Verluste
Meine Berufstätigkeit verlangte weiterhin viel von mir. Die Anerkennung, die ich mir so sehr wünschte, erreichte ich nur partiell. Mit der Ernennung eines Abteilungsleiters für den Bereich Satz neigte die Waage endgültig in Richtung meines Kollegen in der Kursredaktion. Zwar wurde mir wieder einmal der Posten eines Gruppenleiters angeboten, doch ging ich darauf nicht ein, weil ich genau wusste, dass ich dafür keine Unterstützung aus dem Haus gehabt hätte und dass es wahrscheinlich sowieso nicht gemacht würde.
Mein Bruder hatte unterdessen wieder einmal geschlagen, dieses Mal eine Frau und es kam zu einer Gerichtsverhandlung in Kassel. Für die Dauer der Verhandlung war er zeitweilig sogar in der JVA Wehlheiden untergebracht. Es gab wieder einen gerichtlichen Beschluss, der für ihn die Verlegung zurück nach Gießen bedeutete. Mein Verhältnis zu ihm war schwierig. Sobald ich etwas sagte, was ihm missfiel, schrie er, einmal hieb er mit der Faust auf den Tisch. Ich erschreckte mich ziemlich. Immer wieder gab es Anforderungen materieller Art, die insbesondere von der Mutter geschürt wurden. Mich belastete das sehr, im Grunde hatte ich vor meinem eigenen Bruder Angst. Mutter ging es schlecht, sie ging kaum noch aus dem Haus. Ihre Beine waren dünn und verbunden. Ihre Medikamente mussten von Vater besorgt werden. Vater wirkte aufgrund der Entwicklungen moderater mir gegenüber. Das Mietshaus der elterlichen Wohnung war von der Neuen Heimat modernisiert worden (u.a. Sprechanlage).
Zu meiner Unterhaltung spielte ich viel am 286er PC, oft zog mich Tetris in den Bann. Unser Vermieter begann, das Haus zu dämmen, das brachte uns eine Mieterhöhung auf fast 1000,- DM (inkl. Nebenkosten) ein. Immerhin konnte ich unseren roten Kastenpolo (so nannte ich ihn) privat zu einem vernünftigen Preis verkaufen. Das Auto war von Anfang an ein Fehlkauf, da es aufgrund der fehlenden Servolenkung als Zweitwagen viel zu schwergängig für Ruth war. Zudem wurden, wenn es an der Straße stand, auch mal an den Radventilen manipuliert. Das Auto hatte sich auch der Aufmerksamkeit einer neuen Kollegin erfreut. Manchmal fuhr ich damit an die Arbeit im Bahnhofsviertel. Da Parkplätze im Frankfurter Bahnhofsviertel rar sind, musste ich öfter auch welche mit Parkuhr nehmen und die musste regelmäßig mit Geld versorgt werden. Damit ich nicht hinlaufen musste, ging sie hin um nachzuzahlen. Dafür bekam sie später ein Fahrrad von mir. Es war mein erstes, ein Garelli-Rad mit relativ dünnen Reifen, fast ein Rennrad. Mir war das mit der Zeit zu sportlich.
Aus Lemgo kamen 1993 keine guten Nachrichten. Eine Cousine meiner Frau war an Leukämie erkrankt und das mit kleinen Kindern. Die Verwandtschaft bat nun um Hilfe mit einer Knochenmarkspende. Dafür musste man sich testen lassen. Man sollte verschiedene Antworten ankreuzen, die letzte lautete: "Ich will nicht helfen." Ruth ließ sich ärztlich beraten, der Arzt fand die Formulierungen auch happig, riet ihr aber von einer Knochenmarkspende ab. Das mussten wir also mitteilen. Der Gesundheitszustand meines Schwiegervaters hatte sich indes auch verschlechtert. Da wir bei unseren Besuchen stets mit Essen bewirtet wurden und dafür nichts bezahlten, war die Stimmung gereizt. Unsere Hotelkosten blieben dabei unberücksichtigt. Es legte sich aber alles wieder, wir luden die Schwiegermutter zu uns ein und auch mein Schwager mit Freundin besuchte uns. Das Treffen verlief harmonisch.
