Posts mit dem Label Estland werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Estland werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Sonntag, 14. September 2014

14.9. - Nachwort

Morgens letztmaliges Frühstück im Hotel, etwas Wehmut ist dabei. Meinen Fußweg zum Krankenhaus werde ich nicht noch einmal gehen. Bin etwas früher dran wegen der Abholung um 11 Uhr. Die Sonne scheint im schönsten Widerstreit mit meinen Gefühlen.
Am Krankenhaus gibt es ein Problem, eine ältere Dame versucht mir resolut den Zutritt zu verwehren, es sei noch keine Besuchszeit. Ich gebe aber nicht nach und erkläre ihr das mit dem Flughafen.
Auf der Station heißt es: Abholung zum Flughafen ist erst um 16 Uhr. Auch das glaube ich nicht.
Ich kontaktiere den ADAC, der zunächst dabei bleibt, doch auch die Reiseleiterin Sirli hat als Abholzeit 16 Uhr angegeben.
Die Angst geht um bei mir und meiner Frau, werden wir heute wieder unseren Heimflug verpassen?
Schließlich meldet sich der ADAC und bittet um Entschuldigung, unsere Abflugzeit sei mit der eines anderen Notfalls verwechselt worden. 15 Uhr wäre richtig.
Wieder rätseln, warum die Zeitangaben unterschiedlich sind. Heute Mittag wollen wir was anderes als Krankenhauskost. So gehe ich noch einmal im kleinen Einkaufscenter etwas holen. Ein unverhoffter Abschiedsgang. Alles kann ich wie immer mit der Kreditkarte bezahlen. Wir essen zusammen in ihrem Zimmer, dass nun bald neu belegt werden wird.
Aber können wir sicher sein?
Das Krankenhaus ist für die Bestellung des Krankentransports zuständig. Ich interveniere, die Zeit sei doch zu kurz, wenn wir schon um 17.20 fliegen sollen. Schließlich wird uns 15 Uhr zugesagt.
Meine Frau ist reisefertig, liegt auf dem Bett, wir warten, 15 Uhr verstreicht, es passiert nichts.
Die kommen erst um 16 Uhr, denken wir. Doch gegen 15.30 Uhr passiert das Wunder, ein Trupp Sanitäter stürmt die Station. Sichtlich schlecht gelaunt, ein kahl Geschorener und eine Frau, die ständig nickt, wenn man etwas sagt. Der Kahle zwingt meine Frau, das falsche Bein beim Umsteigen vom Bett auf die Transportliege zu belasten. Dann geht es im Eiltempo hinaus. Kein Abschied, kein Glückwunsch begleiten uns. Das Personal ist nicht unfreundlich, aber wir sind Fremde geblieben.
Der Weg vom Ida-Tallinna zum Flughafen ist nicht sehr weit, bald wird klar, warum die Sanitäter erst spät fahren wollten. Am Flughafen ist die Maschine noch nicht da. Wir müssen durch eine separate Sicherheitskontrolle. Sowohl meine liegende Frau als auch ich werden separat voneinander kontrolliert und abgetastet. Dann sehen wir uns im Krankenwagen wieder. Warten, warten auf die Lufthansa-Maschine aus Deutschland. Schließlich ist sie da.  
Ein deutscher Sanitäter kommt auf unseren Wagen zu, stellt sich vor, ist freundlich. Ob wir die Tickets haben, ich verneine. Er kümmert sich. Spricht mit den estnischen Kollegen. Es dauert, er kommt mit den Tickets und unseren Ausweisen zurück. Wir fahren zur Maschine, der Hintereingang ist uns vorbehalten.
Eine Zwischenwand wird entfernt. Meine Frau wird auf den Transport umgebettet. Vier starke Männer müssen das Transportbett mit meiner Frau nun anheben und über den hinteren Sitzplätzen montieren.
Meiner Frau bleibt der Blick zur Kabinendecke.
Der Sanitäter nimmt auf einem der so "überdachten" Sitze Platz, ich als Vollzahler in der Reihe daneben.
Wir werden noch vom Flugkapitän begrüßt werden. Beim Start unterhalte ich mit dem Sanitäter über seinen Job als Rückholer. Während Estland unter uns zurück bleibt, erzählt er, dass er bei Transporten aus exotischen Ländern selbst die ein oder andere Hotelübernachtung machen muss, bis der Rückflug nach Deutschland möglich ist.

