Mittwoch, 28. November 2012

Gold - XXXIII

Paul hatte sich immer vorgestellt, seinen kranken Vater in der Nähe zu haben. Er wollte die Zeit nutzen, die noch bliebe. Vielleicht ein paar Ausfahrten mit dem Rollstuhl, vielleicht könnte der Vater ja auch seine Wohnung mal besuchen. Alles würde am Ende doch irgendwie gut werden. 
Das Leben hatte beide gegeneinander aufgebracht. So kam es ihm vor.
Würde es am Ende doch eine Aufklärung geben, könnte er doch ein bisschen Anerkennung erreichen?

Paul war wieder mal im Widerspruch mit sich selbst. Einerseits wollte er die Kraft nicht aufbringen, andererseits wusste er, es gibt keinen anderen Weg.

Dienstag, 27. November 2012

Nachwort?

Heute nacht lag ich mit der Hand auf der Brust im Bett, ich mache das immer, wenn ich aufwache. Mir war, als wollte mir jemand mitteilen, dass er so dagelegen hat wie ich, als er gestorben ist. Ich lag auf dem Rücken mit dem Kopf leicht nach hinten gestreckt. 
(24.5.2007)

Montag, 26. November 2012

Gold - XXXII

Die Bemerkung von Rachel, er sei so wie sein Vater, hatte in Paul Spuren hinterlassen. Hatte nicht die Mutter darüber geredet, dass sein Vater vor ihrer Zeit Besuch von merkwürdigen Frauen hatte?
Aber was war für sie merkwürdig oder komisch?
Paul selbst hatte nach seiner Zeit in Israel die Kneipenbesuche notgedrungen wieder aufgenommen.
Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, bei Eltern oder anderen Verwandten in schlechten Zeiten unterzukriechen. An solchen Abenden machte er sich zumindest bei den Frauen mit der Bemerkung unsterblich, ob eine Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau sich denn immer auf das Eine reduzieren lassen müsse. Das war ein Volltreffer, der ihm aber sonst keinen weiteren Erfolg brachte.
Wenn Fahrten nach hause stattfanden, dann mit dem Zug und nur um hinterher festzustellen, dass es besser für ihn gewesen wäre, schnell wieder nach hause zu fahren. Es war so ein Zwang, meist ausgelöst durch die Frage der Mutter, wann er denn mal wieder einmal kommen würde. Er selbst wusste nicht, warum er sich diesem auf einem einfachen Stuhl sitzenden Mann aussetzte, der nur auf den ersten Schlagabtausch zu warten schien, während die Mutter so tat, als sei er der jüngere Liebhaber. Sie war frei von Sorgen, die sich Mütter normalerweise um ihre Söhne machen, dagegen voller Erwartungen (bringst Du mir etwas mit?).
Es konnte nur die vertraute Gegend sein, die ihn hin zog.
Und diese lag nicht in der Siedlung der Eltern sondern im sogenannten "Vorderen Westen" der Stadt, genau dort, wo er als Kind den Zügen nachgesehen hatte und nach dem Auszug aus dem Herrschaftsbereich des Vaters in möblierten Zimmern versucht hatte, wieder heimisch zu werden.      