Weniger Glück hatten wir mit unseren Urlaubshotels. In Livigno schrieb ich: "Wir stellten heute fest, dass unser Hotel das teuerste im ganzen Ort ist. Unsere Flurlampe wurde heute erneuert. Nachdem ich das zum x-ten Male reklamiert hatte und einem der Angestellten zeigen musste, was ich mit Flurlampe meine, drehten die auf unserer Etage einfach eine Birne raus und setzten sie bei uns ein." Auch in Pietrasanta, wo wir das Hotel Mistral gebucht hatten, dass wir schon 1981 wählten, mussten wir das Hotel wechseln. Mit Glück bekamen wir ein kleines Zimmer im renovierten Teil eines anderen Hotels mit Strandblick. Wir waren dorthin noch einmal mit dem Auto gefahren und realisierten auch einen erneuten Trip nach Elba.
In der Firma tat sich einiges. Zwei Geschäftsführer verabschiedeten sich in den Ruhestand. Von vieren blieben also nur noch zwei übrig. Auch ein verdienter Mitarbeiter der Wertpapier-Mitteilungen, Godfather der sogenannten Gattungsdatei, die den Aufbau der Datenbank beschrieb, beendete seine Berufstätigkeit. Und es wurde ein Verlagsleiter eingestellt, der zukünftig Chef unserer Abteilung werden würde. Mittlerweile gab es auch ein Stechuhr und die Gleitzeit, was vieles erleichterte.
Mutter hatte manchmal klare Momente, wo sie auch freimütig über ihre eigene Familiengeschichte berichtete. "Mein Großvater, Gerhard Keßler, wurde im Juli 1903 geboren. Er hatte einen Bruder namens Heinz Keßler, der in Hamburg als Arzt lebte und eine Schwester. Sein Vater war ein Oberlehrer. Die Mutter stammte aus besseren Verhältnissen. Die Familie musste erst die Schulden des Gerhard Keßler bezahlen, damit er meine Großmutter heiratet, die bereits im dritten Monat schwanger war." (Gerhard Keßler hatte Spielschulden.) "Mit der Familie ist die der Hilde Keßler, meiner Oma (heute 82) gemeint. Sie ist eine geborene Amende. Sie hat ihrerseits drei Brüder, von denen einer in Stalingrad gefallen ist. Ein anderer starb an Krebs." Mutter konnte allerdings die Sticheleien gegen Ruth nie ganz lassen. Während ich ich mich bei einem Besuch in Kassel mit meinem Vater ganz gut verstand, ihm meine neue Video 8-Kamera erklärte und er sogar ein bisschen damit die Wohnung abfilmte, rief sie dann, als wir wieder zuhause waren, an und behauptete, Ruth habe geweint. Das entsprach natürlich nicht den Tatsachen.
Unsere 40. Geburtstage standen an. Ruth sollte eigentlich Besuch aus Lemgo bekommen, der aber kurzfristig abgesagt wurde. Dazu kam dann noch eine merkwürdige "Danksagung" seitens der Verwandtschaft, weil Ruth sich nicht zu einer Knochenmarkspende bereit erklärt hatte. Ein für später avisierter Ersatzbesuch der Eltern und des Schwagers wurde dann unsererseits abgesagt. Ruth wechselte wieder einmal die Stelle, von einer Anwaltskanzlei in die nächste. Wir kauften erneut einen Zweitwagen, dieses Mal einen Fiat Punto. Das Thema Eigentum ließ uns nicht los. Wir besichtigten immer wieder Wohnungen.
In der Firma wurde ich in sachlich fachlichen Fragen immer wieder gebraucht. Ansonsten geriet ich fast immer wieder zwischen verschiedene Fronten, die ich mir nicht aussuchen konnte. Es war Politik des Hauses, jeden Mitarbeiter nach Belieben mit jeder Arbeit zu betrauen, ohne das Kompetenzen geregelt waren. Das sorgte immer wieder für Unsicherheiten und brachte kollegiale Zwistigkeiten. Zum 31.3.1994 erhielt die Investmenttabelle durch die Einführung einer Berechnung des Zwischengewinns neue Bedeutung. Die Anzahl der Investmentfonds stieg durch die Veröffentlichungspflicht nochmals stark an. Dokumentation und Information darüber gehörte zu meinen Aufgaben. Die Broschüre "Was steht wo im Kursteil" gehörte nun auch zu meinem Metier.
Am 17.4.1994 starb meine Großmutter. Sie war in ihrer letzten Zeit sehr verwirrt. Es begann das unwürdige Schauspiel um einen Fernseher, denn ich aus Mainz abholen und meiner Mutter bringen sollte. Nach einigem Hin und Her erwartete mich der jüngste Sohn meiner Großmutter, mein Onkel Michael in seiner elterlichen Wohnung in der Mainzer Leibnizstraße. Neben dem Fernseher nahmen wir noch etwas Geschirr mit. Den Rest hatte wohl Michael aufzulösen. Im seinem Auto (einem roten Kadett) saß neben seiner zweijährigen Tochter noch seine damalige Freundin, die wir aber nicht mit der Mutter des Kindes in Verbindung bringen konnten. Auf der Rückfahrt nach Frankfurt musste ich entnervt das Steuer abgeben. Da mein Schwiegervater Geburtstag hatte, konnten wir Sachen auf einem Zwischenstopp in Kassel gleich abgeben. Über Lemgo schrieb ich: "Ich beneide die Leute in der Provinz, die ohne umgerannt zu werden, in die Stadt gehen können."
