Freitag, 8. November 2013

Das Vermächtnis des Herrn mit Brillenband

Über 25 Jahre ist es nun her. Ein Fachverlag für Wertpapierinformationen suchte per Chiffre-Anzeige einen Sachbearbeiter im Stellenteil der Samstagsausgabe der Frankfurter Rundschau. Meine Frau las ihn selbst regelmäßig aus der Suche nach einer Veränderung. Meine Zeiten in einem kleinen Verlag, der sich mit der Publikation von Doktorarbeiten befasste, schienen vorbei zu sein. Die berufliche Zukunft ungewiss, mit meiner Position im Verlag war ich mehr als unzufrieden.
Hier nun schien ich die Chance zu haben, in der. Verlagsbranche bleiben und gleichzeitig in die Wirtschafts- und Bankenwelt hinein riechen zu können. Ich will das alles lernen, sagte ich später im Kreise meiner mir angetrauten Verwandtschaft. Denn ich glaubte immer noch daran, dass Wissen Macht ist. Mein neuer Chef, Geschäftsführer des Verlages, stieß in ein für mich erfreuliches Horn. "Solche Mitarbeiter wie Sie findet man nicht auf der Straße."
Doch zunächst einmal war da ja das Vorstellungsgespräch, zu dem ich tatsächlich eingeladen wurde. Eine Dame führte mich an einen Arbeitsplatz mit einem Bildschirm, der hauptsächlich nur grüne oder blaue Schrift zu kennen schien. Sie erklärte mir dann, dass die Arbeit darin bestände, die von Kunden gesendeten Meldeformulare, in den vorgegebenen Vorgangsarten zu erfassen und zu speichern. Sie lies mich dann eine der Meldungen bearbeiten. Am Schluss konnte ich mir die Frage nicht verkneifen, ob das alles sei.
Dabei hatte ich mir nichts gedacht, verglichen mit der Komplexität der Aufgaben, die eine Auftragsverwaltung mit persönlichem Kundenkontakt mit sich brachte, war das ja eine eher eindimensionale Tätigkeit. Man führte mich dann vorsichtshalber noch in eine Abteilung der im Hause publizierten Wirtschaftszeitung. Dort begrüßten mich zwei Herren, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Der eine, eher kleinbürgerlich wirkende und mit einem Brillenband ausgestattete Herr führte hier wohl den Vorsitz, der andere Herr zeigte sich blond und langhaarig und zudem von sich recht überzeugt.
Hier sollte mein beruflicher Weg nun in dieser Firma jedenfalls beginnen.
Ich bekam nach wenigen Tagen schon einen Vertrag als Sachbearbeiter zugesendet, ohne dass ich den verantwortlichen Vorgesetzten zu Gesicht bekommen hätte. So konnte ich sehr rechtzeitig bei meinem alten Arbeitgeber kündigen, was mir doch einigen Druck von der Schulter nahm.
Die Albträume von einer etwaigen weiteren Berufsausbildung oder dem Beginn eines neuen Studiums ohne eigene finanzielle Basis waren zerplatzt. Ich konnte in Ruhe die Scharmützel mit meinem ehemaligen Arbeitgeber ausfechten. Man wollte Geld von mir wegen angeblicher Fehler und das Zeugnis war auch nicht berühmt, obwohl ich Jahre zuvor noch ein sehr gutes Zwischenzeugnis erhalten hatte.
Ich selbst saß nun an einem uralten Holzschreibtisch, den man nicht verschließen konnte und der freien Blick auf den Inhalt gewährte. Die beiden Herren hatten die Fensterplätze gesichert und gedachten nun, jeder auf seine Weise, meine Vorgesetzten zu sein. Zur Belegschaft des Raums gehörte noch eine völlig eingeschüchterte Dame, die einen für mich geheimnisvollen "Verlosungskalender" bearbeitete. Der Herr mit Brille wurde nicht müde, sie immer wieder auf die Schippe zu nehmen, ohne dass sie es allzu oft bemerkt hätte.
Meine Aufgabe sollte nun für die nächsten Monate das Auswerten der Kursblätter der damals acht deutschen Börsen sowie das Schreiben der Meldeformulare für die neu aufzunehmenden, zu ändernden oder zu löschenden Wertpapiere sein. Vor allem das Auswerten der Kursblätter wurden in der Abteilung selbst als eine niedere Tätigkeit gesehen. (Es ging darum, am Fotokopierer zu stehen und Kopien aller relevanten Meldungen für uns selbst und die Fachabteilungen zu machen.)  Wozu man mich denn habe, ließ der blonde Herr fragen, als ich wegen anderer Tätigkeiten einmal um die Kopierer herum gekommen war.
Der vorhandene Zettelkasten erinnerte mich an meine Lehrzeit, wo in einen solchen Kasten die vorgemerkten Buchtitel gesteckt wurden, um dann bei der Lieferung mit dem Buch an unsere Expedition weiter gereicht zu werden. Dieser Kasten war die Terminvorlage für alle Meldungen, die zukünftig zu bearbeiten waren.
Ich pflege ihn noch heute, weil er jede Wiedervorlage elektronischer Art an Verfügbarkeit und Einfachheit schlägt. Er ist das Vermächtnis des Herrn mit dem Brillenband.




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