Unser Kurzurlaub in Tallinn endete anders als gedacht. Nach vier Tagen und bei schönem Wetter stürzte meine Frau und brach sich die Hüfte.
Nun lernte ich das Land anders als gedacht kennen. Zwar war unsere Reiseleiterin schon beim Stadtrundgang am ersten Tag darauf bedacht, uns das schwere Schicksal der Esten beizubringen, aber die Realität ist unmittelbarer.
Die Esten sind ein sehr zurückhaltendes, freundliches Volk. Sie sind aber auch unglaublich stur. Sie ertragen alles mir unglaublicher Ruhe quasi als gottgegeben. Beschwerden finden sie mehr oder wenig lächerlich.
Alles in allem ist mir das alles sehr sympathisch, da es meinem eigenen Charakter sehr nahe kommt. Sicher hätte unsere Reiseleiterin einen Zusammenhang zwischen dem, was uns passierte und meiner Beziehung dem Land gegenüber, gesehen. Sie sah auch den Sturz meiner Frau als einen Wink des Schicksals an. Etwas im Leben muss sich ändern.
Dieses flache Land mit den großen Kiefernwäldern und den idyllischen Stränden an der Ostsee hatte es mir so angetan wie die Altstadt von Tallinn, in der man meinte, die Hektik des modernen Alltags hinter dicken Mauern vergessen zu können. Die Oberstadt war einst Sitz vieler Deutschbalten, die zudem noch Güter und Sommerresidenzen auf dem Land besaßen.
Auf den Einfluss der Deutsch-Balten kam unsere Reiseleiterin immer wieder zu sprechen.
Den kann man vor allem in der estnischen Küche gut erkennen. Im modernen Tallinn dagegen ist der russische und sowjetische Einfluss kaum zu übersehen. Eines der ersten Projekte nach dem so bedeutsamen Beitritt Estlands zur EU war denn auch der Bau der Autobahn von Tallinn nach St. Petersburg.
Die deutsche Sprache ist nach Estnisch, Russisch und Englisch allenfalls viertrangig. Dies wurde von einem Nachkommen eines Deutsch-Balten in unserer Reisegruppe denn auch bemängelt. Man habe das Land doch aufgebaut. Vergessen hat er dabei wohl die den Esten zugedachte, untergeordnete, Rolle.
Während die Esten mehrfach von Russen und Deutschen beherrscht wurden, verloren die Deutsch-Balten auch unter russischer Herrschaft nie ihren gesellschaftlichen Einfluss. Schluss machte damit erst der Hitler-Stalinpakt von 1939, der die Deutsch-Balten heim ins bald nicht mehr existierende Reich führen sollte.
Tallinn ist der Spiegel der estnischen Geschichte. Kathedralenartige Häuser mit Sowjetstern auf dem Dach finden sich ebenso wie kleine orthodoxe Holzkirchen, alte aus Kalksandstein gebaute Häuser haben einen modernen Aufsatz aus Glas und Stahl erhalten. Das moderne Tallinn leistet sich durchaus eine nennenswerte Skyline.
Den Blick auf diese Skyline hatte ich nun. Vier Tage lang konnte ich die Fassaden in unterschiedlichen Farben bewundern, je nachdem ob es Morgen oder Abend war. Denn dazwischen war ich im Ida-Tallina-Krankenhaus und sah die Fortschritte, die meine Frau bei ihrer Genesung machte, ohne das sie diese selbst wahr nahm.
Unsere Reiseleiterin hatte darauf hingewiesen, wie wenig die Esten durchschnittlich verdienen und das Pflegepersonal in Krankenhäusern zählt nicht zu den Beschäftigten, die an der Spitze der Gehaltsliste stehen.
Dennoch wir wurden nie unfreundlich angesprochen, so wie es in deutschen Krankenhäusern schon mal passiert. Höchstens wurde mal wortlos eine Handreichung gemacht. Aber bei dem vielen Personal war das die Ausnahme. Allein in der Intensivabteilung, wo die Patienten vor der OP liegen, gab es 3-4 dauerhaft anwesende Schwestern. Drückt ein Patient den Schwesternknopf, geht ein Alarm los, der kaum zu überhören ist. Und so kommt wirklich relativ schnell eine Schwester.