Sonntag, 25. November 2012

Gold - XXXI

Ist das auch wieder so eine Geschichte, wie die mit den Kindern? 
Warum lügst Du Deinen Vater an? fragte Rachel vorwurfsvoll. Du hast keine Kinder, soweit ich weiß.
Doch, es sind meine, gab Paul zu. Deine? Du hast nie für sie gesorgt, warst nie mit ihnen zusammen. Hast Du sie groß werden sehen? 
Dein Vater hat Dich groß gezogen und sich gekümmert. Er hat Dich geliebt.
Woher weißt Du das? Paul wurde zum ersten Mal richtig wütend. Dieser Mensch hatte Spaß daran gehabt, ihn anzuziehen, wie er wollte, ihn zum Friseur und zum Wehrdienst zu zwingen, den er fast nicht überlebt hätte. Der Mutter die Unselbstständigkeit ermöglicht und nicht verstanden, dass sein zweites Kind behindert war. Er hatte einen Krieg gegen seine eigene Familie geführt, die Altersmilde seiner Stiefmutter abgetan. Mit einem Satz, er wich nicht einen Millimeter von seinen Vorstellungen ab und schon gar nicht wegen seiner Kinder.
Nun hatte Paul alle Argumente beisammen, ein altbekannter Hass mischte sich mit ebenso bekannter Abneigung über die aus seiner Sicht bestehenden Tatsachen zu diskutieren.
Rachel kommentierte nur trocken: Du bist wie er. Nur das er bereits verstanden hatte, warum wir zusammen sind.
Paul hatte sich verrannt, er wollte weiter in die gleiche Richtung, aber ihm fiel ein, wie der alte Mann im Krankenbett ihre ab und an aufkommenden Unstimmigkeiten kommentierte: streitet euch nicht.
Wie er die Ohren gespitzt hatte und die jeweiligen Argumente, die sie austauschten, verfolgte.
Schon früher hatte er ihm geraten, sich nicht aufzuregen. Vater hatte immer eine klare Meinung. Da musst Du nichts machen, war seine, bezogen auf die Kinder. Er hatte sich damit abgefunden, wie es war.
Er war ein Meister darin, sich Abzufinden.
Rachel tat, was sie immer tat, wenn sie Zuneigung empfand, sie stellte ein Bein zwischen seine, drängte sich heran und fragte: das mit den Kindern, das war ein Wunsch?
Yep, sagte Paul und war sich sicher, dass das Thema nun erledigt sei. 



Samstag, 24. November 2012

Gold - XXX

So oder so, die Geschichte in Kassel war zu Ende.

Vater war gut vorbereitet, er hatte sich Kalender für das nächste Jahr besorgt. Solange das Wetter gut war,
konnte ihm der Winter und die Weihnachtszeit nichts anhaben. Sein Fahrrad stand bereit. Von der Bank hob er 30 € ab, das sollte für die nächste Woche reichen.  
Am Wochenende des 1. Advent war er mal wieder mit der Hausordnung dran. Das hieß vor allem Treppe wischen und vor dem Haus fegen. Nicht jeder machte seine Hausordnung ordentlich, vor allem die Ausländer nicht, wie er stets betonte. ihm aber war diese Pflicht der Mieter nicht egal. Er brachte die Karte, auf der die Mieter ihre Unterschrift leisten mussten, nachdem sie die Hausordnung erledigt hatten, zur Nachbarin im 
1. Stock, die in der nächsten Woche dran war. 
Als er zurück zur Wohnung ging, fühlte er sich seltsam benommen. Vielleicht sollte er sich hin legen, aber das war ihm zu unsicher. Eigentlich hatte er nichts mehr zu tun. Das Essen für den Tag hatte er sich schon gekocht. Ein großer Topf mit Erbsensuppe stand bereit.
Ihm fiel ein, dass er noch Sofakissen bügeln musste. Als er das Bügeleisen aus dem Schrank geholt hatte, bemerkte er ein Kribbeln in den Händen. Es fiel ihm aus der Hand. Die eigene Wohnung wurde nun zum  See, auf dessen Mitte er sich bewegte, ohne das Ufer zu erreichen. Angst stieg in ihm hoch, gepaart mit einer gewissen Überraschung. Er war doch sonst gut vorbereitet, ein gepackter Koffer mit Sachen für das Krankenhaus lag auf seinem Schlafzimmerschrank. Das Zimmer, in dem er gar nicht mehr schlief, seit seine Frau hier gestorben war. Er wollte anrufen, es ging um das Geld. Das war ein Ziel, aber der Körper machte nicht mit. Der rechte Arm war lahm, der linke ließ den Hörer fallen. Er versuchte, beruhigend auf sich einzureden, verstand sich aber selbst nicht. Was war das für ein unverständliches Kauderwelsch?
Die wenigen Meter zum Sofa dauerten eine Ewigkeit, er ließ sich fallen, kam in Rücklage, drehte und drehte sich dauernd. Irgend wann muss es doch aufhören, dachte er noch, begann zu dämmern. Endlich schlafen.
Sein Sohn war doch da, in der Aue, Männer standen um ihn herum, wollten Geld. er nahm die Verteidigungshaltung ein, bis er einen Schlag auf dem Kopf spürte. Wenn er nur seinen Schlagring dabei gehabt hätte. Er rannte und rannte, wollte nur noch nach hause.
"Du darfst mich nicht ins Krankenhaus bringen." 

