Das Ende von Vielem
Das Jahr 2012 beginnt mit einem Jubiläum. 60 Jahre Börsen-Zeitung, aus diesem Anlass gab es eine Sonderausgabe mit den Fotos aller Mitarbeiter/-innen. Auch ich durfte mein Konterfei dort wieder finden.
Allerdings war es dann auch schon mit den positiven Nachrichten. Nachdem der an sich erfolgversprechende Versuch, einen neuen Verlagsleiter zu etablieren, gescheitert war, entschloss man sich, keinen Ersatz für diese Position zu suchen. Seit längerem war schon ein neuer Geschäftsführer in der Einarbeitung, der nun unser Vorgesetzter wurde. Er stammte aus dem familiären Umfeld der Firmeneigner und regierte nun nach patriarchalischer Art durch. Vorher hatte er die Abteilung Seminare geleitet. Das führte nun zu einiger Unruhe im Haus. Zugute halten musste man ihm, dass auch er unter Druck stand und zwar von dem bisherigen Geschäftsführer, der ja noch im Amt blieb und auch als Herausgeber und Verleger fungierte. Das hieß, er war Chef, aber auch er musste sich abstimmen. Was das bedeutete, konnte ich mir vorstellen. Anlässlich des 60. Geburtstags im Vorjahr wehrte sich unser Verleger quasi gegen meinen Glückwunsch anlässlich der Einladung der Mitarbeiter/-innen zu einem Umtrunk. Kollege B. stand auch in dessen Ansehen wesentlich besser da als ich. Was den neuen Geschäftsführer anging, er ignorierte mich weitgehend und auch ich suchte das Gespräch nicht, da ich mir nichts davon versprach. Schon bald bekam ich den neuen Ton zu spüren, den er pflegte. Als ein Kollege abends beim Spätdienst Probleme mit der Tabellenaktualisierung hatte, erhielt ich einen Anruf mit der Aufforderung, ich solle meinen Arsch noch am Abend in die Firma schwingen, um den Fehler zu finden und zu beseitigen. Kollege B. war in Urlaub und ich hatte Vertretung in seinem Bereich. Ich tat das natürlich nicht, sondern informierte den Betriebsratsvorsitzenden und die Personalabteilung über den Vorfall. Das brachte mir eine fade Entschuldigung ein, ersetzte mir aber nicht meine nervliche Erschütterung. Das Vertrauen in eine gute Zusammenarbeit war dahin. Stets hatte ich das Gefühl, einen Wolf im Schafspelz vor mir sitzen zu haben, wenn ich zu den Montagssitzungen erschien. Immer mit quasi zwei Chefs im Gespräch zu sitzen, war ohnehin schon eine unangenehme Sache. Zunächst prasselte auch arbeitsmäßig einiges auf mich ein. Die Sekretärin des Geschäftsführers, ohnehin fachlich nicht gut vorbereitet, war mit vielen Aufträgen überfordert und so landete manche Auswertung gerade im Bereich Investmentfonds auf meinem Schreibtisch. Dabei wusste ich in der Regel nie, warum die Auswertungen zu machen waren und welches Ziel dahinter steckte. So lieferte ich dann ab und an Ergebnisse, die unser Geschäftsführer für nicht ausreichend erachtete. Es war klar, wir mussten Kunden halten und dazu sollten auch neue gewonnen werden. Im Wesentlichen ging die Zielrichtung des Hauses aber in Richtung Einsparungen. Wenig gute Aussichten also insgesamt, zumal das Thema Zusammenlegung von Abteilungen, Automation von Datenübernahmen direkt auch Arbeitsplätze bedrohte. Ich war mittlerweile Ersatzmitglied im Betriebsrat, hatte die letzte Wahl als Mitglied im Wahlvorstand mit vorbereitet. Mit einem unserer Boten hatte ich eine kleine Liste gebildet, die sich zur Wahl stellte. Wir hatten naturgemäß wenig Aussichten bei der Wahl, zumal die Redaktion unserer Zeitung eine eigene Liste aufstellte. Ein Fakt, den unser Herausgeber mit Recht kritisierte. Ich stand nun dennoch auf der anderen Seite, wenn man so will.
Das Jahr 2012 begann auch privat mit einer Enttäuschung. Unseren Winterurlaub in Oberstdorf-Tiefenbach mussten wir wegen Grippe vorzeitig abbrechen. Die Krankmeldung eines Arztes vor Ort erreichte die Firma zunächst nicht. Die Post war an die Landesbank Hessen-Thüringen gegangen, anstatt an meine Firma. Das förderte meine Beziehungen zur Personalabteilung nicht gerade. Es gab immer mal wieder Meinungsverschiedenheiten und eine gewisse Beratungsresistenz seitens der Führung, obwohl ich mit meiner Frau eine Fachfrau und Abteilungsleiterin in der Personalabteilung an meiner Seite hatte. Während ich mich mit dem Verlust des Kontakts zu meinen Kindern abzufinden hatte, ging unser Leben aktiv weiter. Ich bearbeitete das Thema mit einem Acrylbild, das ich "Lost Faces" nannte. Bastelte weiter an meiner Modelleisenbahn und knüpfte Kontakte zur Familie meiner Mutter, den Keßlers. Zu meinem Geburtstag lud ich nach Bad Vilbel ein und es kamen sowohl mein ein paar Monate älterer Onkel mit Freundin sowie Cousin und Cousine, Kinder eines verstorbenen Onkels. Es war einer meiner besseren Geburtstage. Daraus ergab sich dann der Plan, die Geburtsstadt und Heimat der Familie Keßler in Glauchau entspannt gemeinsam mit der Bahn zu besuchen. Zu viert realisierten wir das. Die Taxifahrerin, die uns zum gebuchten Hotel bringen sollte, fragte nur "Was wollen Sie denn hier?" Wir ließen uns davon nicht beirren und liefen die uns bekannten Adressen in den Folgetagen ab. Das kleine Städtchen hat mit dem Schloss und einem Stausee auch touristisch genügend für die kurze Zeit zu bieten. Die Taufkirche meines Großvaters (Vater meines Onkels) besuchten wir natürlich auch. Diese gemeinsame Zeit machte uns bewusst, wie wenig wir eigentlich voneinander kannten. Mutter hatte nie geäußert, dass sie ihre Heimatstadt sehen wollte, dennoch das Gesehene war ein Teil der Aufarbeitung auch meiner Vergangenheit, die ich bezogen auf die Familie Dreyer schon hinter mir hatte. Ich lebte aber auch in der Gegenwart. Wann immer meine Zeit in den Mittagspausen erlaubte, streifte ich durch Frankfurt und fotografierte, wo es aus meiner Sicht etwas zu sehen gab, so zum Beispiel den Abriss des Theaters am Turm, dem Haus, in dem auch die Nitribitt einst ermordet wurde. Ich hatte natürlich auch nicht ganz die Hoffnung aufgegeben, den Kontakt zu den Kindern wieder aufleben zu lassen, aber mein Überraschungsbesuch stieß auf wenig Gegenliebe der Mutter und eines Kinder verhielt sich derart abweisend, dass mir nur der Rückzug übrig blieb. Mit den Worten der Mutter: "Mach' dir keine Gedanken, ich überlege mir was." gingen wir auseinander.
Kulturell ging es uns in Schöneck gut. Dieter Hildebrandt gab sich im Oktober die Ehre. Wohnte im Hotel Lauer und aß in der kleinen Pizzeria von Rudolfo, die ihm wohl sehr gut gefiel. Mir blieb es im Gedächtnis, wie er sich über den Gemeinplatz "nach vorn schauen" lustig machte. Er habe immer nach vorn geschaut, meinte er, aber dabei meistens nichts gesehen. Auch unser Verein Leselust veranstaltete etliche Lesungen im Bürgertreff Schöneck. Manchmal verdienten wir uns dabei etwas durch die Bewirtung hinzu. Ich glaube, viele der Künstler schätzten die persönliche Atmosphäre des Ortes und der freundlichen Bewirtung durch Marianne Lauer in ihrem Hotel.