Die OP meiner Frau war ungeplant, was zur Folge hatte, dass sie erst gegen Abend dran kam. Der Chefarzt, ein jüngerer sympathischer und vor allem englisch sprechender Mann, hatte uns am Morgen den Operateur, einen russischen Arzt, vorgestellt.
Nach anderthalb Stunden mit örtlicher Betäubung der Beine bis zur Hüfte war die OP vorbei und wie uns später auch in Deutschland bestätigt werden sollte, perfekt gemacht.
Wir hatten schon gehört, dass selbst die Finnen gern für Operationen nach Estland fahren. Dabei warten die Esten selbst manchmal zwei Jahre auf ihre OP.
Meine Wege zum Krankenhaus hin und zurück konnte ich, abgesehen vom Rauschen des Verkehrs auf den breiten Straßen, genießen. Erfreulich wenige Radfahrer nutzen die vorhandenen breiten Radwege und niemand hetzt und läuft einem entweder vor den Füßen herum oder steht einem auf den Hacken. Man geht normalen Schrittes, man belästigt sich nicht.
An verschiedenen Parks, die sich immer wieder als große und wohltuende Verkehrsinseln auftun, stehen Schilder, die auf die Gefahr von Taschenräubern hinweisen. Bedrohlich fand ich die Situationen nie, in denen ich mich mit Einheimischen oder anderen Touristen befand.
So war ich fast überrascht, als mir in der Hotelrezeption ein junger und größerer Mann als ich, freundlich auf die Schulter klopfte. Wir haben kein Wort miteinander geredet, weder davor noch danach. Er war mit zwei anderen jungen Russen Gast im Hotel wie ich.
Die Esten sind keineswegs überschwänglich, bei der Begrüßung ein Kuss, das ist sicher nicht üblich, vielleicht zwischen sehr sehr guten Freunden und/oder Freundinnen. Gesehen habe ich das öffentlich nicht.
Eines Abends, es war einer der Abende, wo wir schon wussten, dass wir wohl bald nach Deutschland zurück fliegen können und nach unserem immer etwas schwierigen Abschieden im Krankenhaus, steht ein großer Regenbogen am Himmel vermeintlich über einer der russischen Holzkirchen.
Ein junges Mädchen steigt vom Rad, um eine aus einer Parkhauseinfahrt kommende Autofahrerin in ihrem PKW darauf hinzuweisen. Sie halten einen Moment inne, lachen und setzen dann jeweils nacheinander ihren jeweiligen Weg fort.
Einmal verlaufe ich mich im Regen, doch mit der Hilfe vieler Passanten, komme ich problemlos zum Hotel zurück. Eine Frau entschuldigt sich für ihr schlechtes Englisch, weil sie das englische Wort für "Ampel" nicht kennt. Nach einigem Überlegen komme ich schließlich drauf uns sie nimmt es dankbar auf, begleitet mich ein Stück, bis ich meinen Abzweig gefunden habe. Den Regen vergaß ich ganz.
Nach meinem missglückten Ausflug, esse ich eigentlich jeden Abend im Hotel. Auch weil mich dort bei jedem Service, egal ob Getränk oder Essen eine blonde Kellnerin mit Zahnspange freundlich anlächelt. Ein Highlight jedes Tages, bevor ich in mein schwarzrotes Kabinett gehen muss.
Souvenirs zu kaufen, dazu kam ich einfach nicht. Der große Supermarkt, den ich täglich passierte, hatte so etwas nicht. So bleibt meiner Frau wohl nur die flexible Schraube in der Hüfte, auf die sie gern verzichtet hätte. Immerhin hatte ich noch die kleinen Süßigkeiten, die uns eine der Damen an der Registratur der Notaufnahme gegeben hatte. Fast jeden Tag der Woche nach unserer Rückkehr bis zum Tag dieses Berichts verspeiste ich das, was eigentlich als Notration im Krankenhaus vorgesehen war. Denn ebenso wenig wie es Telefon oder Fernseher in den Zimmern gibt, gibt es eine regelmäßige Verpflegungsmöglichkeit für Besucher.