Später werde ich schreiben: nun sitze ich schon den zweiten Tag wieder im Zug zur Arbeit. Möchte ein bisschen Estland in mir mitnehmen und weiß, dass es nicht gelingen wird.

Samstag, 13. September 2014

13.9.

So ganz konnte ich es nicht lassen, wollte am vorigen Abend denn doch noch die Gegend erkunden, ein bisschen an die guten Zeiten unseres Urlaubs vor dem Unfall anknüpfen. Wir hatten noch am letzten Abend ganz gut im Rotermann-Quartier gegessen. Da zog es mich hin, doch leider war die hervorragende Pizzeria an diesem Tag nicht geöffnet. Unverrichteter Dinge kehrte ich (auch ein bisschen erleichtert) in die Hotelbar zurück. Abends rief mich dann noch ein Cousin an, um mir zu gratulieren. Als er jedoch merkte, dass ich mich im Ausland aufhalte, fand das Gespräch ein schnelles Ende. So verhält es sich also mit meiner Verwandtschaft, dachte ich.



Für den nächsten Morgen erwartete ich meinen letzten kompletten Tag im Krankenhaus. Ich bilanzierte:
"Drei Tage gemeinsamen Krankenhauslebens liegen für meine Frau und mich hinter mir.
Ich habe von Tallinn nicht mehr gesehen als den Weg vom Hotel zum Krankenhaus und mittags noch den Weg zu einem Einkaufscenter. Morgen nun sollen wir um 11 Uhr abgeholt werden, um 17.20 Uhr geht es mit dem Flugzeug nach Frankfurt. Wir beide in der Economy-Klasse der Lufthansa, sie über fünf Plätzen, ich auf einem selbst bezahlten Platz. Die billigste Transportart, die der ADAC kennt, abgesehen vom "gelben Flieger".
Ich tue mich schwer damit, über eine Sache zu schreiben, die noch nicht abgeschlossen ist. Heute fand ich meine Unterhose stark vorgewölbt auf dem Bett liegend vor.
Wer hat hier seine Fantasien ausgelebt? "

Klagen konnte ich über mein Hotel auch ob dieses "Services" nicht, die Verlängerung meines Aufenthaltes Tag für Tag klappte reibungslos.
Ich versuchte an diesem Tag noch, mit meiner Frau im Rollstuhl in den Innenhof des Krankenhauses zu fahren, aber sie mochte nicht wirklich draußen sein. Immerhin konnte ich ihr das kleine Café im Erdgeschoss zeigen.
Der ADAC ließ sich lange bitten, bis endlich die endgültige Bestätigung unserer gebuchten Flüge kam.
Das wir nicht mit dem gelben Flieger transportiert werden würden, war schon klar. Die sind überwiegend in Spanien eingesetzt bzw. da, wo viele deutsche Touristen Urlaub machen. Dazu gehört Estland nicht.

Auch angesichts des bevorstehenden Abschieds, es hieß packen, denn mein Weg würde mich am anderen Tag direkt zum Flughafen führen, verließ mich die Lust, meine Zeit mit dem Schreiben meiner Gedanken zu verbringen. Ich wäre gern noch mal an die Ostsee gelaufen, schaffte aber nur noch einen kleinen Rundgang, bei dem ich mich auch noch halbwegs verlief. Schwärme von Krähen belebten die Dämmerung über Tallinn.
Auf den großen Straßen ließen einige Motorradfahrer ihre Maschinen mal nur auf den Hinterrädern fahren.
Freitag Abend eben und mein letzter in Tallinn.




Mittwoch, 10. September 2014

10.9. - Mein estnischer Traum

In Tallinn hielten wir uns unfreiwillig vom 9.9.-14.9.2013 auf. Die Erinnerung verändert doch manche Eindrücke und macht vieles ungenau, manches allerdings weiß man erst später besser einzuschätzen.
Dort schrieb ich:

" Der estnische Traum "

Auf dem Hinflug nach Tallinn, eine Woche ist das her, sitzt wieder mal einer von den Menschen, die meinen, dass sie größer werden, wenn sie ihre Arme seitlich weiter ausbreiten. Nun, beim Rückflug werde ich nicht das Vergnügen seiner Gesellschaft haben.