2013 holten wir nach, was wir bei der Silberhochzeit eigentlich schon realisieren wollten. Wir machten ein Shooting bei einer mir bekannten Frankfurter Fotografin. 31 statt 25 Jahre waren schon vergangen und trotz aller Krisen lebten wir noch zusammen. Die Bilder wurden sehr schön und ein gutes Essen bei einem Italiener in Eschersheim rundete den Tag für uns ab. Der Sommer 2013 bescherte Frankfurt am Main ein Hochwasser und uns den Besuch von Finn, dem jüngeren Bruder von Niklas. Wir besuchten den Opel-Zoo in Kronberg und das Römerkastell auf der Saalburg. Wieder wurde mir der Unterschied im Verhältnis zu "meinen" Kindern bewusst.
„Das traditionelle Zeitungsgeschäft wird auch für uns immer schwieriger. Auch wir verlieren Anzeigenerlöse.“ Diese Aussage stammt vom Chefredakteur der Börsen-Zeitung und aus dem Jahr 2013. Im Vorjahr war ein Konkurrenzblatt auch im Bereich der Investmentfondspreisveröffentlichungen geschlossen worden. Die Eigentümer der Firma, vertreten im Beirat, hatten einen Einstellungsstopp angeordnet, Entlassungen gab es im Großen und Ganzen keine. Das spiegelte gut wieder, was ich persönlich in meinem Arbeitsumfeld erlebte.
Meinen Geburtstag verbrachte ich in Tallinn / Estland, was durchaus nicht meine Absicht gewesen war. Vom 5. bis zum 9.9. hatten wir zusammen mit meiner Schwägerin eine Pauschalreise nach Tallinn gebucht. Sie kam nur zustande, weil eine Gruppe von Marathonläufer/-innen genügend Plätze in der Maschine gebucht hatte, um am Tallinn Marathon teilzunehmen. Wir absolvierten ein schönes touristisches Programm in Tallinn, machten einen Ausflug in den Lahemaa-Nationalpark, nach Käsmu an der Ostsee, besuchten in Palmse ein altes Herrenhaus und landeten am Ende in Rakvere, wo wir eine alte Ordensburg sahen. Das alles hatte soweit nichts mit dem Alltag in Estland zu tun. Über die gesamten Umstände der Reise habe ich ausführlich auch in diesem Blog berichtet.
Reise nach Tallinn 5.-14.9.2013
Daher hier nur eine Kurzfassung von dem, was geschah. Am vorletzten Tag hatten wir noch einen schönen Weg entlang am Ostseestrand Richtung Kadriorg gemacht und dabei die vielen Marathonläuferinnen und -läufer bewundert. Abends aßen wir in einem italienischen Lokal im Kneipenviertel Rotermann die beste Pizza ever. Am nächsten Morgen bereiteten wir uns bereits auf die anstehende Abreise vor. Doch beim Frühstück im Tallinn Express Hotel stolperte Ruth über ein Bein meines Plastikstuhls, dass ich aufgrund ihrer Ungeduld nicht rechtzeitig an den Tisch heran ziehen konnte. Mit der leeren Kaffeetasse in der Hand stürzte sie mit ausgestrecktem Arm der Länge nach auf die linke Seite. Schnell war klar, dass etwas Ernstes passiert war, sie konnte nicht mehr stehen. Der Notarzt musste kommen und ich fuhr mit ihr ins Ida-Tallinna Keskhaigla-Krankenhaus, während meine Schwägerin unsere kompletten Sachen packte, die unsere Reiseleiterin gottlob ins Krankenhaus nachlieferte. Ruth hatte einen Oberschenkelhalsbruch erlitten und es wurde schnell klar, die Lufthansa würde uns so nicht mit nach hause nehmen. Ich nahm Verbindung mit dem ADAC auf und geriet zum Glück an einen Arzt im Bayerischen Wald, der russisch konnte und die Verhandlungen mit den Ärzten vor Ort übernahm. Die Empfehlung war ganz klar: operieren schnell und in Tallinn. Eine Nacht durfte ich mit Ruth im Krankenhaus bleiben, wo wir auf eine Privatstation freundlich versorgt wurden. Am Folgetag fand die OP statt und ich musste in das Reval Park Casino-Hotel umziehen. Das hatte uns die Reiseleiterin organisiert. Hier konnte ich tageweise verlängern, bis es endlich am 14.9. eine Rückflugmöglichkeit nach Deutschland gab. Das lag daran, dass sechs Sitzplätze gebucht werden mussten, um Platz für Ruths Liegendtransport zu schaffen und natürlich Platz für den aus Deutschland angereisten Sanitäter und mich. Absurderweise mussten wir beide eine separate Sicherheitskontrolle am Flughafen über uns ergehen lassen, eher wir zur Maschine gelangen konnten. Die Tage davor werde ich wegen der vielen Ungewissheiten und den Eindrücken in Tallinn stets in Erinnerung behalten. Ich ging morgens in Krankenhaus und blieb stets, bis auf eine Mittagspause bis zum späten Nachmittag bei Ruth. Am meinem Geburtstag hatte sie besonders schlechte Laune und so beging ich die restlichen Stunden mit meinem üblichen Abendessen, erfreute mich an der freundlichen blonden Bedienung, um dann abends recht kraft- und ratlos in meinem Hotelzimmer zu sitzen. Unsere Reiseleiterin konnte ich schlecht als Gesellschafterin missbrauchen und zum um die Häuser ziehen fehlte mir die Lust und auch die Kraft. Zuhause hatte es wohl den üblichen Anruf meiner Kinder gegeben, von dem ich aber erst mit großer Verspätung und nach meiner Rückkehr Kenntnis nehmen konnte. Die Esten sind ruhige, freundliche Menschen und das fand ich sehr angenehm. Als wir im Frankfurter Markuskrankenhaus ankamen, wurden die Unterschiede schnell deutlich. Während sich in Tallinn viele Schwestern um Ruth kümmerten und sie sogar eine deutschsprachige Betreuung bekam, die ihre ersten Gehübungen begleitete, kam in Frankfurt vor allem abends ein Pfleger auf mehrere Stationen, ganz abgesehen von der sehr pampigen Notaufnahme. Ruth hatte allerdings Glück im Unglück, sie bekam ein Einzelzimmer, da die Mehrbettzimmer alle ausgelastet waren. Sie blieb nur wenige Tage und sollte dann direkt nach hause entlassen werden. Dagegen musste man natürlich protestieren, denn auch wenn die OP in Tallinn erstklassig ausgeführt worden war, versorgen konnte Ruth sich keinesfalls allein. Schließlich fanden wir einen verständigen Arzt, der sich durchsetzen konnte. Ruth kam in die Reha in die Wicker-Klinik Bad Homburg. Darüber war ich sehr froh, denn weitere Anfahrten hätte ich im Pendelverkehr kaum geschafft. Jedes Mal überlegte ich schon, ob ich die A661 benutze oder ab Bad Vilbel lieber die Landstraße fahre, was mir deutlich leichter fiel.
Die Reaktionen auf den Unfall meiner Frau fielen sehr unterschiedlich aus. Während die Personalabteilung unserer Firma mit Verständnis reagierte, als ich um ein Paar Tage Urlaubsverlängerung in Tallinn gebeten hatte, fehlte Ruths Chef jegliche Empathie. Sie erhielt weder im Krankenhaus noch in der Reha irgendeinen Besuch, geschweige denn ein Zeichen der Anteilnahme. Herr Linne, Geschäftsführer der Frankfurter Filiale der in Hamburg ansässigen Steuerberatungsgesellschaft, erwartete ihr baldiges Erscheinen am Arbeitsplatz. Man stelle sich das bei einer derartig schweren Verletzung vor. Ich besuchte Ruth jeden zweiten Tag auch nach der Arbeit, am Wochenende hatten wir dann mehr Zeit und ich fuhr Ruth im Rollstuhl durch den Kurpark. Wir entdeckten bald ein Lokal an den Tennisplätzen, wo wir auch nach dem Ende ihrer Reha noch öfter Essen gingen. Nach meiner Rückkehr aus Tallinn kam ich dann endlich auch dazu, meine Kinder zurückzurufen, hatte aber nur die Mutter am Apparat. Die brauste ziemlich auf wegen meiner späten Reaktion. Es interessierte auch nicht, als ich ihr die Ursachen für die Verspätung zu erklären versuchte. Das interessierte sie schlichtweg nicht.