Wir realisierten einen lange gehegten Wunsch und reisten mit dem Bus zum Nordkap. Die obere Etage des Doppeldeckerbusses bot nicht genug Höhe, um aufrecht stehen zu können. Da meldete sich die Platzangst bei mir. Aber: mit gegangen, mit gefangen. Wir schifften nach der Ankunft in Kiel für eine Nachtüberfahrt nach Göteborg ein. Erster Stopp war Gävle in Schweden. Hotel miserabel und Weiterfahrt nach Sundsvall, wo uns eine der besseren Übernachtungen erwartetet. Sundsvall merkte ich mehr als sehenswertes Städtchen. Skelleftea war unser Ziel nach Überschreiten des Polarkreises Bei Rovaniemi. Das Polarzeugnis bekamen wir vier Kilometer südlich vom Polarkreis, was ebenso wenig ausmacht wie die Tatsache, dass das Nordkap gar nicht auf dem Festland liegt, sondern auf einer Insel, die nicht nördlichste Europas ist. In Sodanklyä waren wir in Finnland. Das war verbunden mit gutem Kaffee und leider etlichen Moskitostichen. Zwei quälten mich besonders, einer am Haaransatz und einer am Ellbogen. Hinter der norwegischen Grenze sahen wir von Schnee bedeckte Berge und keine feuchte Sumpflandschaft mehr. Abends waren wir zum Glück pünktlich im einfachen Hotel auf der "Nordkapinsel". Die Mitternachtssonne wurde natürlich um Mitternacht zelebriert, obwohl sie eigentlich die ganze Nacht scheint. Die nächtliche Sommersonne hatte uns die letzten Tage schon begleitet, wir gewöhnten uns daran. Unser fränkischer Busfahrer dagegen überzeugte immer wieder mit abgelesenen Fakten: so sei München die zweitgrößte Stadt Deutschland und Norwegen sei 800000 qkm groß (es hat eigentlich nur 385000 qkm). Das Hauptproblem war aber, dass er einen neuen Bus übernommen hatte, den er nicht gut kannte. Entsprechend fuhr er immer langsamer als nötig. Die Länge Norwegens sollten wir auf der Rückfahrt zu spüren bekommen. Über Hammerfest ging es auf dem Rückweg nach Storslett. Storjord sollte dann die nächste Etappe sein. Hier fuhr unser Fahrer einfach mal 100 km zu weit südlich, verirrte sich dann in eine schmale, abschüssige Straße, wo er kaum Wendemöglichkeiten fand. Viele der recht alten Gäste bekamen massive Absturzangst und Schnappatmung. Auf den einsamen Strecken entlang der Fjorde einen Unfall zu haben, war keine gute Vorstellung. Es gab weder Handys nach Navigationssysteme. Das Verhalten des Fahrers wurde natürlich von etlichen Gästen, typisch deutsch, verteidigt. Oslo erreichten wir schließlich über Mo i Rana, Hell, Trondheim, Gjövik und Lillehammer. In Trondheim hatten wir schon überlegt, die Reise anzubrechen und nach Hause zu fliegen, da unser Hotel am Flughafen lag. Die Nachtüberfahrt von Oslo brachte uns nach Frederikshavn und über Bad Oldesloe nach hause zurück. Filme und Bilder bleiben davon sehr eindrucksvoll zurück. Ich jedoch war in ängstlicher und nervöser Stimmung und hörte, wie Ruth bemerkte, die Grillen nicht mehr zirpen. Es stellte sich heraus, dass ich an einem Tinnitus litt. Die Behandlungen mit Infusionen, Akupunktur und der Überdrucktherapie brachten keinen nennenswerten Erfolg. Während eines Besuchs in Lemgo erlitt Ruth eine Gesichtsnervenlähmung. Gesichtsgymnastik im Heilig-Geist-Krankenhaus half ihr letztendlich.