Unsere Gruppenreise zum Tallinn Express Hotel ist schon zu Ende. nur nicht für uns. Dabei war die Zeit sehr schön, kein Tröpfchen Regen. Ein Trip in die Altstadt von Tallinn am ersten Tag. Führung durch eine Reiseleiterin von "Estonian Travel". Am nächsten Tag steht ein Ausflug in die östlich von Tallinn gelegenen Landesteile an. Die Fahrt Richtung Narva führt uns zu einem Urwald, von dem aus wir eine Hochmoorwanderung machen. auf einem mehr oder weniger schmalen Steg geht es darüber. Manch Einem fehlt die Ausdauer und vielleicht auch die Trittsicherheit. Unsere Reiseleiterin weist unermüdlich auf die Vegeation hin, besonders die Mossbeeren oder estnisch "Moltabeeren" haben es ihr angetan. Dann führt die Tour zu einer sehr schönen Selbstbedienungsrast mit typisch estnischen Speisen. Danach sind wir alle gestärkt für den Laheema-Nationalpark. Hier wird die Geschichte der Deutschbalten anhand des Gutshauses Palmse lebendig.
Später muss unbedingt noch eine Ordensburg in Rakvere besucht werden. Man hätte es sich sparen können. Aber Ritterspiele sind auch in Tallinn's Altstadt sehr beliebt. Da gibt ein altes Hanselokal ebenso wie die typisch estnische Küche verkostende "Esthni Koek".
Was aber sagt das alles über die Esten aus? Garnichts.
Ich jedenfalls werde jetzt in Tallinn 58 Jahre alt. Und es macht mir noch nicht einmal etwas aus. Meine Frau liegt jetzt im Ida-Tallinna Keskhaigla-Krankenhaus, nachdem sie sich am letzten Tag der Reise morgens beim Frühstück im Hotel durch einen Sturz die Hüfte gebrochen hat.
So sehr wir auch, nachdem das feststeht, um einen Krankentransport zum Flughafen betteln, um den gebuchten Rückflug doch noch zu erreichen, eine Ärztin stellt fest: so geht das hier nicht.
Da nutzt meine Aufgeregtheit nichts, sie sagt nur, ich solle herunter kommen. Dann werden wir in einen Raum abgeschoben, wo meine Frau auf einer harten Unterlage liegt, ohne das es jemanden zu kümmern scheint. Wir wollen diese OP nicht, doch nicht in Estland. Aber hier ist die Notaufnahme. Alltag, wartende Menschen, verschlossene Türen zum Arztbereich und zum Aufnahmebereich, wo meine Frau liegt. Laufe ich hinaus, komme ich vielleicht noch mit dem Personal wieder hinein.
Der ADAC, mit dem ich Kontakt aufnehme, rät durch einen Arzt zur OP, der Standard sei so gut wie in Deutschland.
Ich soll Medikamente in einer Apotheke holen, sagt mir ein Arzt. Ein Anti-Thrombose-Medikament. Später stellt sich heraus, es ist Aspirin, was mir verkauft wurde. Das war falsch, sie hatte aber bereits eine Tablette genommen. Nicht gut, wenn eine OP bevor steht. Sie bekommt Angst. Ich werde noch einmal geschickt. Kaufe schließlich für über 30 € das aufgeschriebene Medikament, sie wird es nie brauchen.
Meiner Frau wird Blut abgenommen, der Einstich blutet, es läuft auf ihre neue Handtasche, die sie immer noch um den Hals hat. Ich nehme ihr die Tasche ab.
