gesundheitsbewusst genannt werden kann, erkrankten beide Eltern daran. Im Februar 1929 schließlich verstarb Johannes Dreyer. Da die Mutter bereits ebenfalls stark beeinträchtigt war und die Gefahr einer weiteren Ansteckung durch die offene Tb gegeben war, sprach alles dafür, Frieda den Aufenthalt in einer Lungenheilstätte zu ermöglichen. Adalbert Fabricius besprach dies mit dem Onkel Kurt in Kassel, der von einer entsprechenden Anstalt in Kaufungen bei Kassel wusste. Dort war gerade ein neues Patientenhaus für Kinder eröffnet worden, somit sollte die Aufnahme kein Problem sein. Die Mittel für die Einweisung in eine Heilkur wurden immer weniger, aber Adalbert konnte erreichen, dass die Kur schnellstens nach der Beerdigung des Vaters bewilligt wurde. Ende Februar oder Anfang März 1929 brachte Adalbert Frieda zum Bahnhof in Kolberg und in Kassel sollte Onkel Kurt sie in Empfang nehmen und nach Kaufungen bringen. Ironie des Schicksals ist es, dass dem Mädchen in einem Kurort für Lungenkranke nicht geholfen werden konnte.

Neben der Altstadt gibt es in Kolberg das Kurviertel, in dem die beiden Kinder ja zu hause waren. Hier spielte sich das Leben auf der Strandpromenade ab, wo die Patienten und ihre Besucher flanierten. Das Strandschlösschen mit seinen Kurkonzerten, die Seebrücke und das Damenwäldchen, aber auch die Altstadt mit ihren Parks und Bürgerhäusern, der Persante mit ihren Weidenbäumen, das Maikuhlewäldchen mit dem Ausflugslokal, all das sollte Frieda bald vermissen. Wie gern wäre sie mit Adalbert und seiner Kutsche wieder an der Persante entlang gefahren.