Ruth hatte relativ früh beschlossen, dass sie ihr berufliches Dasein beenden wollte. Die gleiche Ärztin, die auch mir schon mit einem Attest geholfen hatte, half auch ihr über die Zeit mit Krankschreibungen hinweg. Das war durchaus vertretbar, denn es waren immer noch Kontrolluntersuchungen notwendig und sie keineswegs wieder vollkommen genesen. Dennoch erklärte sie sich schweren Herzens zu einem Gespräch mit ihrem Chef bereit. Der eröffnete ihr gleich, dass sie ihren Abteilungsleiterposten verlieren würde und er auch die bisher gezahlte Prämie nicht mehr zahlt. Er wollte ohnehin überhaupt keine Abteilungsleiter/-innen mehr unter sich dulden. Das Ganze war also eine geplante Degradierung, die eigentlich einer Änderungskündigung erfordert hätte. Das wir das nicht hinnehmen würden, war klar und so gingen wir zum Anwalt. Nach dem Auslauf der Krankschreibungen, bat Ruth darum, den ihr zustehenden Resturlaub nehmen zu dürfen. Auch das missfiel Herrn Linne, der sich mittlerweile eine Untergebene von Ruth als Vertrauensperson ausgesucht hatte und sie fühlte sich deshalb wohl ermuntert, schlecht über Ruths Arbeit zu reden. Vor dem Ende ihres Urlaubs hatte ihr Chef Ruth zu einem weiteren Gespräch gebeten. Auf Ruths Wunsch hin hatte ich den Hamburger Geschäftsführer der Firma kontaktiert. Es kam zu einem Gespräch am Frankfurter Flughafen, bei dem ich meine Entrüstung über das Vorgehen des Frankfurter Geschäftsführers zum Ausdruck brachte. Was mich besonders ärgerte, war dass es sich bei Herrn Linne um einen nordhessischen Landsmann handelte. Ich hatte ihn schnell als den Typ eingeordnet, der aus der Provinz kommend, im Frankfurter Haifischbecken skrupellos den Weg nach oben suchte. Der integrierte sich ja nicht einmal in die Regeln der Hamburger Hauptniederlassung. Er ließ seine Mitarbeiter/-innen nur ungern nach Hamburg zu Seminarbesuchen reisen. Dennoch vertrat ihn sein Chef mir gegenüber und behauptete, er habe von Entscheidungen meiner Frau gehört, die sinngemäß unverständlich gewesen seien. Ganz offensichtlich glaubte er diesen Behauptungen, musste ihnen ja glauben schenken, obwohl er meinen Unmut spürte. Er fragte, warum sie meiner Frau überhaupt etwas anbieten sollten, schließlich könne sie ja arbeiten kommen. Das verneinte ich natürlich entschieden. Ich hatte nach dem durchaus freundlichen Gespräch, das Gefühl, es werde sich eine Einigung finden lassen. Allerdings ließ man uns zappeln und ich musste im April noch einmal schriftlich nachhaken. Geheime Korrespondenz über verschlüsselte Mails und SMS-Nachrichten, das war alles sehr spannend. Ruth ließ sich nach dem Urlaub weiterhin krank schreiben und schließlich erfolgte dann doch eine Einigung. Eine Änderungskündigung wollte man ihr nicht ausstellen, stattdessen erfolgte die Freistellung bis zum Ende des Jahres 2014 bei weiterer Gehaltszahlung. Ein gutes Zeugnis war versprochen, wurde aber aus unserer Sicht nicht geliefert. Da Ruth ohnehin in Rente gehen wollte, nun früher als beabsichtigt, verzichteten wir auf weitere Auseinandersetzungen und unser Anwalt musste nicht weiter tätig werden.
Wie so oft in unserer Ehe, waren unseren Gemeinsamkeiten doch sehr stark. Sowohl Ruth als auch ich, wir beide haben immer unser Bestes im Job gegeben und waren bei den externen Kunden gut angesehen, an unseren Arbeitsplätzen jedoch gab es oft Schwierigkeiten. Und auch das Ende unserer Berufstätigkeiten wies Ähnlichkeiten auf.
Noch 2013 hatte in über meine Ärztin ein Attest bekommen, in dem meine Freistellung vom Spätdienst empfohlen wurde. Meine Ärztin kannte meine gesundheitliche Verfassung inklusive des Tinnitus ganz gut und unterstützte mich. In der Firma führte dazu, dass ich nur noch einmal in der Woche Spätdienst zu leisten hatte, was in der Abteilung naturgemäß nicht begeistert aufgenommen wurde.
Anfang 2014 wurde Ruth 60 und wir feierten das, trotz der Umstände, in einem Vogelsberger Hotel. Ruth hatte die Lemgoer auf ihre Kosten eingeladen, was die Übernachtung als auch alles andere betraf. Bei einem gemütlichen Abendessen wurde das Jubiläum begangen, was nun auch mir deutlich vor Augen zu stehen begann. Ich musste allerdings die Teilnahme an der Hochzeit meines Onkel Michael und seiner Freundin absagen, da Ruth noch nicht wieder gehfähig war. Im Mai schließlich feierte mein Patenkind Niklas seine Konfirmation und wir waren natürlich dabei. Ansonsten zog es uns ans Meer. Wir leisteten uns einen Flug nach Usedom, wo wir die Weltmeisterschaft 2014 verfolgten. Im Oktober testeten wir ein Erdgasauto auf Sylt. Noch in den Sommerferien besuchte uns Niklas. Vom Keltenmuseum am Glauberg war er nicht so begeistert wie wir. Sein Interesse galt eher der Markenkleidung und da gab es einige Geschäfte in Frankfurt, die für ihn von Interesse waren. Er reiste selbstständig mit dem Zug an und wurde von uns abgeholt und gebracht. Schon im September sahen wir uns in Lemgo wieder. Wir nahmen dort gemeinsam am Hanselauf teil. Niklas hatte ich ja vor Jahren in Bad Vilbel an der Nidda ans Laufen gebracht. Bei seinen ersten Versuchen lief er zwar schneller als ich, musste dann aber immer zwischendrin gehen. Die Strecke von Gronau nach Dortelweil und zurück war da schon eine Herausforderung gewesen für ihn. Mittlerweile hatte er mich längst hinter sich gelassen. So lief er mit mir zusammen los, aber schon bald war ich für mich allein. Der Hanselauf hatte immerhin eine Länge von 6,6 km und verlief ringförmig am Wall um die ganze Stadt herum. Zusätzlich gab es noch eine längere Strecke von 10 km. Die lief ich allerdings schon länger nicht mehr. Niklas war zu der Zeit läuferisch sehr interessiert und so kam er schon im Oktober wieder, um mit mir zusammen am Offenbacher Mainuferlauf teilzunehmen, da wählten wir die 5km. Am nebeligen Morgen des 13. Oktober ließ mich Niklas ganze 6 Minuten hinter sich, ich war es bereits gewohnt, mit ihm nur den Start zusammen zu erleben. Dennoch war ich ein bisschen stolz drauf, ihn als Läufer zu sehen.