Besorge Wasser. Die Dame von der Registratur bietet uns einen Transport nach Deutschland an, 2300 € soll er kosten, 25 Stunden mit dem PKW. Ich winke ab, telefoniere mit der Reiseleiterin, veranlasse, dass unser Gepäck erst gepackt und schließlich zu uns gebracht wird. Sie erzählt mir was, von einer "Sit-to-Fly"-Bescheinigung, die ich vom Krankenhaus einfordern soll. Verstehe nur Bahnhof und fordere trotzdem, es interessiert Keinen. Die Menge in der Notaufnahme wird nicht kleiner, sie schaut mich, den hin- und herlaufenden Mann merkwürdig an. Meine Frau muss ihre Geschäfte auf dem Topf verrichten, ich helfe, sie hat Schmerzen.
Irgendwann gebe ich auf, warte nur noch, bis die Reiseleiterin endlich mit dem Gepäck vom Flughafen zurück kommt. Sie will mir ihre Taxiquittung geben, lässt es aber sein, nachdem ich das Essen für sie mit bezahle, was wir draußen vor dem Krankenhaus an einer Döner- und Hamburgerbude kaufen. Obwohl wir wirklich Hunger haben, es schmeckt  uns nicht wirklich. Dann geht aber alles recht schnell, wir verlassen endlich den Aufnahmebereich und sie bekommt nach ihren Rückenschmerzen endlich ein Krankenbett.
Wir landen in einer Privatstation, ein Zimmer mit drei Betten, abgeteilt durch Vorhänge, rötliches Licht, gemütlich. Es gibt sogar Gebäck und Tee, ich darf die Nacht bei ihr bleiben und kann das Heulen nicht unterdrücken, mehrmals.
Die Reiseleiterin ist unser letzter Halt, erzählt uns von ihren eigenen schweren überstandenen Krankheiten. Leider will sie uns zu besseren Menschen machen, das stört uns ein bisschen. Als sie schließlich Feierabend macht, holt uns der Alltag ein.
Ich assistiere meiner Frau bei Ihren Wünschen, hauptsächlich nach besserer Lagerung, in der Nacht. In Unterhosen schrecke ich ungefähr jede Stunde auf. Manchmal muss die Schwester kommen. Eine bärtige junge Schwester lächelt mir zu.
Draußen sind auch nachts die abfliegenden Flugzeuge vom Flughafen Tallinn zu hören. Ich schließe das Fenster.
Am nächsten Morgen stellt es sich nach der Chefarztvisite (endlich ein netter in sogar deutsch sprechender Arzt) heraus, dass die Intensivstation angesagt ist.
Ihr Bett wieder hinter einem Vorhang, ich mit Gepäck davor. Helles Zimmer mit Sonne und den ganzen Tag Warten auf die OP.
Hier geht nun nichts mehr mit Pampers, Katheder ist angesagt, Blutdruck wird regelmäßig gemessen und wieder eine Salzlösung intravenös gegeben. Kein Essen mehr, kein Trinken. Als sie endlich abends um halb sechs zum OP-Saal geschoben wird, nehme ich ein "cheap Taxi", so wie es mir von der Reiseleiterin empfohlen wurde und zähle 7 € für die relativ kurze Fahrt zum Hotel.
Bezeichnenderweise nennt sich die Firma "Amigo". 4 € wären vielleicht angemessen gewesen. Angesichts des kahl geschorenen Fahrers vermeide ich Kommentare und Verhandlungen, tue noch so, als würde ich jetzt regelmäßig für diese Strecke ein Taxi brauchen und habe längst beschlossen, keines mehr zu nutzen.
Auch für das Hotel "Reval Park Casino" zahle ich angeblich eine "special rate", die mir unsere Reiseleiterin gebucht hat. Es ist wesentlich besser als das für unsere Rundreise gebuchte Hotel. Aber was habe ich davon: Blick über die Skyline von Tallinn, gegenüber ein Hochhaus, das gerade entkernt wird.
Nach einem abendlichen Imbiss in der Hotelbar rufe ich im Krankenhaus an, will wissen, ob die Operation gelungen ist, aber mich versteht niemand. Meine Frau ist anscheinend nicht existent. Bin zu müde, um mich aufzuregen und lege auf. Morgen werde ich ja weiter sehen.