Exkurs: Kolberg - Weihnachten 1941  

Kolobrzeg
  
Mit donnerndem Krach und einem klirrenden Geräusch knallt mein Schädel vor die Unterkante der Stahlwand über dem Ausgang der Fähre, die uns von Ahlbeck nach Misdroy auf der Insel Wollin gebracht hat. Zwar hatte ich den Kopf schon gesenkt, aber eben nicht tief genug. Der Aufprall entlockte sogar ein paar deutschen Touristen einen Schreckensruf. Ich pralle ein wenig zurück und steige dann doch aus. Wie immer hält das Schicksal für mich ein paar Unannehmlichkeiten bereit, wenn ich etwas zu sehr will. Heute ist es meine Mission, Kolberg zu besuchen, die Stadt meiner Ahnen väterlicherseits. Das polnische Kolobrzeg ist also mein Ziel und davon werde ich mich nicht abbringen lassen. Zum Glück habe ich eine Mütze auf dem Kopf gehabt und die Haare sind auch nicht zeitgemäß kurz geschnitten. Es blutet erkennbar nichts und bis auf den relativ schnell vergänglichen Akutschmerz scheine ich auch sonst keine Nachwirkungen zu haben. Wahrscheinlich hängt alles bloß damit zusammen, dass ich meine Aufregung mit einem vermeintlich günstigem Glas Bier schon zu sonst ungewohnter Stunde dämpfen wollte. Meiner Aufmerksamkeit beim Ausstieg hat das nicht geholfen. Auf der Seebrücke, die ganz anders als auf Usedom schon zu dieser Zeit gut gefüllt ist (wir haben noch frühen Vormittag) empfängt uns Robert, unser polnischer Reiseleiter. Er sieht so aus, wie man sich einen Slawen vorstellt. Dunkelhaarig und klein und mit sehr viel Sinn für hintersinnigen Humor und Doppeldeutigkeiten ausgestattet.
Dass ich wegen des Biers auf dem Schiff nicht mehr auf Toilette gegangen bin, merke ich jetzt.
Macht nichts, ich bin entschlossen, auch das durchzuhalten bis Kolberg. Robert erzählt viel über die Polen nach dem Krieg und heute. Auch über das Ende Kolbergs weiß er einiges. Unter anderem, dass 1943 die 1. polnische Armee aufgestellt wurde und das polnische Soldaten Kolberg eroberten. Das Stalin bestimmt kein Freund der Polen war und die Sowjets ganz einfach nicht den hohen Blutzoll allein tragen wollten, der bei den harten Kämpfen um Kolberg und später auch um Berlin zu erwarten war, kommt nicht zur Sprache. Polnischer Befreiungskampf ist eher das Motto. Kolberg, slawische Staatsgründung, soll nie wieder aufgegeben werden, so schworen es die Eroberer. Diese Stadt scheint eine wahnwitzige Tradition zu haben. Zwischen Wollin und Kolobrzeg liegen an der Küste militärische Sperrgebiete, sodass wir nicht direkt an der Küste entlang fahren können. Stattdessen sind wir ca. 10 km hinter der Küste unterwegs und erreichen schließlich das kleine und gut erhaltene Städtchen Treptow und endlich Kolobrzeg. Völlig unspektakulär beginnt die Stadt völlig austauschbar mit Tankstellen und anderem Gewerbe. Wir überqueren die Parseta und sehen links von uns einen Ring von Hochhäusern, der in etwa mit der Grenze der ehemaligen Altstadt zusammen fällt. Links von den Plattenbauten ist also die Altstadt, rechts die Neustadt. Schnell wird mir klar, dass ein alter Stadtplan hier nichts bringt. Der Plan ist ein schlechter, sagt Robert, als er meinen historischen Stadtplan von 1931 sieht. Unser Bus hält an einem großen Platz, auf dem ein Gemüsemarkt statt findet. Roberts Finger zeigt auf den Kaiserplatz. Hier werden wir wohl sein. Die alte Bebauung Kolbergs soll maximal zweistöckig gewesen sein, später werde ich sehen, dass es durchaus höhere Bürgerhäuser, z.b. im Jugendstil, gegeben hat. Somit ist bei der Wiederbebauung zumindest in Bezug auf die Höhe der Häuser historisch alles richtig. Wir gehen an einer Häuserzeile mit vielen Trödelläden vorbei, davor findet sich ein kleiner Platz mit Blick auf den Kolberger Dom, die Marienkirche. Diese Strasse wird von den Einheimischen die Goldgasse genannt und müsste der früheren Schmiedegasse entsprechen, eine der ältesten Straßen Kolbergs. Die wieder aufgebaute Altstadt entstand erst in den Achtziger Jahren, die großen Plattenbauten rings herum sind älter. Gern haben die Polen alte und verfallende Wohnungen und Häuser aufgegeben, um in einem modernen Plattenbau zu wohnen. Die Belegung der von den Deutschen hinterlassenen Häuser durch polnische Vertriebene erfolgte nicht sofort nach dem Krieg. Es kamen auch nicht so viele Menschen, wie zuvor vertrieben wurden. In Kolobrzeg, wo 90% der Häuser zerstört waren, musste schnellstmöglich neuer Wohnraum entstehen.
"Wir Polen sind keine Kirchenzerstörer." Sagt Robert. In der Tat wurden jedoch auch die noch erhaltenen Kirchen in Kolberg, z.b. die Münderkirche, in den Fünfziger Jahren abgetragen.
Lediglich der Dom blieb schwer beschädigt erhalten. Die Kirche konnte erst in den Siebziger Jahren wieder aufgebaut werden, nachdem durch die deutsche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze Rechtssicherheit auch für die Kirche geschaffen wurde und auch hier die Verantwortung endgültig bei Polen lag. Der Wiederaufbau der Kirche erfolgte so authentisch wie möglich. So entschlossen sich die Polen, schiefe Säulen auch wieder schief aufzubauen, da sonst das Kirchenschiff kleiner als ursprünglich ausgefallen wäre. Gerettete Gegenstände aus der deutschen Zeit stehen an verschiedenen Plätzen. Robert meint, durch die Reformation sei eine Trennung der deutschen und der slawischen Bevölkerung Kolbergs entstanden.
Die Deutschen waren nun protestantisch. Draußen zeigt uns Robert ein Denkmal, das Kolberger Bürger anlässlich des 1000. Geburtstags Kolbergs gestiftet haben. Es soll den Verlauf der deutsch-polnischen Geschichte symbolisieren. Ganz oben verbindet eine Taube die beiden Säulen. Tatsächlich ist die Geschichte Pommerns und Kolbergs keineswegs so eindeutig von einer Seite dominiert worden, wie es gern von polnischer oder deutscher Seite dargestellt wird. Es war ein wechselhafter Kampf zwischen pommerschen Herzögen und Polen, schließlich kamen die Schweden und mit dem Verschwinden Polens wurde Pommern preußisch.
