Mittwoch, 22. Juni 2011

1990 - VI

Mein Vater hätte mir ein Fotoheft zusammengestellt, das Bilder aller Menschen enthielt, die mir etwas bedeuten. Es waren schwarzweiße Bilder, so wie Fußballsammelbilder. Irgendwie sollte ich Leuten vorgestellt werden, die alle sehr krank waren. Ein Mädchen, das ich gern mochte, war auch dabei. Aber leider war auch sie zu krank oder irgendwas hinderte uns, vielleicht meine eigene Trägheit, zusammen zu kommen. Vielleicht störte auch die Bestimmung. So bin ich eigentlich in Gedanken immer bei Menschen, die ich so gut wie nicht mehr sehe oder sie sind bei mir. 

Dienstag, 21. Juni 2011

1990 - V

Im Keller liegen zwei weiße Skelette. Ob die wohl jemand als Modelle gekauft hat oder ob sie echt sind? Ich sehe Ullrich, der an der Wand lehnt, auf der Erde sitzend. Er will sterben, ich sehe förmlich, wie er mit weit aufgerissenen Augen ringt. Ich beschwöre ihn, am Leben zu bleiben. Merke, wie ich mich innerlich anspanne, um Kraft auf ihn zu übertragen. Es gelingt und ich bin erschöpft.
Neulich sah ich ein Video mit Musik von Simon & Garfunkel. I am a rock. Der einzelne Mann bleibt vor einem Haus stehen und die Musik schließt mit den Worten: and a rock feels no pain and an island never cries. –
Zuvor folgte ich einer fixen Idee und fuhr zum Hauptfriedhof, um das Grab von Rudolph Ullrich zu besuchen. Ich fragte eine ältere Dame, wo die Urnengräber wären (aus den Siebziger Jahren) und sie zeigte mir das bereitwillig. Meinte, ja verbrennen wäre auch besser. Man müsse sich, wenn man alt sei, darüber Gedanken machen. Derartig eingestimmt suchte ich die Reihengräber ab, ohne auf den Namen Ullrich zu stoßen. Verschiedene Plätze waren leer. Mir kam der Gedanke, dass er sich unter Umständen bei seiner Schwester hat bestatten lassen. Das bleibt also von einem Menschen. Wenn die Gräber nicht gepflegt werden, wächst alles zu und je nach Material der Platte ist die Schrift kaum noch zu lesen. –

Montag, 20. Juni 2011

1990 - IV

Es ist Nacht, die Verfolger sind unterwegs. Sie morden und schießen in Schaufensterscheiben der Geschäfte. Ich bin auf der Suche nach einer sicheren Zuflucht. Ich sehe gleichförmige Häuserfassaden mit Licht hinter den Fenstern. Gleichzeitig fühle ich, dass ein Schutzschirm mich umgibt. Ich weiß, sie können mich überall kriegen, sie sind heimtückisch. Mein Vater oder eine Stimme sagt müde: setz‘ Dich und iss etwas. Herr Fischlein aus Kassel schreibt nicht. Heute wurde dem Messeturm die Pyramide aufgesetzt. –

Sonntag, 19. Juni 2011

1990 - III

Ein schmales Frauengesicht sieht mich an. Ich habe Angst vor der zudringlichen Art und der schlangenhaften Umklammerung. Versuche mich zu entwinden, wende Gewalt an. Immer wieder Gegenangriffe. Ein langer Kampf. Dann das Gefühl, sie verlassen zu können. Ich schicke einen Löwen in den Kampf, um sie an meiner Verfolgung zu hindern. Ich verlasse sie auf einem umzäunten Grundstück und beobachte, dass sie, den Löwen an die Leine nehmend, sich zurück zieht. Na ja, Raubtiere sind unberechenbar. Ob ich sie wiedersehe, denke ich und fahre. –

Samstag, 18. Juni 2011

1990 - II

Wir sind irgendwo bei Zwickau. Wir fragen nach dem Weg, wollen weiter. Die Luft ist schweflig gelb. Erde wird verbrannt, dann in eine Kiste getan. Dazu kommen Flaschen mit Roséwein. Das alles soll vergären zu etwas ganz Leckerem. Mir kommt die Erde so fruchtbar vor, fast essbar wie das Leben. Ich sehe die feuchten Krumen. Vermischt mit irgendwelchem Abfall. Neues soll daraus entstehen. –

Freitag, 17. Juni 2011

1990 - I

Eben noch mit dem Ruder in klares Kanalwasser eintauschend, das silbrige Band vor mir sehend, blicke ich zum Himmel. Alles schaut nach oben. Ein Getöse wie bei einem Jet, breite Kondensstreifen kreisen, ohne das ein Objekt zu sehen wäre. Fällt etwas auf die Erde? Die Wolken ziehen rückwärts, wo eben noch blauer Himmel war, das Ende? Bloß nicht nach oben schauen, die Menschen irren über die Düsseldorfer Straße. Ich halte einen runden Streuselkuchen in der Hand, ein Mädchen fragt, ob das eine Pizza ist. Im Zoogeschäft sehe ich ein Aquarium. Fische schwimmen an der Oberfläche, ihr Körper halb aus dem Wasser. Ich lege ein Glas oben auf das Becken, habe Angst, dass sie herausspringen. Zwei Schwertträger nahmen Stellung ein, um sich zu bekämpfen. Ein größerer will ein kleines Männchen vertreiben, stellt die Flossen hoch und biegt sich. Das kleinere nimmt Abwehrhaltung ein und verschwindet in den Wasserpflanzen. Ich haste weiter, alles ist irgendwie von unruhiger Ruhe erfüllt. Der Himmel ist blau und gelbe Wolken ziehen. Trotzdem keine heitere Stimmung. Im Schaufenster sehe ich passbildartige Fotos von tätowierten Ärschen. –

Donnerstag, 16. Juni 2011

1989 - VII

Fahrt durch endlos lange Straßen, eine Frau rennt einen Mann um. Sprachliche Wurfgeschosse, die keiner fängt, fliegen umher in Weihnachtspapier gewickelt und keiner packt sie aus. Im Bus und in der U-Bahn herrscht starrende Langeweile, Selbstbehauptung und –beherrschung. Selbst aufgestoßene Türen bringen nur den Kontakt zu mit Geldscheinen verstopften Mäulern. Macht hoch die Tür, aber den Geldbeutel schön weit. Inmitten des menschlichen Nihilismusgetöses faselt ein Vorsitzender etwas von Vereinigung und die Menge ruft: Helmut, rette uns. Das ganze Leben gearbeitet.. sächselt es uns entgegen. Mein Aktenkoffer für morgen ist gepackt, die Minuten gezählt, bis der Deckel auf mir nieder geht. –
Gambacher Kreuz und Einmündung in die Menge der roten Heckleuchten, die sich einer Schlange gleich durch den Taunus windet. Diese Lichter sind Belastung und Wärme zugleich.