Samstag, 28. September 2013

Tallinn - nicht nur ein Reisebericht



Unser Kurzurlaub in Tallinn endete anders als gedacht.  Nach vier Tagen und bei schönem Wetter stürzte meine Frau und brach sich die Hüfte.
Nun lernte ich das Land anders als gedacht kennen. Zwar war unsere Reiseleiterin schon beim Stadtrundgang am ersten Tag darauf bedacht, uns das schwere Schicksal der Esten beizubringen, aber die Realität ist unmittelbarer.
Die Esten sind ein sehr zurückhaltendes, freundliches Volk. Sie sind aber auch unglaublich stur. Sie ertragen alles mir unglaublicher Ruhe quasi als gottgegeben. Beschwerden finden sie mehr oder wenig lächerlich.

Alles in allem ist mir das alles sehr sympathisch, da es meinem eigenen Charakter sehr nahe kommt. Sicher hätte unsere Reiseleiterin einen Zusammenhang zwischen dem, was uns passierte und meiner Beziehung dem Land gegenüber, gesehen. Sie sah auch den Sturz meiner Frau als einen Wink des Schicksals an. Etwas im Leben muss sich ändern.

Dieses flache Land mit den großen Kiefernwäldern und den idyllischen Stränden an der Ostsee hatte es mir so angetan wie die Altstadt von Tallinn, in der man meinte, die Hektik des modernen Alltags hinter dicken Mauern vergessen zu können. Die Oberstadt war einst Sitz vieler Deutschbalten, die zudem noch Güter und Sommerresidenzen auf dem Land besaßen.
Auf den Einfluss der Deutsch-Balten kam unsere Reiseleiterin immer wieder zu sprechen.
Den kann man vor allem in der estnischen Küche gut erkennen. Im modernen Tallinn dagegen ist der russische und sowjetische Einfluss kaum zu übersehen. Eines der ersten Projekte nach dem so bedeutsamen Beitritt Estlands zur EU war denn auch der Bau der Autobahn von Tallinn nach St. Petersburg.
Die deutsche Sprache ist nach Estnisch, Russisch und Englisch allenfalls viertrangig. Dies wurde von einem Nachkommen eines Deutsch-Balten in unserer Reisegruppe denn auch bemängelt. Man habe das Land doch aufgebaut. Vergessen hat er dabei wohl die den Esten zugedachte, untergeordnete, Rolle.
Während die Esten mehrfach von Russen und Deutschen beherrscht wurden, verloren die Deutsch-Balten auch unter russischer Herrschaft nie ihren gesellschaftlichen Einfluss. Schluss machte damit erst der Hitler-Stalinpakt von 1939, der die Deutsch-Balten heim ins bald nicht mehr existierende Reich führen sollte.
Tallinn ist der Spiegel der estnischen Geschichte. Kathedralenartige Häuser mit Sowjetstern auf dem Dach finden sich ebenso wie kleine orthodoxe Holzkirchen, alte aus Kalksandstein gebaute Häuser haben einen modernen Aufsatz aus Glas und Stahl erhalten. Das moderne Tallinn leistet sich durchaus eine nennenswerte Skyline.

