Donnerstag, 19. April 2012

2000 - II

Die Spur

Ihnen ist da etwas heruntergefallen, sagte die nette alte Dame zu ihm.
Ja richtig, ein Prospekt hatte sich selbstständig gemacht und lag auf dem Boden.
Die Mülleimer ringsherum quollen über, die Scheiben der Haltestelle waren eingeschlagen und auf den Sitzbänken machten es sich die Überreste etlicher Nächte bequem.
Sicher, das Prospekt gehörte da nicht hin, er hob es schnell auf.
Erinnerungen können liegen bleiben, wenn sie vergessen werden.
Niemand sieht sie. Aber auch die Veränderungen, die das Verschwinden von Erinnerungen hervorrufen, bemerkt keiner.
Wie ein Chamäleon streifte er die Reste der Zeit mit kompletter Gründlichkeit allmählich ab.
Er verlor die Häute nie, sie hingen im Kleiderschrank seines Vergessens.
Wenn er wieder etwas zum Erinnern brauchte, würde er sie zum Anziehen auswählen.
Manchmal gefielen die Kleider anderen Leuten besser als ihm.
Sicher, seine Mutter sähe ihn am liebsten im Strampelanzug, der Vater im Konfirmandenanzug.
In den jahreszeitlich bedingten Uniformen sah er sich nicht gern, war letztlich am liebsten nackt und bloß.
Hier sah er sich am ähnlichsten, ohne Verfälschung der Figur.
Er hatte inzwischen in der Bahn Platz genommen und schaute in das gerettete Prospekt.
Auf den Sitzen lagen alte Zeitungen, die wohl jemand bewusst dort abgelegt hatte, die Papierkörbe boten nicht genug Platz für den Altmüll.
Als die Bahn anfuhr, rollte eine leere Bierdose an seinem Fuß vorüber, wortlos.
Ja, die Menschen waren so vergesslich und es gab nicht genügend nette Damen, die sie erinnern.
Der Baumarkt bot wieder handliche Akkuschrauber an, Bohrmaschinen auch, ein Glück, das zu lesen.
Im Kaufhaus offerieren sie wieder festliche Damennachtwäsche.
Und Schuhe gibt es.
Diese Prospekte werden so sicher wie das Amen in der Kirche immer wieder neu gedruckt und ungelesen weggeworfen.
Ihn faszinierte der Ablauf, er durfte Teil des Recyclingprozesses sein, streng legal.
Die Bahn fuhr in die Station ein, er schreckte aus der Lektüre hoch, stand auf, um die Schilder der Station auf der anderen Seite zu lesen.
Wo wollen Sie denn hin ? fragte ihn eine Mitreisende.
In Richtung Süd antwortete er.
Da müssen Sie noch eine Station warten, bemerkte die junge Frau.
Während ein Schild mit der Aufschrift "Süd" am Fenster vorbei fuhr, setzte er sich wieder und sammelte die Prospekte ein, faltete sie und legte sie in die Innenseite der Zeitung.
Eine Station noch, kaum zu glauben.
Die junge Frau richtete ihren Blick nach draußen, eine gegenüber sitzende Alte folgte sofort.
Er musste lachen.
Die Alte ächzte und brachte eine Flasche Kölnisch Wasser zum Vorschein, sprühte und benetzte sich.
Ein Geruchsschwall traf den Säugling mit 'zig Jahren Verzögerung.
War er eben noch zufrieden auf seinem weißen Handtuch gelegen, so trieb ihn nun das blanke Entsetzen zum Schreien. So schnell würde er sich nicht beruhigen.
Er musste aussteigen, jetzt, nicht ohne der jungen Frau für ihre Hilfe zu danken, er brauchte einen Fahrplan.
Sie haben da etwas vergessen, hörte er kaum, aber deutlich.
Er würde sich nicht verlieren.

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