Draußen sind wir wieder in einer fremden Welt. Polen feiert an diesem Tag, dem 2. Mai 2008 den Tag der Fahne, Es ist Feiertag. Robert hat für uns ein Essen in einem Lokal bestellt. Unsere stille Reisegesellschaft hat sich mehrheitlich für sein Angebot entschieden. Wir können im lokal mit Euro bezahlen.
Im Henkerhaus essen wir ziemlich ungewürzte und soßige Schweinelendchen mit Pfifferlingen oder Lachs mit Gemüse. Robert isst nicht mit uns. So ist es recht still. An unserem Tisch sitzt ein alleinreisender Mann aus Ostfriesland. Unser Tischnachbar taut etwas auf, nachdem ich ihm von meinen Vorfahren aus Kolberg berichtet habe. Wir reden dann hauptsächlich über das Kriegsende, darüber hat er gelesen. Ob das Haus wohl ein altes ist, das werde ich später nachlesen müssen. Die dunklen Holzvertäfelungen mit den Gemälden lassen darauf schließen. Nach dem Essen ist die Altstadtbesichtigung zu Ende. Ich wollte eigentlich Ansichtskarten kaufen, das ist aber nicht so einfach. Die Karten sind mit Nummern versehen, diese müsste ich dann einer polnischen Verkäuferin durchgeben. Ich lasse das, versuche ein paar Straßenschilder zu entdecken, was mir aber nicht gelingt. Robert ist auch zurück und wird gleich im Bus erzählen, dass der Bürgermeister heute noch auf dem Platz eine Rede halten wird. Auf der Bühne probt schon eine Musikband für ihren Auftritt.
Der Weg soll uns nun zum Kurviertel führen, wir fahren durch die Neustadt, stoßen an einem Kreisel auf die Straße nach Koszalin (Köslin), die weiter Richtung Danzig führt. Die Plattenbauten der Neustadt grenzen direkt an den Park hinter den Dünen. Bei den Hotels handelt es sich zumeist um ehemalige Erholungsheime für die Beschäftigten der staatlichen Betriebe. Der Bahnhof liegt links von uns, an ihm konnte ich mich aufgrund meines alten Plans orientieren. Die Altstadt und das Kurviertel sind über eine Brücke über die Gleisanlagen zu erreichen. Das, so Robert, bereitet den Senioren oft Probleme. Probleme hat auch unser Busfahrer mit der Parkplatzsuche. Abseits des Kurviertels führen viele Straßen zum Strand quer durch einem Laubengang ähnlichen Park. Wir steigen schließlich an einem Halteverbotsschild aus. Durch ein Spalier von Verkaufsständen gelangen wir geraden Wegs zum Strand. Für die Seebrücke müssten wir Geld bezahlen, also sparen wir uns den Besuch. Links von uns befindet sich der Park, es ist das sogenannte Damenwäldchen. Östlich der Seebrücke befand sich früher das Strandschlösschen. Darüber berichtet Robert nichts. Wir kommen nun an einem Denkmal der Eroberer Kolbergs vorbei. Die Namen der Einheiten sind dort genannt, ebenso einiges an Symbolik zur früheren slawischen Geschichte des Orts. Immer wieder wird eine Brücke aus grauer Vorzeit in die Nachkriegszeit geschlagen. An derselben Stelle stand früher ein anderes Denkmal. Schließlich erreichen wir den Leuchtturm und wieder etwas, was ich auf Anhieb erkenne: die Mündung der Persante ins Meer, begrenzt durch die beiden Molen. Ich werfe einen Blick auf den Fluss und das gegenüberliegende Wäldchen. Robert erzählt nichts darüber, über den Leuchtturm weiß er umso mehr. Der ist 1945 wieder aufgebaut worden. Die Deutschen hatten ihn gesprengt, um der Artillerie kein Ziel für den Beschuss zu bieten. Der russische Stadtkommandant wollte die Versorgung der Stadt sichern, der Hafen war vermint und so mussten gefangene Deutsche den Leuchtturm wieder aufbauen. Dabei wurde das alte Fundament genutzt.
Drei Wege sollen uns zum Bus zurück führen, einer am Fluss entlang, einer durch die Mitte und der letztere zur Seebrücke zurück. Am Hafen entstehen überall Apartments, das Bild eines durch und durch touristischen Badeorts ist bestimmend. Ich fühle mich durchaus unbehaglich, den gemütlich sind die aufgeschnappten Gesprächsfetzen aus der Unterhaltung drei junger Deutscher, die über den Umgang mit Geld reden, nicht. Auch das Angebot der Verkaufsstände ist sehr unübersichtlich. Wir wollen eine Waffel kaufen, die Preise sind günstig, wenn man Zloty in Euro umrechnet. Für einen Euro sollte das gehen. Die Verkäuferin weigert sich jedoch, unseren Euro anzunehmen. Wir sehen weder eine italienische Eisdiele noch eine Fischbraterei. Dafür hätten wir auf Bernsteinschmuck gern verzichtet.
Als ich auf einen Kettenanhänger zeige, nimmt ihn die Verkäuferin gleich aus der Vitrine, um ihn uns zu zeigen. Ich winke ab. Wir sind beide rechtzeitig am Bus und froh, dem Menschengewimmel zu entkommen. Der Park ist von einem deutschen Gartenbaumeister angelegt worden, ein polnischer hat sich nach dem Krieg darum gekümmert und entsprechend wird sein Name gewürdigt. Immerhin ist die Erläuterung auch in deutsch auf der Hinweistafel zu finden. Der Park erweckt in mir ein Gefühl der Vertrautheit, wie eine dichte Decke scheinen die Baumwipfel auf meinem Gemüt zu liegen. Der Bus steht noch nicht direkt am Ausgangspunkt. Pünktlich fährt er dann vor. Wer nicht kommt ist unser ostfriesischer Tischnachbar. Auch nach einer Viertelstunde nicht. Robert telefoniert und schaut in der Jacke des Mannes nach. Wir müssen fahren, denn wir brauchen eine bestimmte Zeit, um unsere Anschlussfähre nach Swinemünde zu erreichen. So bleibt also einer von 13 in Kolobrzeg zurück. Ich frage mich, wie man von hier aus nach hause kommen will. Wir verlassen Kolobrzeg, fahren am Hafen vorbei, überqueren die Persante auf einer anderen Brücke, rechts von uns das Maikuhlewäldchen. Im Fluss sprudeln Quellen. Das Solewasser darf von allen Bürgern kostenlos genutzt werden. Es wird, wie auf dem Markt schon gesehen, gern zum Einlegen von Gemüse genutzt. Wir passieren etliche Kasernen, die für die Deutschen in den letzten Kriegstagen von strategischer Bedeutung waren. Robert sagt immerhin, dass das Hauptanliegen der Verteidiger die Rettung der Flüchtlinge war und dass durch die Sprengung des Leuchtturms ein Versenken der Schiffe nicht erfolgen konnte. Wir verlassen die Stadt völlig undramatisch, überqueren die Schienen einer Kleinbahn, und sind bald wieder auf dem Weg nach Treptow.