In Schöneck liefen die Geschehnisse wieder mal zweigeteilt. In unserem Haus für uns schlechte Stimmung, seit unter uns nun Mieter wohnten, mit Migrationshintergrund, wie es so schön heißt. Die Wohnung war von einer älteren Dame (für das Alter) gekauft worden. Kamen wir schon mit der vorgehenden Eigentümern schlecht aus, so wurde es nun noch schlechter. Unser Verein Leselust hingegen lieferte weiterhin Veranstaltungen ab, die meist im Bürgertreff von Kilianstädten stattfanden. So gastierte im Oktober Dietrich Faber bei uns, ein Autor aus dem Vogelsberg, der auch mal in die Rolle eines Countrymusikers schlüpfen konnte. Es war sehr unterhaltsam, aber für den Geschmack der Damen unseres Vereins eher unter ihrem Niveau. Der Hanauer Anzeiger aber schrieb: "Dietrich Faber gibt in Schöneck den Kommissar Bröhmann. Es war mehr als nur eine Lesung, die Dietrich Faber im Kilianstädter Bürgertreff präsentierte. Der Krimi-Autor, Musiker und Kabarettist verkörperte seine Romanfiguren regelrecht. Unter anderem ließ er Kommissar Henning Bröhmann höchstpersönlich aus seinem Leben erzählen. Das kam beim Publikum bestens an." Das machte schon Spaß, wenn es den Leuten gefiel und auch die Presse zufrieden war. Ich hatte mir schon lange einen Presseverteiler aufgebaut, den ich regelmäßig mit unseren Veranstaltungen bestückte.
Das Jahr endete urlaubsmäßig in einer traurig machenden (weil herunter gekommenen) Ferienwohnung in Berlin-Moabit. Ich denke, es war ein Beispiel dafür, wie man aus Altbauwohnungen im Viertel noch Geld heraus holen kann, ohne selbst viel zu investieren. Die Rückfahrt nach Frankfurt mit der Deutschen Bahn fand dann angepasst in einem der älteren Waggons statt und der Zug hatte auch kein Bordbistro. Die Schaffnerin erklärte, da hätten sie wohl noch ein paar alte Wagen aus Reichsbahnzeiten angehängt. Wenn man das touristische Berlin ein paar Mal abgearbeitet hat, muss man nicht mehr hin. Das dachten wir so.
Das Jahr 2015 hatte es in jeder Beziehung in sich. Für die Familie Keßler lagen Freud und Leid beisammen. Mit meiner Cousine Stefanie hatte ich seit der Beerdigung ihres Vaters (meines Onkels Ulli) noch immer Kontakt. Sie hatte im Internet einen Amerikaner asiatischer Abstammung kennengelernt und (wo die Liebe hinfällt) wartete zum Jahresende auf ihre Aufenthaltsgenehmigung zur Einreise in die USA. Die beiden wollten heiraten und wir waren als Hochzeitsgäste eingeplant. Nachdem wir zunächst dachten, wir müssten nur den Flug buchen, für die Unterkunft wäre gesorgt, stellte es sich bald gegenteilig heraus. Meine Cousine beherbergte in erster Linie die Verwandtschaft ihres Mannes sowie ihren Bruder Andreas. Das würde die Kosten für uns erheblich in die Höhe treiben. Zudem hätten wir touristisch gesehen gar nichts davon gehabt. Gerade dieser Aspekt wäre aber für uns ein Anreiz gewesen, denn so gut kannten wir Stefanie ja nicht. Infolgedessen sagten wir unsere Teilnahme ab. Meine Tante Ute in Trier erkrankte in diesem Jahr an Krebs, der sich bald als unheilbar erwies (trotz der Teilnahme an einer Studie). Öfter telefonierte ich mit Michael während dieser Zeit, Überlegungen wurden ausgetauscht. Letztendlich war die Mühe vergebens, sie starb und wurde im Juli beerdigt. Zu dieser Zeit war ich krank geschrieben und mehr als ein Gesteck hinzuschicken und unsere Anteilnahme zu bekunden, blieb mir nicht übrig. Es schien nicht so einfach, die jahrelanger Trennung von der mütterlichen Familie zu überwinden. Selbst auf der Beerdigung meines Onkels Ulli war niemand von der Verwandtschaft auf die Idee gekommen, Ruth und mich mit ins Bild zu nehmen, als das Verwandtschaftsfoto gemacht wurde. Wir waren genauso Außenseiter in der Familie wie meine Mutter es gewesen war, seit sie ihre Familie verlassen hatte. Es wunderte mich nicht, dass wir noch nicht einmal die obligatorische Danksagung seitens der Familie Cartus erhielten (der Name von Utes Mann). Ute hatte ich nur ein einziges Mal besucht, als ich aus beruflichem Anlass an einer Veranstaltung in Trier teilnahm. Als ich mich von ihr verabschiedete, gab sie mir einen Kuss auf den Mund. Ich muss zugeben, dass irritierte mich, hatte doch ihr eigener Mann noch während unseres Aufenthalts moniert, wie herzlos der Umgang in der Familie Keßler gewesen sei. Doch wie auch immer, es war ein bleibender Eindruck, den ich mit nahm.
Im Mai noch reisten wir nach Island. Die Reise war bei einem speziellen Reiseveranstalter gebucht worden und so waren wir bei unserer Ankunft in Reykjavik von der Situation am Hotel doch sehr enttäuscht. Die dennoch sehr nette Geschäftsführerin des Veranstalters schrieb uns zu unseren folgenden Beschwerden: "Es ist ein Dilemma mit Reykjavik, dass inzwischen nur noch Luxushotel entstehen, wo das Doppelzimmer über 300,- Euro die Nacht kostet. Die Auswahl an bezahlbaren Hotels ist nicht groß. Als ich die angebotenen Hotels angesehen habe, störte mich am meisten, dass die Zimmer oft alt und verbraucht waren, oft Raucherzimmer, schlecht gelüftet und unattraktiv. Da fand ich das Hotel Klettur am besten, moderne Einrichtung und nicht so verbraucht." Ein kleines Schlaglicht abseits des touristischen Alltags auch in Island. Die Zimmer, auf deren Bezug wir nach der Ankunft warten mussten, weil sich eine ganze Reisegruppe vordrängte, waren mit die schlechtesten im ganzen Hotel. Immerhin konnten wir sie wechseln, was die Sache etwas entschärfte. Ich schrieb: "Der Zimmerwechsel hat geklappt. Es muss jedoch gesagt werden: das Hotel Klettur ist ein einfaches Hotel mit einem sehr holprigen Service. Die Bar ist indiskutabel. Lediglich eine Mitarbeiterin spricht etwas deutsch und ist hilfsbereit. Darüber hinaus finden rings um das Hotel umfangreiche Bauarbeiten statt." Ja, über das Hotel könnte noch mehr gesagt werden, aber das würde dem Eindruck, den diese Reise hinterlassen hat, Unrecht tun. Die Isländer sind sehr ruhige, etwas sture Leute und im Umgang mit Touristen nicht so wirklich erfolgsorientiert. So hatten wir auch eine Schweizer Reiseleiterin, die uns zunächst auf den Ausflügen begleitete und die uns sehr informativ unterhielt. Sie hatte ihr Glück in Island gefunden. Leider war dann ein sehr bemühter, aber leider mit etwas undeutlichem Deutsch arbeitender isländischer Reiseleiter ein weniger guter Ersatz. Auch die Busse waren qualitativ sehr unterschiedlich. Aber die einsamen Landschaften, Fjorde, Wasserfälle und Vulkane entschädigten für vieles. Auch in Reykjavik hatten wir genügend Zeit uns umzusehen und absolvierten längere Spaziergänge, aßen bei einem Italiener, wo einer der Kellner schon mal in Frankfurt tätig war und genossen das Stadtleben der einzig wirklichen Stadt auf Island. Als Fotofreund kam ich auf meine Kosten. Obwohl es mir gesundheitlich nicht besonders gut ging, ließ ich mich doch immer wieder motivieren, den Auslöser zu betätigen. Die schwarzen Basaltnadeln von Reynisdrangar sind ein ebenso bekanntes Motiv am schwarzen Lavastrand der Südküste Island, wie der Gullfoss-Wasserfall oder die Geysire. Auch kann man von der eurasischen Kontinentalplatte auf die amerikanische überwechseln, ohne das Land zu verlassen und so kann ich sagen, auch ich war geographisch einmal auf Amerika. Viele meiner Sehnsüchte sprach die Reise an. Sah ich die vielen amerikanischen Touristinnen, dachte ich immer daran, wie gern ich mal nach Toronto geflogen wäre. Ein Zwischenstopp auf so einer Reise von Europa in die USA oder Kanada wird auch gern auf Island gemacht. Ich vergaß die Anstrengungen der Reise und blickte mit Wehmut auf die karge und im Innern unbewohnte Insel aus dem Flugzeug zurück. Immerhin sie endete diese Mal ohne größere Katastrophen.