Meine berufliche Situation war durch meine Krankschreibung nach der Nordkap-Fahrt etwas entspannter, die Probleme blieben. Neuer Mitarbeiter in der Kursredaktion, neues Personal in der Datenerfassung für die Investmentfondspreiseingabe. Folglich suchte ich nach beruflichen Alternativen. auch in Lemgo, allerdings ohne Erfolg.
Einen kleinen Erfolg hatte ich mit meinen Gedichten. Der Autorenverlag im Weserhof veröffentlichte in einem Sammelband mehrere Gedichte und Texte von mir. Ich musste lediglich die Belegexemplare bezahlen. "Das Boot", "Königin", "Mann nehme", "Rubbish" und "Heißer Stein" hatten es aus meinem Buch "Melancholie unter Palmen" in den Sammelband "Unser Bestes" geschafft.
Was behielt ich von 1994 zurück: das Ohrensausen und eine neue Küche, die erst nach mehreren Besuchen von Handwerkern komplett war. Wir verschönerten unsere Mietwohnung auf unsere Kosten und ließen die Küche zusätzlich fließen. Auch investierten wir in einen BMW 318i für 48.000 DM. Das gelang uns erst, nachdem wir den freundlichen Verkäufer überzeugen konnten, dass auch wir den 10%igen Rabatt verdient hätten, den sonst nur Mitarbeiter der Rechtsanwaltskanzlei bekamen, in der Ruth tätig war. Zwischenzeitlich war auch mein Bart ab. Irgendwie wollte ich mich jünger machen. Mich quälte der Gedanke an den 40. Geburtstag, schließlich hatte ich früher schon gedacht, dass ich im Jahr 2000 45 und damit schon sehr alt wäre. Sexuell suchte ich nach Auswegen aus meiner Monogamie, ohne dass es fruchtete. Der Gedanke an Nachwuchs war nun sehr stark in mir.
Von den Damen in der Investmentpreiserfassung wurde ich mal angezogen, mal abgestoßen. Eine Frau Polesnik meinte immer "Bitt' scheen, i bitt' Sie, wir können doch über ols reden." Zu deutsch, zu sagen haben sie mir nichts. Die dienstältere Frau Mosebach dagegen meinte: "Sie haben mir gar nichts zu sagen." Darin jedenfalls waren sich die Damen einig. Bewerbungen meinerseits im Bankengewerbe scheiterten immer an meinem Ausbildungsberuf "Buchhändler" und wenn es zu einem Gespräch kam, dann war ich meist nach Schilderung meines Arbeitsplatzes zu überqualifiziert. Die Eindimensionalität im Bankenwesen gefiel mir allerdings auch oft nicht. Der Zirkus ging also in der Börsen-Zeitung weiter.
In die Tinnitusklinik ging ich nicht, obwohl eine Auszeit vielleicht gut gewesen wäre. Aber im nachhinein bin ich dankbar, es genauso wenig getan zu haben wie mir Cortison geben zu lassen. Das Ohrensausen wurde mir zum Betriebsgeräusch. Wenn ich es nicht mehr höre, dann bin ich bestenfalls schlafend.
"Herr E. erklärt, dass er Ende 1996 ausscheiden wird. Ich soll die Nachricht für mich behalten. Wahrscheinlich wüssten es sowieso schon alle."
Schwiegervater feierte seinen 80. Geburtstag:
"Achtzig Jahr, selten wahr, Gesichter wachen, ihm ist nicht zum Lachen."
Mutter wurde immer dünner, isst nicht mehr wegen fehlender Zähne.
Unseren Zweitwagen hatten wir nun nach kurzer zeit wieder verkauft an einen Zahnarzt aus Fechenheim. Nachdem wir uns eigentlich handelseinig waren, wollte er letztlich den Wagen nicht abnehmen, obwohl wir ihn wunschgemäß gewaschen hatten. Ich musste erst zu einem Anwalt gehen, den Dr. Volze in Frankfurt, dem ehemaligen Anwalt des Lang Verlags. Für ihn hatte ich während der Zeit im Verlag ein Buch produziert und er war mit mir zufrieden gewesen. Er forderte den Herrn Doktor nun auf, den Wagen innerhalb einer gesetzten Frist abzunehmen. Da erschien der Herr Doktor dann an einem Freitagabend mit einem Zeugen. 17000,- DM zahlte ich danach auf der Post ein.