Kolberg - ein Nachwort

Es gibt eine Zeit vor meinem Kolberg-Besuch und eine danach. Pommernland ist abgebrannt, soviel ist sicher. Mit ihm sind die Sitten und Gebräuche verschwunden. Da ein Teil Pommerns bei Deutschland verblieben ist, kann man sich jedoch leicht einen Einblick in die Lebensweise der Pommern verschaffen.
Das nachstehende Bild habe ich vor meiner Fahrt angefangen und danach beendet.



Auch wenn die Illusionen des Gelesenen in der Realität schnell zerplatzen, wenn man über eine geographische Intuition verfügt, dann stellt sich eine gewisse Vertrautheit ein. Man stellt sich vor, wie anstelle des quirligen polnischen Badeorts hier einmal eine norddeutsche Kleinstadt lag, die auch Kurort war. Man setzt Lebensläufe in Bezug zu geografischen Punkten. Beim Anblick der jungen polnischen Mädchen in ihren Spitzenstrumpfhosen unter kurzen Röcken denke ich an Frieda. Auch sie wird sich schön gemacht haben auf der Suche nach Liebe. Das Leben wiederholt sich und aus dem Vergessen entsteht Geschichte.
Das Meer vor Kolberg ist auch im Sommer mit 18 Grad zu kalt zum Genussbaden, der Strand nicht so breit wie zum Beispiel vor den Kaiserbädern auf Usedom. Es ist nicht alles Gold, was glänzt, schon gar nicht in Kolbergs Goldgasse, der restaurierten Häuserzeile in der "Altstadt".
Wenigstens gab es beim Verlassen von Kolberg dieses Mal keine Verluste. Der verschollene Reisegast ist an gleichen Tag noch nach Heringsdorf zurück gekehrt. Er hatte sich rettungslos verlaufen, landete bei der Polizei, dort musste ein Dolmetscher gefunden werden. Man empfahl ihm, ein Taxi zu nehmen und so zahlte er 150 € für die Rückkehr. Es ist ihm sonst nichts weiter passiert. Da ich erwartungsgemäß keine neuen Informationen über meine Familie gewinnen konnte und die Toten auch nicht reden, stütze ich mich im nachfolgenden auf meine Recherchen von 1985/1989 bei der Heimatortskartei und verschiedenen Telefonaten von damals. Dazu kommen Einträge aus Adressbüchern sowie Urkunden.
Was immer mir das Schicksal an Hinweisen geben mag, ich bin dankbar dafür.