Den Blick auf diese Skyline hatte ich nun. Vier Tage lang konnte ich die Fassaden in unterschiedlichen Farben bewundern, je nachdem ob es Morgen oder Abend war. Denn dazwischen war ich im Ida-Tallina-Krankenhaus und sah die Fortschritte, die meine Frau bei ihrer Genesung machte, ohne das sie diese selbst wahr nahm.
Unsere Reiseleiterin hatte darauf hingewiesen, wie wenig die Esten durchschnittlich verdienen und das Pflegepersonal in Krankenhäusern zählt nicht zu den Beschäftigten, die an der Spitze der Gehaltsliste stehen.
Dennoch wir wurden nie unfreundlich angesprochen, so wie es in deutschen Krankenhäusern schon mal passiert. Höchstens wurde mal wortlos eine Handreichung gemacht.  Aber bei dem vielen Personal war das die Ausnahme. Allein in der Intensivabteilung, wo die Patienten vor der OP liegen, gab es 3-4 dauerhaft anwesende Schwestern. Drückt ein Patient den Schwesternknopf, geht ein Alarm los, der kaum zu überhören ist. Und so kommt wirklich relativ schnell eine Schwester.
Die OP meiner Frau war ungeplant, was zur Folge hatte, dass sie erst gegen Abend dran kam. Der Chefarzt, ein jüngerer sympathischer und vor allem englisch sprechender Mann, hatte uns am Morgen den Operateur, einen russischen Arzt, vorgestellt.
Nach anderthalb Stunden mit örtlicher Betäubung der Beine bis zur Hüfte war die OP vorbei und wie uns später auch in Deutschland bestätigt werden sollte, perfekt gemacht.
Wir hatten schon gehört, dass selbst die Finnen gern für Operationen nach Estland fahren. Dabei warten die Esten selbst manchmal zwei Jahre auf ihre OP.
Meine Wege zum Krankenhaus hin und zurück konnte ich, abgesehen vom Rauschen des Verkehrs auf den breiten Straßen, genießen.  Erfreulich wenige Radfahrer nutzen die vorhandenen breiten Radwege und niemand hetzt und läuft einem entweder vor den Füßen herum oder steht einem auf den Hacken. Man geht normalen Schrittes, man belästigt sich nicht.
An verschiedenen Parks, die sich immer wieder als große und wohltuende Verkehrsinseln auftun, stehen Schilder, die auf die Gefahr von Taschenräubern hinweisen. Bedrohlich fand ich die Situationen nie, in denen ich mich mit Einheimischen oder anderen Touristen befand.
So war ich fast überrascht, als mir in der Hotelrezeption ein junger und größerer Mann als ich, freundlich auf die Schulter klopfte. Wir haben kein Wort miteinander geredet, weder davor noch danach. Er war mit zwei anderen jungen Russen Gast im Hotel wie ich.
Die Esten sind keineswegs überschwänglich, bei der Begrüßung ein Kuss, das ist sicher nicht üblich, vielleicht zwischen sehr sehr guten Freunden und/oder Freundinnen. Gesehen habe ich das öffentlich nicht.
Eines Abends, es war einer der Abende, wo wir schon wussten, dass wir wohl bald nach Deutschland zurück fliegen können und nach unserem immer etwas schwierigen Abschieden im Krankenhaus, steht ein großer Regenbogen am Himmel vermeintlich über einer der russischen Holzkirchen.