Gerne machte ich Videos von den vielen Wasserfällen in Island. Das rauschende Wasser schien mir das ewige Leben und vor allem eine unendliche Ruhe zu versprechen. Ruhe fand ich in meinem Einzelzimmer-Büro nun genug. Nur konnte ich sie immer weniger aushalten. Ab und zu hatte auch ich noch einen Termin im Haus, nämlich zu Betriebsratssitzungen. Auch bei der turnusgemäß anstehenden Neuwahl des Betriebsrates im Vorjahr war ich wieder nur Ersatzmitglied geworden, obwohl ich Vorsitzender des vorbereitenden Wahlausschusses gewesen war. Ich durfte dann, so wie vorgeschrieben an der ersten Sitzung des Betriebsrates zu Beginn teilnehmen und mich dann verabschieden. Das alles lag dran, dass ich dieses Mal mit einem unserer Boten auf einer eigenen Liste kandidiert hatte. Unser Betriebsratsvorsitzenden hatte uns trotz gegenteiliger Versprechungen per Ordre de Mufti in der großen Liste "WM" so schlecht positioniert, dass unsere Chancen, gewählt zu werden, gering waren. Dennoch reichte es für mich nicht. In unserer kleinen Liste top positioniert, musste ich einer Frau den Vortritt lassen, die weniger Stimmen als ich erzielt hatte. Wäre ich eine Frau gewesen, hätte ich es ins Gremium geschafft. Betriebsräte müssen eben per Gesetz paritätisch besetzt werden. Als die Stimmen ausgezählt wurden, herrschte gespannte Aufmerksamkeit sowohl bei meinem Kollegen B. als auch unserem Geschäftsführer. Ich war ebenso bedient vom Ergebnis wie unser Betriebsratsvorsitzender von der schlechten Wahlbeteiligung. Er kandidierte daraufhin nicht mehr als Vorsitzender. So war ich letztlich auf meine Investmentfondsverwaltung zurück geworfen, die Zahl der zu betreuenden Kunden ging allerdings mehr und mehr zurück. Ein schwacher Trost für mich war, dass es ein konkurrierender Kollege aus meiner Abteilung es auch nicht mehr geschafft hatte. Tragischerweise schied er wenig später, gesundheitlich schwer angeschlagen, aus unserer Arbeit aus. Eine Stunde am Tag beschäftigte ich mich ab und an mit der Eingabe der Daten für unseren Tabellenteil, das war sein Metier gewesen. Längst hätten wir die Datenübernahme automatisieren können, Kollege B. spielte aber auf Zeit. Das Gespenst der Zusammenlegung unserer Abteilung mit der Anzeigenabteilung schwebte über unseren Köpfen und da mussten wir zusammen halten. Ich schlug mich weiter mit einem ungeeigneten Programm herum, aus dem sowohl der Kursteil als auch die Investmentfondstabelle produziert werden mussten. Konnte ich früher meine Eingaben in einer Hostdatenbank machen und hier auch größere Mutationen selbst durchführen, musste ich nun an das betreuende Team wenden, um Massenlöschungen oder auch -änderungen durchführen zu können. Bei Terminsachen kam ich da manchmal den Kunden gegenüber in Kalamitäten, wenn gerade niemand meinen Auftrag ausführen konnte. Die Abhängigkeit von unserer IT war groß geworden, sie entschied letztlich, was im Hause ging und was nicht. Keine Spur von Dienstleistungsgedanke, zudem hatte sich die Kostenstellenrechnerei im Hause breit gemacht. Meine Funktion als Datenbeschaffer für die Zeitung war ebenfalls obsolet geworden. Denn mittlerweile holte sich die IT, was sie brauchte, direkt von den Fachabteilungen. Was mich noch in der Firma hielt, war eine gewissen Freiheit. Ich genoss es, in den Pausen heraus zu gehen oder mir ab und zu bei einer mir lange bekannten Masseurin Entspannung zu genehmigen. Auch der Kontakt zu meinem spanischen Kollegen riss nicht ab. Dennoch brauchte ich immer öfter die Unterstützung meiner Ärztin.
Im Juli hatte ich Urlaub und wir fuhren nach Lemgo, wobei ich aber schon kein Stück Autobahn mehr fahren konnte und selbst die Ostwestfalenstraße war schon fast zu viel. Die gebuchte Ferienwohnung hatte lediglich den Vorteil, einen schönen Gartenanteil zu haben, von dem aus fotografierte ich dann den Himmel. Überhaupt wandte ich mich den kleinen Dingen zu, etliche Schmetterlingsfotos auf Lavendel entstanden, die sich immer wieder als schöne Hintergrundbilder eigneten. Trotz aller Probleme hörte ich nicht auf kreativ zu sein. Aber die Angst bestimmte nun oft mein Leben. So bekam ich von meiner Schönecker Ärztin ein Psychopharmaka verschrieben, aber sie merkte auch gleich an, ich solle nicht zu viel erwarten. Erfreulicherweise blieb mein Kontakt mit meinem letzten verbliebenen "Onkel" Michael und seiner Frau erhalten. Wir erinnerten uns gern an die gemeinsame Fahrt nach Glauchau und als neues Ziel war Erfurt ausgemacht. Ich schrieb am 19.5.2015 anlässlich seines 60. Geburtstags:
"Ich bin beruflich etwas angespannt, meine Vollzeit-Tätigkeit mit Wechseldienst nervt schon. Ruth ist seit Januar Rentnerin. Sie fährt Ruth mit ihrer Schwester für eine Woche im Urlaub, der mir leider zur Zeit nicht vergönnt ist, da ein Kollege recht überraschend eine Kur angetreten hat."
Die Buchung eines Hotels vor Ort übernahm Michaels Freundin, während ich mich als Bahncard-Besitzer um die Fahrkarten kümmerte. So ging es Ende August für ein verlängertes Wochenende los, wobei mir bis zum Morgen noch nicht klar war, ob ich das Ganze überstehen würde. Meine Hoffnung für die Zukunft bestand nun in der Einweisung in eine psychosomatische Klinik, um der Situation am Arbeitsplatz zeitweilig zu entgehen. Andererseits konnte ich mir mein Rentnerdasein noch gar nicht vorstellen. Das Zurückgeworfen Sein auf meine enge Zweier-Beziehung erschien mir nicht aushaltbar und wie eine Bedrohung. Die Auswahl an in Frage kommenden Kliniken war nicht groß, ich entschied mich aber für die Uniklinik Frankfurt. Dort hatte ich vorab ein Gespräch mit dem Verantwortlichen für die teilstationäre Abteilung der psychosomatischen Klinik. Nun hieß es, die Wartezeit zu überbrücken. Ich hoffte auch, dass wenn mein 60. Geburtstag endlich vorbei wäre, eine gewisse seelische Beruhigung eintreten würde. Schweißnass stand ich am Morgen unseres Reisetags nach Erfurt auf und wir machten unseren Weg zum Bahnhof. Ich redete mir im Zug die ganze Nervosität von der Seele, unterstützt von der Versorgung mit Piccolos, die Michaels Frau im Vorfeld besorgt hatte.