Dafür gab es einen sehr individuellen Empfang auf der Privatstation, wo ich die erste Nacht mit meiner Frau zusammen verbringen konnte. Gebäck und Tee wurde von den Schwestern organisiert und gebracht. Des Nachts schlief ich nur in Etappen, angepasst an den Schlafrhythmus meiner Frau, die kaum ein Auge zu tun konnte und öfter nach mir rief. Da sich mein Schlafanzug im völlig unorganisiert gepackten Koffer befand, schlief ich in der Unterwäsche, musste ab ab und zu raus. Die Toilette war draußen auf der Etage und bei meiner Frau war öfter das Bett zu richten. Ab und zu mussten die Nachtschwestern gerufen werden. Eine leicht bärtige wird mir in Erinnerung bleiben, sie lächelte mir ab und zu aufmunternd zu.
Es ist schon erstaunlich, welche Arbeit im Krankenhaus geleistet wird. Da schämt man sich fast für die eigenen Nörgeleien.
Tage später liefen in Deutschland die Planungen für unseren Rücktransport an. Fast wehmütig war ich am Morgen ein letztes Mal meinen täglichen Gang vom Hotel zum Krankenhaus gegangen, immer an der großen Straße entlang vorbei an einem dunklen Eckhaus mit verschiedenen Läden drin und um die Ecke an einem Hamburgerladen vorbei, in dem eine russisch sprechende alte Frau mit süßem Senf beschmierte Hamburger und Kebabrollen feil bot. Davon hatten wir ja am ersten Abend gekostet, nachdem der Tag in der Notaufnahme ohne große Nahrungsaufnahme geblieben war.
Dann überquerte ich den Innenhof an einem Springbrunnen vorbei und betrat zum letzen Mal das Gebäude, in dem sich die Orthopädie befand. Zum ersten Mal war ich nun als Besucher identifizierbar, den ich hatte unser Gepäck dabei. Eine resolute Dame wollte mir den Zugang verwehren unter Hinweis auf die erst um 12 Uhr beginnende Besuchszeit. Tagelang hatte ich keine Probleme damit gehabt. Ich konnte sie ab zum Glück mit dem Hinweis, dass meine Frau heute zum Flughafen müsse, überzeugen. Sie ließ schließlich von mir ab.
So wäre ich fast nicht ins Krankenhaus hinein gekommen an unserem letzten Tag. Man hatte uns eine falsche Abholzeit genannt seitens des ADAC und das erhöhte noch einmal die Spannung. Im Krankenhaus wusste man es von Anfang an besser.
Ich konnte also noch einmal meinen Spaziergang zu einem kleinen Einkaufscenter gegenüber dem Theater von Tallinn machen. Dort gab es zum Glück auch noch anderes als estnische Küche. Gegen die hatte ich nichts, im Gegenteil, wir hätten in einem Selbstbedienungslokal bei Vitna anlässlich unseres Ausflugs sehr gut und preiswert gegessen. Aber die estnischen Bezeichnungen wusste ich nie zu deuten, sodass ich mich stets der italienischen Küche zu wendete.
Dieses Mal nahm ich etwas mit ins Krankenhaus. Die Bezahlung auch kleinerer Geldbeträge mit der Kreditkarte war stets kein Problem.
Mein Weg führte zurück vorbei an einer dieser angeblich ganztags geöffneten Bars mit Billard und anderen Angeboten, dis sich meist in Kellern befinden und natürlich den unvermeidlichen Alkoholshops. Tallinn ist in jedem Viertel voll davon.
Um kurz nach 15.30 Uhr schließlich stürmten drei Sanitäterinnen und ein kahl geschorener Fahrer die Station. Und hier lebten wir erstmals schlechte Laune. Sie wussten wohl genau, wie lange sie zum Flughafen brauchen würden und für sie war es zu früh. Die Ältere der beiden Sanitäterinnen fragte nochmal die Personalien ab und machte stets zustimmende Geräusche, auch wenn man nichts gesagt hatte. Eine Jüngere nahm keine Notiz von uns und der Fahrer nötigte meine Frau, ihr verletztes Bein zu belasten, was meiner Frau Schmerzen bereitete.
Wenig später ging unser Tallinn-Abenteuer auf dem Rollfeld des Flughafens zu Ende, wo uns der deutsche Sanitäter begrüßte.
Ich habe die estnische Landschaft beim Überflug nicht mehr wie beim Hinflug beachtet. Idyllische Plätze wie Käsmu im Lahemaa-Nationalpark und der Weg durch den Urwald und das Moor sowie das deutsch-baltische Gutshaus in Palmse werden ihren Platz in meiner Erinnerung behalten.
(Weitere Bilder auf google+ oder www.flickr.com/photos/wolfgang_dreyer )
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