Kleine Magie der Zahlen
  
Am 30.11.1914 wird Frieda, meine Großmutter, in Kolberg geboren, am 30.11.1934 meine Mutter. Am 25.12.1943 fällt mein Großonkel Werner in Russland, am 25.12.1998 stirbt meine Mutter. Nur mein Vater ist einen Tag später dran. Kolberg fällt am 18.3.1945, am 19.3.2007 stirbt mein Vater, der Kolberg ja nie sehen durfte. Ein Schelm, der da Zusammenhänge sieht.

Zusammenhang

Nichts im Sinn habe ich mit der Verdrehung historischer Zusammenhänge. Das das Thema der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten für die Polen heikel ist, ist sehr verständlich. Die Polen in Pommern sind selbst Vertriebene und derer gedenkt kein Mensch in Deutschland. Dazu kommt nun einmal die historische Tatsache, dass Deutschland einen unsinnigen Krieg angefangen hat und dabei vor allem im Osten barbarisch aufgetreten ist.
Wie hätten sich deutsche Truppen damals verhalten, wenn wir überfallen worden wären und hinterher als Sieger in Polen einmarschiert wären? Man mag nicht daran denken.
Demzufolge sind Touristen gern gesehen in Polen, nicht jedoch Menschen, die irgendein Erinnern an erlittenes Leid konservieren wollen. Die Veteranen der Kämpfe um Kolberg haben sich die Hand gegeben, damit ist die Sache für die Polen erledigt und ich meine, wir sind gut bedient damit. 
Als ich auf der Promenade bei Heringsdorf mit dem Fahrrad von hinten mal wieder angeklingelt werde, weil ich nicht rechtzeitig in die Büsche springe, um dem Hintermann freie Fahrt zu ermöglichen, denke ich an Robert. Es ist gerade diese Rechthaberei und der Egoismus, der Deutschland so beliebt macht in der Welt. Stolz sein, so wie Robert, auf die typisch slawische Bauweise von Häusern ohne Mörtel, das ist in Ordnung. Das hat aber nichts mit Aggression zu tun. Aber noch und längst stehen die Zeichen in Deutschland auf Versöhnung. Man gesteht Lukas Podolski sein polnisches Herz zu, wenn er für Deutschland Tore gegen Polen schießt, im Fußball. 
  
1929
  
"Vorschriftsmäßige Liegekuren in jeder Jahreszeit, vorgeschriebene Spaziergänge und Wasserbehandlungen und gute, abwechslungsreiche Nahrung mit Durchführung einer zweckmäßigen Hausordnung sowie das Rauch- und Wirtshausverbot, bedeuten das A und O der Tuberkulose-Bekämpfung, wie sie hier oben durchgeführt würde. Auch sei man nach anfänglicher Skepsis zum Gebrauch von spezifischen Heilmitteln geschritten. Seit 1910 werde auch die Höhensonne angewandt...
Am 15. Oktober 1928 konnte das dritte Patientenhaus, das als Kinderheilstätte mit 40 Betten vorgesehen war, feierlich eröffnet werden. In achteinhalb Monaten stand der Bau. Ermöglicht hatte dies eine für die damalige Zeit neuartige Baumethode. Auf den massiven Unterbau befestigte man die Fertighaus-Holzkonstruktion,
Dieser große, rechtwinklig angelegte Baukörper auf dem schönen Grundstück in Südhanglage bot einen weitreichenden Fernblick. ..
Außerdem kam es zur Anschaffung eines neuen Röntgenapparates. Wirtschaftlich gesehen war 1929 wohl das schwierigste Jahr seit der Inflation. Zudem gab es noch 1928/29 einen außergewöhnlich starken Winter, der die Belegungszahlen bis April stark absinken ließ."
(Aus Geschichte der DRK Klinik Kaufungen)
Das Jahr 1929 war aber auch das Schicksalsjahr für Frieda. Onkel Kurt besuchte sie regelmäßig in Kaufungen und sie gingen in der Parkanlage oft spazieren. Frieda war sich ihrer Trauer kaum bewusst, es war, als stünde sie noch unter Schock, auch ihre eigene gesundheitliche Situation nahm sie nicht so ernst. 
Alles in allem waren ihr die Menschen hier so fremd. Man ist im nordhessischen Land nicht nur autoritätstreu, man hält sich auch daran. Die Überwachung ihrer Teilnahme an allen Heilmaßnahmen erschien ihr hier noch strenger als anderswo.