Das Hotel Viktors strahlte nicht wirklich eine große Gemütlichkeit aus. Eine riesige Halle beherbergte sowohl den Empfang als auch die Gastronomie und den Speisesaal. Zur Erfurter Altstadt ging man am Bahnhof vorbei ein Stück des Wegs. Am Abend erwartete uns eine Kabarettvorstellung in der Arche. Das war alles sehr schön, vorher waren wir ja noch essen. Und irgendwie beruhigte mich das alles. Die beschauliche Gemütlichkeit der Landeshauptstadt beruhigte mich ein wenig und ich half hier noch abends an der Hotelbar mit ein paar Bieren kräftig nach. Es war offensichtlich, dass es Michael nicht besonders begeisterte, dass der Alkohol hier so schön konsumiert werden konnte. Seine Frau wollte er nicht zu viel Gelegenheit zum öffentlichen Konsum geben, so zogen sich die beiden schnell auf das Zimmer zurück. Immerhin gab es noch etwas zu sehen. Claudia Pechstein, die Eisschnellläuferin schien im Viktors ihr Quartier zu haben, denn sie passierte die Hotelhalle mehrfach. Der nächste Tag war für eine Stadtführung vorgesehen. Die geriet so ausführlich, dass wir fast schon den Glauben verloren, sie wäre jemals zu Ende. Das Erfurt stinkt bzw. stank, das blieb hängen. Man hatte bei der Herstellung eines Farbstoffs aus der Waidpflanze Urin zur Gärung verwendet. Das brachte der Stadt viel Geld, da blaues Tuch im Mittelalter sehr begehrt war, dazu wurde eben die blaue Farbe benötigt. Den Gestank nahm man da in Kauf. Nach Trennung in der Stadt verbrachten wir den Abend wieder gemeinsam bei einem Italiener und nahmen später noch einen Cocktail in einer der Bars im Kneipenviertel der Stadt. Zwei Mädels saßen mir dabei schräg gegenüber, die eine mit einem so kurzen Rock, dass es meine Blicke fast magisch anzog. Michael müsste es gemerkt haben, während wir unsere familiären Vergangenheiten redeten. Ich musste daran denken, dass ich in einem Forum eine junge Frau aus Erfurt kennengelernt hatte, die sich mir allerdings nicht bildlich offenbaren wollte. Unser Kontakt blieb auf Emails beschränkt. Telefonieren wollte sie auch nicht mit mir, weil sie sich angeblich für ihren Dialekt schämte. Aus dem Geschriebenen vermutete ich, dass sie in einem Museum im Empfang gearbeitet hatte. Von Publikumsverkehr und Stress war immer die Rede. Ich erinnerte mich aber auch an unsere frühere Reise nach Thüringen, wo wir in Weimar und Eisenach übernachtet hatten. Erfurt hatten wir nur eine Stippvisite gegönnt. Der Erfurter Dialekt erinnerte mich jedenfalls an Sachsen. Noch in der Bar beschäftigte mich der Vollmond und mir gelangen aus der Lameng die besten Schnappschüsse des Mondes ever. Der Abend wurde dann auch nicht mehr lange fortgesetzt. Der Spaziergang zum Hotel durch die nächtliche Altstadt war quasi der Abschluss. Am nächsten Morgen stand ich, ängstlich wie die ganze Zeit schon, unter der Dusche und mir fiel tatsächlich fast der Brausekopf auf den Kopf. Man musste nicht allzu traurig sein, diesen gastlichen Ort zu verlassen. Nach einer kurzen Runde zum Stadion ging es zum Bahnhof nach hause. Ich war erleichtert, alles überstanden zu haben. Je näher wir in Richtung Heimat kamen, desto mehr wurden zukünftige Pläne besprochen. Michaels Frau bekundete ihr Interesse an einem mittelalterlichen Markt in Büdingen, den sie gern besuchen wollte. Der fand zufällig am dem Wochenende statt, an dem mein 60. Geburtstag anstand. Da lag es für mich nahe, die beiden einzuladen. Endlich würden die Lemgoer auch einmal jemanden von meiner angeheirateten Verwandtschaft kennen lernen.
Die Idee erwies sich nicht als besonders gut. Gab es ein paar Tage vor meinem Geburtstag noch eine Anfrage wegen eines Geschenks für mich, so erfolgte kurzfristig einen Tag vorher noch eine Absage. Michael war unpässlich und damit für mich der Traum aus. Der Gedanke, dass es sich um eine Retourkutsche für unsere Absage zu seiner Hochzeit handelte, lag mir zudem nahe. Ich war mal wieder allein. Lediglich auf die Lemgoer war Verlass. Mein Schwager mit Familie nächtigte in einem Hotel in Bad Vilbel, meine Schwiegermutter bei Marianne Lauer im Hotel. Dieses Mal zahlten wir nur das Taxt nach Bad Vilbel und das gemeinsame Abendessen. Für das Festmahl hatten wir uns für die Esskapaden in Kilianstädten entschieden. Wir hatten hier zum Jahreswechsel gut gegessen und uns deshalb gegen ein anderes, uns vertrautes, Lokal in Bad Vilbel entschieden. Auch das war insgesamt ein Fehler. Zwar war die Qualität des Essens gut, aber es dauerte alles viel zu lange. Letztlich fehlte auch noch das Dessert bei mehreren Personen. Der Name dieser Nachspeise "Dreyerlei" war eines der netten Wortspiele, an die ich mich schon lange gewöhnt hatte, ohne sie als besonders niveauvoll einzustufen. Entsprechend war dann auch der Umgang mit uns, nachdem mein Schwager es unternommen hatte, zu reklamieren. Das Restaurant wurde von einer Dame geführt, die vorher keinerlei gastronomische Erfahrung aufwies. Und das machte sich eben beim Service und der Behandlung von Beschwerden deutlich bemerkbar. Insgesamt stand ich während der gesamten Unruhe ziemlich neben mir und war froh, dass wenigstens am nächsten Tag mit der Organisation des Abholens alles klappte.
Auch mit 60 wurde ich nicht wirklich ruhiger. Vor unserer Reise ins Kleinwalsertal im September ließ ich mit noch eine Notfalltablette von meiner Frankfurter Ärztin mitgeben. Meine nervliche Zerrüttung blieb in der Firma weitgehend unbemerkt. Sehr kurzfristig teilte ich meinem Kollegen mit, dass es sein könnte, dass ich für längere Zeit in eine Klinik gehen würde. Daraufhin brach er in eine gewisse Panik aus und wollte jetzt von mir eine schnelle Einarbeitung in "meinen" Bereich, das waren im Großen und Ganzen die Kundenbetreuung und die Investmentfondsverwaltung und -veröffentlichung. Innerhalb von zwei Tagen hechelten wir das durch, was er als im Haus geführter Abteilungsleiter und Kollege B. längst hätte wissen müssen. Er meinte zudem, es müsse doch auch möglich sein, dass ich nach meiner täglichen Anwesenheit im Krankenhaus auch immer noch mal ins Büro kommen könnte. Mir war insgesamt der Druck zu viel. Da er täglich nur eine Stunde Zeit für die Einarbeitung aufbrachte, würden wir weitere Tage brauchen. So wurde ich bereits vor dem Beginn meiner Therapie krank.