Meinen 40. Geburtstag verbrachte ich in einem kleinen Hotel direkt in Kaltern am See. Meine Schwägerin war dabei. Insbesondere geschah dies auch deshalb, weil die von mir ausgesprochene Einladung anlässlich meines Jubeltages, die ich an Ruths Familie in Lemgo gerichtet hatte, ohne Reaktion blieb. Ich erhielt noch nicht einmal eine Antwort. Die Berge zogen uns weiterhin an. Auch die Gegend um Ellmau wurde uns zum Ziel. Unser neues Auto ramponierten wir uns bei einem weiteren Urlaub in Kaltern. Die Auffahrt zur Ferienwohnung erwies sich für unser Sportfahrwerk am BMW als ungünstig. Zum Glück erwies es sich als Schramme am Unterboden.
Mit dem stückweisen Rückzug des Geschäftsführers Herr E. wendete ich mich mehr und mehr von den betrieblichen Vorgängen ab. Ich verstand mich gut mit Zena, einer polnischen Programmiererin und mit José, zu dem ich immer mit Änderungswünschen kommen konnte. In Sitzungen meinte José oft: wir machen es "quick und dirty". Das gefiel mir. Mit der Satzabteilung gab es dagegen immer Probleme. Die Unterstützung der Technik hatte sich bereits mein Kollege in der Abteilung gesichert. Der Abteilungsleiter imponierte ihm mächtig.
Ich dagegen versuchte nun mein Leben dichterisch zu verarbeiten. Das gelang auch in meinen eigenen Augen mal besser, mal schlechter. Wo wir konnten, spielten wir Tennis. Das war immer dann mühselig, wenn wir es ohne Trainer versuchten. Wenn ich mit meiner Mutter telefonierte, musste ich regelmäßig gähnen. Ich wusste selbst nicht warum. Mir brachte das immer die Frage ein: "Bist du müde, Junge?". Das war meistens nicht der Fall. Die Idee, damit in eine Talkshow zu gehen, kam auf, als bei Frau Schreinemakers in der Sendung das Thema "Gähnen" behandelt wurde. Nachdem wir eine Einladung bekommen hatten, fuhren wir auf Kosten von RTL mit dem Zug nach Köln. Shuttleservice, Hotel und Verpflegung vor Ort, alles war im Preis drin. Nur zum Auftritt kam es nicht, denn Margarete verbiss sich in das Thema "Rinderwahn". Der Beitrag und die Diskussionen zogen sich endlos hin. So fuhren wir unverrichteter Dinge ins Hotel "Wasserturm" zurück und genossen die komfortable Unterbringung. Dummerweise hatte ich Mutter unterrichtet und die wiederum die Verwandtschaft alarmiert. Erklärungsbedarf, die Sendung sollte dann im November 1995 nachgeholt werden, fiel aber auch ins Wasser. Mir blieb eine Flasche Schreinemakers-Sekt und ein Scheck über 500,- DM Honorar.
"Möglicherweise letztmalig erlebten wir gestern den Besuch meines Schwiegervaters bei uns. Mein Schwager kam mit seiner Freundin und den Schwiegereltern gegen halb elf morgens aus Leese an." Da auch meine Schwägerin gekommen war, saßen wir mit sieben Personen auf unserem Balkon und aßen eingelegte Hähnchenfilets und tranken dazu einen Pinot Grigio, den wir aus unserem letzten Kaltern-Urlaub mitgebracht hatte. Unser neues Bad wurde ebenso besichtigt wir die Wohnung meiner Schwägerin in Frankfurt-Ginnheim. Als sie kamen, saß ich vor dem Fernseher und sah irgendeinen sinnlosen Piratenfilm. Mein Schwiegervater setzte sich auch gleich auf die Couch. Er war der Einzige der Familie, der regelmäßig nach meiner Familie fragte und der uns ab und zu einen kleinen Zuschuss zu unseren Hotelübernachtungskosten zu steckte, da wir im Fachwerkhaus der Schwiegereltern nicht mehr übernachteten. Wir hatten einen gemeinsamen Nenner. Er verstand meine Einsamkeit. Er selbst war als junger Mann schon allein in Deutschland unterwegs gewesen, hatte im ostpreußischen Schwirgstein einen Hof seiner Mutter bewirtschaftet (sein Vater war früh auf Zeche verunglückt) und den Russlandkrieg mit Geschick und Glück nicht ohne Verletzungen überlebt. Einzig in der Frage, ob der Krieg gegen Russland zu gewinnen gewesen wäre, waren wir uneinig. Er glaubte, ohne die Materiallieferungen der Amerikaner, hätten sie gewonnen, denn "Der Russe hatte ja nichts". Im Nachgang zum damaligen Tagesbesuch schrieb ich:
es war wohl das letzte Mal,
das ich hier war.
Gemach,gemach,
hast noch Zeit,
es ist noch nicht soweit,
meint da der Sensenmann.
Er lächelt und der Alte
geht zitternd davon."
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