"Heute Vormittag haben wir einen Anruf aus der Neurologie in Kassel bekommen. Der zuständige Arzt hat uns informiert, dass ihr Vater dort kurz nach seiner Einlieferung verstorben ist. (Nähere Informationen über die Todesursache habe ich aufgrund der Schweigepflicht des Arztes auch nicht). Ich habe der Klinik in Kassel mitgeteilt, dass ich Sie als Bruder von Herrn Dreyer informieren werde, damit sie alles Weitere organisieren und möglicherweise noch Abschied von Ihrem Vater nehmen können. Daher bitte ich Sie, sich in der Neurologie in Kassel zu melden. Leider liegt uns keine Telefonnummer von Ihnen vor, so dass wir Sie lediglich auf diesem Weg benachrichtigen können. Ihren Bruder werden wir die Nachricht in den nächsten Tagen übermitteln, sofern sein Gesundheitszustand dies zu lässt.
Mit freundlichem Gruß
(Dipl.-Psych.)"
Den Zettel mit meiner Telefonnummer und der Notiz seines Vaters, dass er im Falle seines Todes der Ansprechpartner sei, den hatte er später im Sekretär zusammen mit den übrigen wichtigen Unterlagen gefunden. Ebenso wie den Topf Erbsensuppe.  

Freitag, 23. November 2012

Gold - XXVIX

Das soll also die Wahrheit sein, dachte Rachel. Es ist aber wieder etwas übertrieben. Er tut so, als sei er ein Frauenschwarm gewesen. Jetzt schreibt er aber weiter und bringt die Krankheitsgeschichte eines Mannes zu Papier, den er besser ruhen lassen sollte. Anscheinend wird er auch damit nicht fertig. Sie betrachtete ihren langen Fingernägel, die sie gern irgendwo hin gekrallt hätte.
Paul hatte gelernt, dass man Frauen gegenüber nicht emotional argumentieren sollte. Vor allem nicht dann, wenn man mit ihnen zusammen lebte oder sie glaubten, man stünde ihnen näher. Es lag ihm auch fern, seine Berichte zu verteidigen. Er blieb stattdessen stumm und dachte über die Frage nach, was Fiktion oder Non-Fiktion war. Erinnerte sich nur kurz daran, wie er früher schon bemerkte, dass aus eigentlich ganz netten Typen in der Kneipe mit dem Auftauchen einer Freundin an ihrer Seite wahre Spaßbremsen und Langweiler geworden waren. Die Bedürfnisse, die Mütter in ihren jungen Söhnen wecken, werden sicher von anderen Frauen, die einem über den Weg laufen, nicht erfüllt. Die Mutterrolle, die eine Frau gegenüber ihrem Sohn einnimmt, ist sicher eine Fiktion. 
Dieser Gedanke allein hätte bei Mutter den Satz "Das darfst Du nie denken." ausgelöst. Obwohl sie sich selbst immer auf die "Gedanken sind frei" berief. 
Gewisse Dinge darf ein Mann nicht denken. Censored by Schatz, sozusagen.
Rachel jedoch war noch nicht fertig. Was sind das für Kinderbilder, die Du ihm ins Krankenhaus gebracht hast, so lautete die Frage. 
Reine Fiktion, murmelte er und dann entschlossener: etwas Hoffnung musste in diese Geschichte ja hinein kommen. Wenn Zweifel ein Feuer sind, dann loderte das jetzt schon ganz heftig. 