Am 1. Oktober wanderten wir mal wieder im Vogelsberg am Hoherodskopf. Beim Essen in der Taufsteinhütte erreichte mich der Anruf von der Uni-Klinik. Man wollte mich als Patient in die Psychosomatische Klinik zur teilstationären Behandlung aufnehmen und zwar schon ab dem 14. Oktober. Ich fasste wieder neuen Mut. Alles würde besser werden. Vor allem würde ich die Zeit bis zu meiner Rente überbrücken können. Am Tag meines Therapiebeginns brachte mich Ruth zur Klinik. Schon im Urlaub war ich kein Stück Autobahn mehr gefahren, hatte es lediglich geschafft, das letzte Stück von Oberstdorf nach Riezlern selbst zu fahren. Aber diese Angst vor dem Autofahren sollte nun therapiert werden. Ruth ließ mich schließlich mit ein paar Leuten der Therapiegruppe zurück, die viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, als mich zur Kenntnis zu nehmen. Die Abteilung insgesamt machte auf mich keinen guten Eindruck, es begann für mich eine schwere Zeit. Zunächst mal klar war, ich durfte keinen Alkohol während der Dauer meines Aufenthalts trinken. Bestandteil der Therapie waren aber Psychopharmaka, für mich waren das Escitalopram und Amitriptylin. Beide Medikamente wurden mir einschleichend verordnet. Nach dem Erstgespräch mit dem mir zugeordneten Arzt war der erste Tag recht belanglos. Schon am Folgetag wurde es ernst, in einer Morgenrunde hatte jeder über seine persönlichen Zustände und Empfindungen zu berichten. Zudem musste ich wesentlich früher nach Frankfurt fahren, als wenn ich gearbeitet hätte, um zur besagten Runde pünktlich zu sein. Meine Zeit in der Klinik habe ich schon in diesem Blog beschrieben:
Daher sei hier nur die Quintessenz des Ganzen geschildert. Meine Ängste und Symptome verschärften sich in der Klinik. Das Sitzen in den mit Neonlicht beleuchteten Fluren fachte die Häufigkeit meines Augenflimmerns an. Meine Angst vor der Zukunft stieg, Ich hielt die Klinik kaum aus und zur Arbeit zurück konnte ich nicht. Diese scheinbare Ausweglosigkeit machte mich so unsicher, dass ich beim normalen Gehen draußen außerhalb der Klinik stets nach Haltepunkten suchte. Ich musste mir zu Anfang einen Treckingstock zu Hilfe nehmen, um überhaupt eine gewisse Sicherheit zu fühlen. Mir wurde gesagt, dass ich damit meine Angst vermeide. Andererseits habe ich keine Hilfestellung bezüglich meiner Angst vor dem Autofahren bekommen, insbesondere keine Konfrontationstherapie. Die Angebote waren ausschließlich auf Entspannung und Achtsamkeit ausgelegt, was sicher ganz nützlich ist, zuhause im Alltag aber schnell verfliegt. Auch während der Therapie ging mein Leben weiter. Am ersten Wochenende wanderten wir bereits wieder einmal, es ging in den Westerwald. Meine Angst beim Gehen konnte ich in der Gruppe gut verbergen, sodass die Tour ein Erfolg war. Am 15. Oktober war Wilhelm Genazino Gast unseres Vereins im Brendelsaal des Büdesheimer Schlosses. Es war eine unserer besseren Veranstaltungen. Sein Buchtitel "Tarzan am Main" hatte mich bereits zu einem kurzem Beitrag in diesem Blog inspiriert, denn genauso fühlte ich mich bei meinen Spaziergängen in den Elly Lucht-Park und zum Licht- und Luftbad am Mainufer in Niederrad. Er las aber aus dem nicht weniger amüsanten Buch "Bei Regen im Saal". Von meinem Zustand bemerkte niemand etwas. Eine Kollegin fotografierte u.a. auch mich.
Abwechslung hatte ich zudem bei unserer Bahnreise nach Wuppertal. Ausgerechnet in der Nacht vor unserer Abreise wurde es in unserem Haus richtig laut. Die Feierei ging bis in die frühen Morgenstunden mit lauter Musik und grässlicher Singerei. Auf meine Beschwerde hin, ließ mich der Herr des Hauses wissen, dass er Geburtstag habe. Für mich die denkbar schlechtesten Voraussetzungen für unsere Fahrt. Ohnehin wusste ich kaum, wie ich das alles überstehen sollte. Die Fahrten mit der Wuppertaler Schwebebahn waren für mich entsprechend aufregend. Unser Hotel lag zum Glück in der Nähe des damals im Umbau befindlichen Hauptbahnhofs. Abends saß ich in der Bar bei alkoholfreien Cocktails, was mir überraschend wenig ausmachte. Highlight war für mich der botanische Garten, der mich fotografisch sehr inspirierte. Das berühmte Tanztheater, ehemalige Wirkungsstätte von Pina Bausch, empfand ich nicht als touristisches Juwel. Die Atmosphäre in den Lokalen und die Gesprächigkeit der Menschen wirkten positiv. Auf unserer Rückfahrt bekamen wir die politische Situation in Deutschland, die durch die Aufnahme von Migranten in hoher Zahl hervorgerufen worden war, zu spüren. Das ganze Jahr war schon unruhig gewesen, Demonstrationen gegen die EZB in Frankfurt, gegen den G-20-Gipfel und nun gegen die Asylpolitik der Bundesregierung. Unser Zug musste mehrfach stehen bleiben, da auch der Bahnverkehr durch verschiedene Demonstrationen gestört war. Wieder zurück im Klinikalltag sehnte ich das Ende meiner Zeit dort einerseits herbei, andererseits hatte ich Menschen kennen gelernt, deren Kontakt ich verlieren würde. Abschiede sind nicht meine Sache. Aber von meiner Mitpatientin aus Schöneck war es schon berührend, als wir uns nach unserer letzten Bahnfahrt wenigstens einmal umarmten. Sie allerdings hatte da bereits einen Verehrer. Über das Thema Hund blieben wir in Kontakt. Ich hatte mich stets gegen eine Erhöhung meiner Medikamentendosis gewehrt, Ruth meinte allerdings trotzdem, ich hätte mich verändert und könne nicht mehr so gut zuhören. Von meiner Firma hatte ich die ganze Zeit erwartungsgemäß nichts gehört. Lediglich die Personalabteilung ließ mich in Beantwortung einer Mitteilung über den Stand der Dinge wissen: "Ich wünsche Ihnen gute Besserung und vor allen Dingen möglichst schnell." Nun stand die Wiedereingliederung an.
Glück hatte ich bei der Suche nach einer Psychotherapeutin bzw. einem -therapeuten. Bereits vor meinem Klinikaufenthalt hatte ich mir eine ambulante Psychotherapie bei einer Psychotherapeutin in Maintal gesichert. Sie hatte ihre Praxis gerade neu eröffnet und baute sich nun ihren Patientenstamm auf. Das ich hier nicht ins Leere fiel, war sehr stützend für mich, ebenso wie die Tatsache, dass ich durch meine stundenweise Wiedereingliederung meinem Abschied aus dem Berufsleben noch ein Stück näher kam. Bis zur endgültigen Genehmigung meines Rentenantrags wollte ich aber in der Firma noch niemanden informieren. Die medizinische Quintessenz aus meinem Klinikaufenthalt bestand aus dem Verdacht auf Multiple Sklerose, der sich aber nach MRTs des Kopfes und der Wirbelsäule nicht bestätigte. Die Untersuchungen waren für mich teuer, da ich wegen meiner Platzangst nur in einem offenen MRT untersucht werden konnte und die Krankenkasse so etwas nicht bezahlte. Eine Entnahme von Nervenwasser zum endgültigen Ausschluss sah ich nicht als notwendig an, weil auch die Klinik hier wenig Interesse zeigte und dies einen stationären Aufenthalt bedingt hätte. Es blieb nur die festgestellte langsame Nervenleitgeschwindigkeit und die Unklarheit über die Ursache des nach wie vor auftretenden Augenflimmers, an das ich mich allmählich gewöhnte. Ich führte auf Empfehlung der Klinik sogar ein Tagebuch. Gebracht hat mir das nichts.