In der Klinik war ein bekannter und renommierter Lungenarzt für den Vaterländischen Frauenverein tätig. Man müsse Geduld haben, Frieda konnte es sich nicht vorstellen.

Die minderjährige Frieda wurde mit 14 Jahren schwanger.
An ein Ende ihrer Kur oder gar an die Rückkehr nach Kolberg war nicht zu denken. Eine Abtreibung kam aus gesundheitlichen Gründen nicht in Frage, die Ärzte in der Klinik wären nicht bereit, die Verantwortung zu übernehmen. Der Vater wurde jetzt gesucht und Onkel Kurt erwachte aus einem bösen Traum. Zwar gab es noch andere Verdächtige und Frieda selbst behauptete, sich an den Mann nicht erinnern zu können.
Seine Frau jedoch glaubte an all das nicht, schwieg aber.
Frieda konnte auf keinen Fall minderjährig und schwanger nach Kolberg zurück kehren.
Die Nachricht ihrer Schwangerschaft war für ihre Mutter Elisabeth ein Schock, von dem sie sich nicht mehr erholte. Auch wenn sie sich mühte, die Wahrheit zu ergründen, sie hatte keine rechte Kraft mehr dazu. Das Kind war verloren. Bruder Werner hatte es kommen sehen.
Im August 1929 stirbt auch Elisabeth an Tb. Sie folgt ihrem Mann ins Grab, ohne dass ihre schwangere Tochter an der Beerdigung hätte teilnehmen können.
Da beide Kinder noch minderjährig waren und das Erbe der Eltern so früh anzutreten hatten, entstanden die Dreyer'schen Erben. Adalbert und Emilie Fabricius übernahmen, so wie es die Mutter gewollt hatte, die Vormundschaft. Auch sie waren der Meinung, dass das Kind in Kolberg nicht auftauchen dürfe. Es wurde nun ein Vater gesucht, ein Mann, der diese Vaterschaft ohne Schaden übernehmen könnte, denn Kurt Dreyer kam ja nur als Ernährer in Frage und sollte das Kind adoptieren. Es wäre unauffällig, wenn er das Kind seiner minderjährigen Nichte aufnehmen würde.
Adalbert hatte eine Lösung, der Hermann Stahnke, Freund der Familie, Postschaffner a.D., der könnte das machen. Ihm würde kein Schaden erwachsen. Hermann konnte die Not der über Jahrzehnte verbundenen Familien erahnen und ließ sich dazu überreden.
So bekam Kurt's Frau Paula einen weiteren Sohn. Sie würde es erdulden müssen, um Schaden von sich abzuwenden. Die Zeiten waren wirtschaftlich schlecht genug.
Frieda konnte bis zur Entbindung, die im Krankenhaus des Roten Kreuzes in Kassel stattfinden sollte, in Kaufungen bleiben, nun allerdings nicht mehr in der Kinderstation sondern im Frauenhaus.