Donnerstag, 22. November 2012

Gold - XXVIII


Nun bekomme ich ein Riesenproblem, Vater will nach hause. Er meint, ich hätte sicher seinen Sachen im Auto, er will nun aufstehen. Ich versuche ihm zu helfen, das Gitter kriege ich notdürftig herunter. Wenn er erst mal steht, wird er sicher merken, dass er nicht laufen kann, denke ich. Dann kommen mir Bedenken, er ist schließlich angeschlossen und ich habe keine Ahnung, wie man das alles transportabel macht. Ich kann ihm nicht helfen. Also störe ich die Schwesternrunde mit der Alarmmeldung: mein Vater will aufstehen, darf er das? Meine Frau sitzt draußen im Flur, hat verzichtet, das Zimmer zu betreten. Nach kurzer Zeit erscheinen drei Schwestern im Zimmer. Vater hat sich aufgesetzt, die Füße auf dem Boden, sein Nachthemd ist verrutscht, er hat sonst nichts an. Die Schwestern sprechen mich nicht an, sie umringen Vater, links und rechts eine, die andere bereit seine Beine zu greifen. Mir bleibt nichts übrig, als die Szene zu beobachten. Schließlich verlasse ich das Zimmer. Die Tür steht offen. Ein Tumult aus Kommandos und Zurechtweisungen an meinen Vater ergeht. Eine berlinisch gefärbte Stimme schnauzt meinen Vater an: „Ja ja, ich weiß es ist alles scheiße, wir sind auch scheiße!“ „Aber Du musst essen, bevor Du aufstehen kannst!“ „Verstehst Du das?“
Zwischendrin höre ich die Stimme meines Vaters, dessen Widerstand schwächer wird. Als die Schwestern das Zimmer verlassen, sage ich: danke! Ich habe nicht das Gefühl gehört zu werden. Wieder zurück im Zimmer versuche ich Egon, so heißt er, die Situation zu erklären. Dass er sich erholen muss von seiner Erkrankung, dass er essen soll und dass er erst dann das Laufen wieder üben kann. 
Ich habe Vater Bilder mit gebracht und zum ersten Mal blättert er die durch, die DIN-A-4 – Seiten sind allerdings sehr unhandlich. Sie sind hübscher als der andere, meint Egon. Mit dem anderen ist mein Bruder gemeint. Ich lasse ihm die Fotos da. Sein Essen steht immer noch unangetastet auf dem Nachtschrank. Er will nicht essen und schon gar nicht in meiner Gegenwart. Eine jüngere Schwester erscheint zum Blutdruckmessen, alles in Ordnung. Sie betrachtet die Bilder und meint, man müsste sie ausschneiden und sie will eine Schere holen. Wir sehen, dass Egons Fingernägel nicht geschnitten sind. Zum Glück sieht das auch der Krankenpfleger, der von meinem Vater fast euphorisch begrüßt wird. Er will sich darum kümmern. So scheint der Besuch doch noch ein versöhnliches Ende zu nehmen. Uns wird aber klar, dass
es so nicht weiter gehen kann. Mich ärgert es immer noch, das ich die Haftcreme verlegt habe. Zum Abschied gebe ich ihm wieder die Hand.
Egon will das alles immer vorweg nehmen und verabschiedet sich innerlich schon vorher. "Das Du Dich jetzt um mich kümmerst, hätte ich nicht gedacht." Sagt er. Ich frage mich und versuche meine Verwunderung zu ordnen. Wer hätte es sonst tun sollen und warum nicht ich? Schnell treten aber die praktischen Probleme in den Vordergrund. Ale ich Vater sage, daß ich in zwei Wochen wieder komme, wird er still. Ich schaffe es nicht öfter, versuche ich zu erklären. Er meint auch, die seien hier mit ihm fertig. Die Ärzte wären schon da gewesen. Darauf gründete er seine Hoffnung auf Entlassung. Wieder muß ich die obligatorische Erklärung geben. Er soll erneut nach Bad Wildungen kommen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er da klar kommen soll. Schließlich drücke ich seine immer noch feste Hand. Seine körperliche Verfassung gefällt mir weniger gut. Wir sind auf dem Flur und überlegen, ob es in Kassel so etwas wir die "Grünen Damen" gibt. Das sind in Frankfurt Damen, die ehrenamtlich in ein Krankenhaus gehen, um Patienten zu besuchen und für sie Besorgungen zu machen. Wir beschließen beim Pförtner nachzufragen, werden aber abschlägig beschieden. So etwas scheint man sich in Kassel nicht einmal vorstellen zu können.