Ein junges Mädchen steigt vom Rad, um eine aus einer Parkhauseinfahrt kommende Autofahrerin in ihrem PKW darauf hinzuweisen. Sie halten einen Moment inne, lachen und setzen dann jeweils nacheinander ihren jeweiligen Weg fort.
Einmal verlaufe ich mich im Regen, doch mit der Hilfe vieler Passanten, komme ich problemlos zum Hotel zurück. Eine Frau entschuldigt sich für ihr schlechtes Englisch, weil sie das englische Wort für "Ampel" nicht kennt. Nach einigem Überlegen komme ich schließlich drauf uns sie nimmt es dankbar auf, begleitet mich ein Stück, bis ich meinen Abzweig gefunden habe. Den Regen vergaß ich ganz.
Nach meinem missglückten Ausflug, esse ich eigentlich jeden Abend im Hotel. Auch weil mich dort bei jedem Service, egal ob Getränk oder Essen eine blonde Kellnerin mit Zahnspange freundlich anlächelt. Ein Highlight jedes Tages, bevor ich in mein schwarzrotes Kabinett gehen muss.
Souvenirs zu kaufen, dazu kam ich einfach nicht. Der große Supermarkt, den ich täglich passierte, hatte so etwas nicht. So bleibt meiner Frau wohl nur die flexible Schraube in der Hüfte, auf die sie gern verzichtet hätte. Immerhin hatte ich noch die kleinen Süßigkeiten, die uns eine der Damen an der Registratur der Notaufnahme gegeben hatte. Fast jeden Tag der Woche nach unserer Rückkehr bis zum Tag dieses Berichts verspeiste ich das, was eigentlich als Notration im Krankenhaus vorgesehen war. Denn ebenso wenig wie es Telefon oder Fernseher in den Zimmern gibt, gibt es eine regelmäßige Verpflegungsmöglichkeit  für Besucher.
Dafür gab es einen sehr individuellen Empfang auf der Privatstation, wo ich die erste Nacht mit meiner Frau zusammen verbringen konnte. Gebäck und Tee wurde von den Schwestern organisiert und gebracht. Des Nachts schlief ich nur in Etappen, angepasst an den Schlafrhythmus meiner Frau, die kaum ein Auge zu tun konnte und öfter nach mir rief. Da sich mein Schlafanzug im völlig unorganisiert gepackten Koffer befand, schlief ich in der Unterwäsche, musste ab ab und zu raus. Die Toilette war draußen auf der Etage und bei meiner Frau war öfter das Bett zu richten. Ab und zu mussten die Nachtschwestern gerufen werden. Eine leicht bärtige wird mir in Erinnerung bleiben, sie lächelte mir ab und zu aufmunternd zu.
Es ist schon erstaunlich, welche Arbeit im Krankenhaus geleistet wird. Da schämt man sich fast für die eigenen Nörgeleien.
Tage später liefen in Deutschland die Planungen für unseren Rücktransport an. Fast wehmütig war ich am Morgen ein letztes Mal meinen täglichen Gang vom Hotel zum Krankenhaus gegangen, immer an der großen Straße entlang vorbei an einem dunklen Eckhaus mit verschiedenen Läden drin und um die Ecke an einem Hamburgerladen vorbei, in dem eine russisch sprechende alte Frau mit süßem Senf beschmierte Hamburger und Kebabrollen feil bot. Davon hatten wir ja am ersten Abend gekostet, nachdem der Tag in der Notaufnahme ohne große Nahrungsaufnahme geblieben war.
Dann überquerte ich den Innenhof an einem Springbrunnen vorbei und betrat zum letzen Mal das Gebäude, in dem sich die Orthopädie befand. Zum ersten Mal war ich nun als Besucher identifizierbar, den ich hatte unser Gepäck dabei. Eine resolute Dame wollte mir den Zugang verwehren unter Hinweis auf die erst um 12 Uhr beginnende Besuchszeit. Tagelang hatte ich keine Probleme damit gehabt. Ich konnte sie ab zum Glück mit dem Hinweis, dass meine Frau heute zum Flughafen müsse, überzeugen. Sie ließ schließlich von mir ab.
So wäre ich fast nicht ins Krankenhaus hinein gekommen an unserem letzten Tag. Man hatte uns eine falsche Abholzeit genannt seitens des ADAC und das erhöhte noch einmal die Spannung. Im Krankenhaus wusste man es von Anfang an besser.
Ich konnte also noch einmal meinen Spaziergang zu einem kleinen Einkaufscenter gegenüber dem Theater von Tallinn machen. Dort gab es zum Glück auch noch anderes als estnische Küche. Gegen die hatte ich nichts, im Gegenteil, wir hätten in einem Selbstbedienungslokal bei Vitna anlässlich unseres Ausflugs sehr gut und preiswert gegessen. Aber die estnischen Bezeichnungen wusste ich nie zu deuten, sodass ich mich stets der italienischen Küche zu wendete.
Dieses Mal nahm ich etwas mit ins Krankenhaus. Die Bezahlung auch kleinerer Geldbeträge mit der Kreditkarte war stets kein Problem.
Mein Weg führte zurück vorbei an einer dieser angeblich ganztags geöffneten Bars mit Billard und anderen Angeboten, dis sich meist in Kellern befinden und natürlich den unvermeidlichen Alkoholshops. Tallinn ist in jedem Viertel voll davon.
Um kurz nach 15.30 Uhr schließlich stürmten drei Sanitäterinnen und ein kahl geschorener Fahrer die Station. Und hier lebten wir erstmals schlechte Laune. Sie wussten wohl genau, wie lange sie zum Flughafen brauchen würden und für sie war es zu früh. Die Ältere der beiden Sanitäterinnen fragte nochmal die Personalien ab und machte stets zustimmende Geräusche, auch wenn man nichts gesagt hatte. Eine Jüngere nahm keine Notiz von uns und der Fahrer nötigte meine Frau,  ihr verletztes Bein zu belasten, was meiner Frau Schmerzen bereitete.
Wenig später ging unser Tallinn-Abenteuer auf dem Rollfeld des Flughafens zu Ende, wo uns der deutsche Sanitäter begrüßte.


Ich habe die estnische Landschaft beim Überflug nicht mehr wie beim Hinflug beachtet. Idyllische Plätze wie Käsmu im Lahemaa-Nationalpark und der Weg durch den Urwald und das Moor sowie das deutsch-baltische Gutshaus in Palmse werden ihren Platz in meiner Erinnerung behalten.

(Weitere Bilder auf google+ oder www.flickr.com/photos/wolfgang_dreyer )