Die Anstalt war um ihren Ruf besorgt und versuchte den Fall zu vertuschen. Kurt schien nicht anderes im Sinn zu haben, als ihr das Kind zu nehmen. Trotz der schweren Umstände wollte sie das Kind, es würde leben, auch wenn sie selbst nicht daran teil hätte. Sie machte sich keine Vorstellung davon, welche Verantwortung das Kind bedeuten würde. Sie wartete sehnlichst auf die Entbindung, als ihren 15. Geburtstag im Krankenhaus verbrachte. Das Kind wurde auch aus medizinischen Gründen gleich nach der Geburt von ihr getrennt, nur einmal durfte sie es ansehen aus sicherer Entfernung, denn die Gefahr einer Infektion des Säuglings war groß. Mittags, am 6. Dezember 1929 war es geschehen. Der Name de Kindes, meines Vaters, sollte Egon Alfons Christian sein.
Sie war zunächst sehr schwach und musste noch bleiben. Sobald man es aus gesundheitlicher Sicht erlaubte, konnte sie nach Kolberg zurück kehren. Schließlich müsse ja ein Erfolg der Behandlung sichtbar sein.
Frieda sollten ihr noch knapp 10 Jahre ihres Lebens bleiben. Ein Leben in dem Bemühen, das Geschehene zu vergessen, im Kampf um das tägliche Brot noch etwas zu lernen, zumindest einen Freund zu finden, der wohl tunlichst nicht erfahren sollte, dass sie eigentlich schon eine junge Mutter war, das lag vor ihr. Der alte Fabricius kümmerte sich noch immer um sie. Werner hielt zu ihr, auch wenn er so manches Mal sein Unverständnis über das Geschehene durch blicken ließ. Schwierig war der Umgang mit den Jungen, die sie teils noch aus ihrer Schulzeit kannte. Gerüchte über ihr Verhältnis zu einem ganz alten Mann gingen um. Lernte sie mal einen anderen Jungen kennen, so musste sie damit rechnen, dass er alsbald irgendetwas gesteckt bekommen würde. Frieda zog sich in ihre Träume zurück, in denen auch ihr Kind vor kam. Wie mochte der Junge aussehen? Anfangs erfuhr sie noch, dass der Junge gesund sei und später gar nichts mehr. Dem Kind erzählte man, die Mutter sei bei der Geburt gestorben. Sein Vater sei ein uralter Mann. Später erfuhr er die Wahrheit, viel später, da war die Mutter längst tot.
Für Frieda gab es kein gutes Ende. Trotz ihrer Begabung, immer wieder das Beste aus allen Situationen zu machen, erlitt sie im Winter 1938/39 einen schweren Rückfall und verstarb am 21. Januar 1939 im Kolberger Krankenhaus. Sie konnte den Fluss sehen und die Weidenbäume, unter denen sie als Kind so gern gesessen hatte. Bruder Werner war wie sein Vater Vater Soldat geworden und diente bei der Wehrmacht. Frieda aber, gerade erst 24 Jahre alt geworden, beerdigte man auf dem Maikuhlefriedhof. Die Kunde ihres Ablebens drang auch nach Kassel, wo Kurt nun erst recht beschloss, den Fall Frieda aus seinem Gedächtnis zu tilgen. Das Leben sollte schwer genug werden in den kommenden Jahren. Als der heranwachsende Egon erfährt, dass Paula Dreyer nicht seine Mutter ist, bricht für ihn eine Welt zusammen. Er meint sich die strenge Behandlung erklären zu können, die ihm während seiner Kindheit widerfuhr. So manchen Streit sieht er in einem neuen Licht. Und auch den Rauswurf, er könne ja gehen, Paula wirft ihm wutentbrannt einen Putzlappen vor die Füße. 
Sein Vater Kurt, so mutmaßt Egon später, habe ihn wohl nur adoptiert, um an sein Erbteil zu kommen. Kurt ließ sich in der Tat beglaubigen, dass Egon der Sohn von Frieda Dreyer ist. Da ihr Bruder Werner 1943 bei Pavolotsch fiel, gab es die Dreyerschen Erben nicht mehr. Das Erbe stand ja dem minderjährigen Sohn und somit zunächst verwaltend seinem Vater zu. Nach dem verlorenen Krieg war davon nun nichts mehr vorhanden. Egon hatte auch das verloren. Mit seiner Volljährigkeit hielt es ihn nicht mehr zu hause. Kurt beließ es bei der lapidaren Feststellung, der Junge könne jederzeit zu ihm kommen. Für Egon war jedoch jeder Anreiz, zu hause zu bleiben, auch durch den Tod seines Lieblingshalbbruders Wolfgang, verschwunden.
Dessen Tod war eine Folge der schweren Kämpfe um Monte Cassino im Jahr 1944 gewesen. Zwar war die im Kampf erlittene Verletzung nicht tödlich gewesen, aber durch die Bombardierung des Lazaretts kam er durch den Einsturz einer Zimmerdecke ums Leben. 
Der älteste Halbbruder Siegward war kein Trost für ihn, der Altersunterschied mag eine Rolle gespielt haben. Siegward gerät an der Westfront in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Egon geht auf Wanderschaft, arbeitet im Bergbau im Raum Aachen und bei den Amerikanern in Frankfurt als Wachmann. Letztlich siegt aber das Heimweh, er kehrt nach Kassel zurück und noch einmal geraten Vater und Sohn aneinander. Dennoch bleibt er Rothenditmold oder dem Rothenberg, wie er sagt, verbunden.
Vom Streit erzählte er mir bei einem meiner letzten Besuche. Das er seine leibliche Mutter nie gesehen hat, war für ihn eine besondere Tragik.
Wenn er wüsste, wo ihr Grab sei, sagte er einmal.

Es fällt schwer, sich das Schicksal von Frieda Dreyer vorzustellen, denn ich habe kein Foto meiner Großmutter. Nachforschungen nach ihrem Bruder, meinem Großonkel, bei der Deutschen Dienststelle (WASt), führten bislang zu keinem Ergebnis. Zwar bin ich vermutlich der nächste noch lebende Angehörige, aber ich kann es nicht beweisen. Das für die Ostgebiete zuständige Standesamt I in Berlin verweist auf Bearbeitungszeiten von zwei Jahren und antwortet nicht auf meine Schreiben. Datenschutz in Deutschland, ich habe keine Hoffnung auf weitere Informationen.

Exkurs: Kolberg - Der muß hinaus - Der muß hinaus!  

Nachwort 1929

1929 - in diesem Jahr fielen die Katastrophen im Leben der Friede Dreyer mit denen der Weltgeschichte zusammen. Die Weltwirtschaftskrise und das Erstarken der NSDAP sind schlechte Rahmenbedingungen für ein von Krankheit geprägtes Leben. Tb entsteht heute nicht mehr so oft und ist heilbar. Unter den heutigen Lebensbedingungen wäre Dreyers wohl ein längeres Leben vorhersagbar gewesen. Andererseits, die Vernunft durch eine gesündere Lebensweise älter zu werden, wurde wohl oft genug vom Wunsch nach dem Leben verdrängt.
Dies trifft zu mindest auf Elisabeth und Johannes Dreyer zu.
Frieda wird entweder unter dem Verlust des Kindes gelitten haben oder diesen durch ihren Lebensstil verdrängt haben. Die Wahrheit liegt meist in der Mitte.
Am allerwenigsten wird sie Probleme mit dem konservativen Zeitgeist gehabt haben. Denn Kolberg und Pommern waren mehrheitlich der NSDAP und den anderen konservativen Parteien zugetan. Daran kann auch die bürgerliche Sicht auf kommunistische Aktivitäten nichts ändern. Man ertrug sein Schicksal und dachte gar nicht an etwas anderes. Oder man war euphorisch und aufgeschlossen gegenüber den sich ändernden Bedingungen. Man lernte nichts aus der Niederlage des ersten Kriegs, sondern wollte Revanche, um die Schmach von Versailles zu tilgen. Das ging durch alle Bevölkerungsschichten.
So starb 1943 auch Werner Dreyer viel zu jung bei einem Ort namens Pavolotsch, der ca. 100 km südwestlich von Kiew liegt. Die Bevölkerung des Ortes bestand überwiegend aus Juden, die alle die deutsche Besetzung nicht überlebten. Werner ist hier vermutlich in einem Massengrab beerdigt. Ende 1943 wurden selbst kleinste Orte hart umkämpft. Auf Vorstoß folgte Gegenvorstoß. So überlebten "schneidige" Kommandeure oft den Krieg, viele ihrer Soldaten nicht. Man riskierte bei den Vorstößen oft von den eigenen Truppen abgeschnitten oder gar eingekesselt zu werden. Doch letztlich ging es am Ende nur zurück und versank auch in der heutigen Ukraine oftmals Mann und Gerät im schlammigen Tonboden.
Frieda immerhin erkämpfte einen schmerzvollen Triumph des Lebens über den Tod. Und auch das nicht immer glückliche Leben meines Vaters relativiert sich, wenn man die Zeilen seines Halbbruders Siegward liest, der zum Schluss mit der Panzerfaust den Endsieg erreichen sollte.

"... Es ist vorbei, wir sind umstellt.
Vier leben noch. Die ander'n?
Zerfetzt, verblutet und zerschellt
sie schon im Jenseits wandern.

Wie haben alle zwölfe wir
am Leben heiß gehangen.
Acht sind nun stumm, die letzten vier
zermürbt, besiegt, gefangen."
(aus Siegward Dreyer, Der Opfergang)


Ich bin froh, in Frieden hier am Kolberger Hafen zu stehen und auf die See hinaus zu sehen.

Dank sagen möchte ich an dieser Stelle der einzigen Person in der Familie Dreyer, die mir betätigt hat, was ich schon wusste. Es ist meine Halbcousine, wenn man es genau nimmt. Danken möchte ich auch dem Betreiber der Pommerndatenbank, Herrn Gunthard Stübs, für die Möglichkeit in seinen Adressbüchern nachzuforschen. Neben den amtlichen Dokumenten, die mir vorliegen, haben mich die zahlreichen Berichte im Internet und Lebenserinnerungen in gedruckter Form inspiriert. Stellvertretend sei hier das Buch von "Tina Georgi, Mein Leben im Wechsel der Zeit" genannt. Solche Quellen sind ungemein wertvoll, weil sie etwas über die damalige Denkweise der Menschen aussagen.
In diesem Zusammnhang möchte ich auch Frau Lieselotte Dumtzlaff erwähnen, die mir freundlicherweise den Beitrag Ihres Mannes, Ernst-August Dumtzlaff, im vergriffenen Buch "Die letzten Kriegstage - Ostseehäfen 1945"
zur Verfügung stellte. In seinem Bericht "Ich war dabei beim Kampf um Kolberg" wird die Zeit noch einmal lebendig.