Schon seit 2014 waren wir auf der Suche nach einem Familienzuwachs in Gestalt eines Hundes. Ruth war ja den ganzen Tag zuhause und meine Mitpatientin hatte mir auch immer von ihren Hunden erzählt, die eine große Stütze für sie zu sein schienen. Ich liebäugelte damit, dass sie uns als Neulinge der Hundehaltung etwas Hilfestellung geben könnte. Nachdem wir im Januar umsonst in den Taunus gefahren waren, da die uns dort angebotene kleine Chihuahua-Mischlingshündin mit dem Namen Peanut bereits wider Erwarten vergeben war, stießen wir in der weiteren Suche im Internet auf den Chihuahua-Pinscher-Mischling Mecki. Im Februar 2016 trafen wir ihn das erste Mal und er kam direkt auf mich zu gespurtet. Seine Wahl war klar. Das alte Bahnwärterhaus in Frankfurt-Berkersheim war bis dahin sein zuhause. Von seinen fast vier Lebensjahren hatte er die meiste Zeit in der Küche des Hauses bei der Leiterin des Tierschutzvereins "Tiere und Menschen" verbracht. In Baja in Ungarn geboren, hatte man ihn relativ schnell eingefangen. In der Nähe des Plattensees wartete er dann, mittlerweile kastriert und gechipt, auf seine Ausreise. Ein Transport nahm ihn schließlich nach Deutschland mit, wo er in der beschriebenen Unterkunft wartete, vor allem auf Gassigeher. Wir durften ihn dann mal mit zu uns nach hause nehmen, er stank allerdings entsetzlich. Als wir in der Küche saßen, wir hatten ihm im Flur ein Handtuch auf einem Streifen Malervlies ausgebreitet, kam er nachschauen und stellte sich sogar auf zwei Beine, um besser sehen zu können. Nach einem gemeinsamen Spaziergang allerdings war seine Zeit bei uns vorerst vorbei. Er wäre wohl am liebsten direkt bei uns geblieben, denn er stand vor unserer Haustür. Das er sehr gut an der Leine ging hatten wir schon gemerkt, als wir das erste Mal in Berkersheim mit ihm gehen durften. Unser Eindruck war insgesamt positiv von dem kleinen Kerl. Patrizia (die Leiterin des Tierschutzvereins) meinte denn auch, er würde zu uns passen und sei als Anfängerhund geeignet. Wir hatten nun allerdings für März eine Busreise nach Hluboka (Frauenberg) in Böhmen gebucht in Unkenntnis der Möglichkeit, einen Hund bekommen zu können. Denn bei der Tierheimen, die wir auch besucht hatten, hielt man uns oft nicht für gute Hundehalter, vor allem weil Ruth sich oft sehr zurück hielt beim Kontakt mit fremdem Hunden. Wir fragten also, ob wir Mecki quasi reservieren könnten, wollten auch eine Anzahlung für ihn leisten. Das wurde uns aber barsch beantwortet. Wir sollten erst mal in Urlaub fahren und wenn er dann noch zu vermitteln sei, könnten wir ihn bekommen. Somit war das Thema erst einmal erledigt.
Die Urlaubsreise brachte viele Besuche an historischen Orten in Böhmen mit sich und natürlich damit auch wieder jede Menge Fotos. Das Hotel in Hluboka und das Osterfest in Südböhmen hätten wir uns sparen können. Der Service im Hotel war lausig, das Essen teilweise wenig. Der Bus war auch nicht der beste, was wir auf der Rückfahrt zu spüren bekamen. Im Ort selbst war touristisch nicht viel zu holen, selbst beim Eiskauf hatte man Sprachprobleme. In der Firma neigte sich meine Wiedereingliederung dem Ende zu.
Im April hatten wir noch von "Hunden in Not Rhein-Main" eine Hündin vermittelt bekommen, die aber in ihrer Pflegestelle schon so gut integriert war, dass wir es nicht übers Herz brachten, sie bei uns zu behalten, da sie offensichtlich trauerte. Ich selbst hatte immer den kleinen Mecki im Kopf. Mit einer gewissen Rückversicherung meiner ehemaligen Mitpatientin aus Schöneck fasste ich neuen Mut und schrieb Patrizia am 3.5.2016 an: "Nachdem ich nun selbst längere Zeit krank war, komme ich heute noch mal auf unseren zuletzt abgebrochenen Dialog zurück." Nun ging alles ganz schnell. Es war der 8.5. 2016, als wir Mecki wieder sahen. Mittlerweile lebte er in einer Pflegestelle mit einer anderen größeren Hündin zusammen und hörte auf den unsinnigen Namen Siggi. Wir durften ihn zum Spaziergang an den Main mitnehmen und für uns war nun spätestens klar, dass wir ihn zu uns holen wollten. Schon zwei Tage später brachte ihn das Ehepaar, mittlerweile schweren Herzens, nach Berkersheim, wo wir ihn übernahmen. Wiederum zwei Tage später waren wir mit Mecki unterwegs an die Ostsee nach Niendorf. Das durfte Patrizia nicht wissen, verlief aber ohne Probleme, da Mecki sich ohne weiteres bei uns integrierte. Ich selbst schaffte es sogar, große Etappen auf der Autobahn zu fahren. Ich hatte meine Psychopharmaka mittlerweile zwar abgesetzt, vertraute aber vor größeren Fahrten auf ein paar Tropfen Amitryptilin. Ich bildete mir ein, ich könne dann keine Angst mehr bekommen und diese Autosuggestion wirkte zunächst. In diesem Blog ist einiges zu Mecki, der für mich bald zu Mecky wurde, zu lesen. Speziell zum Urlaub an der Ostsee sei hier auf den Beitrag per Link verwiesen.
Es war einfach schön zu sehen, wie Mecky sich an der langen Schleppleine über den Strand freute. Er rannte im Kreis und genoss es, mit seinen Hinterpfoten den Sand aufzuwirbeln. Vor der Rückfahrt suchte mich das Augenflimmern auf. Aber ich musste ja noch den Schlüssel unserer Ferienwohnung abgeben bei dem Touristenamt, bevor es auf die Autobahn nach hause ging. Künftig war Mecky auch bei unseren Wanderungen dabei, was bei Wandervereinen wie dem Odenwaldklub nicht immer auf Begeisterung stieß. Wenigstens einen Fan in unserem Haus hatten Mecky und ich, das war die Tochter unseres amerikanischen/litauischen Paares im Erdgeschoß, deren Gelüste nach einer Sauna im Garten wir als einzige Miteigentümer abgelehnt hatten. Die Frau des Hauses mochte uns überhaupt nicht, umso verwunderlicher war es, dass ihre älteste Tochter mir ein Bild malte. Es mag allerdings auch die Dankbarkeit dafür gewesen sein, dass ich ihr immer meine Sammelbilder zur Fußball-EM 2016 weiter reichte. Mein Leben änderte sich durch Mecky gründlich. Noch am Vatertag, an dem ich wie an anderen Feiertag Dienst hatte, schlich ich in meiner Pause allein durch Frankfurt und fotografierte die Wolkenkratzer bei allerbestem Wetter. Ruth musste nun tagsüber das Gassigehen mit Mecky übernehmen, da ich ja noch ganztags arbeitete, wenngleich auch mit weniger Spätdiensten als früher. Ein Grund mehr, meinen Rentenantrag baldmöglichst abzugeben. Ab dem 1.7.2016 wäre mein frühestmöglicher Rententermin gewesen. Ich hielt aber bis zum 30.9.2016 durch.
Am 15.6.2016 fand ein Firmenlauf, der J.P. Morgan Corporate Challenge Frankfurt über 5,6 km in Frankfurt statt. An sich ist die Idee des Laufs, dass ein Team zusammen läuft. Aber wer hat schon Lust, mit dem langsamsten Läufer oder der Läuferin des Teams durch Frankfurt zu laufen? So bestand die einzige gemeinsame Unternehmung darin, auf dem Teamfoto möglichst so zu tun, als sei man ein Team. Danach löste sich das Team auf und ich sah keine einzige Kollegin und keinen einzigen Kollegen währen der ganzen Veranstaltung wieder. Bereits 2003 und 2004 hatte ich an diesem Firmenlauf teilgenommen. Dabei befand ich mich in einer unsinnigen Konkurrenz mit einem Kollegen aus unserer Buchhaltung, der es nicht fassen konnte, dass ich 2003 eine bessere Zeit lief, als er selbst. Prompt übertrumpfte er mich 2004, sah mich auf der Strecke noch und fragte mich scheinheilig, wie es mir geht. Nun schrieben war das Jahr 2016, er war nicht mehr dabei. War wohl stärker ins Laufgeschäft eingestiegen und hatte sich wahrscheinlich, wie so viele, die Knochen kaputt gelaufen. Ich hatte 2016 schon zwei Volksläufe bestritten (Altenstadt und Hanau-Wilhelmsbad) und wollte nun meinen Abschied von der Stadt Frankfurt vorweg nehmen. Ich genoss das Alleinsein in den Straßen meiner Stadt unter so vielen Menschen. Völlig ohne Druck lief ich eine passable Zeit (immerhin war ich mehr als 9 km schnell) und ließ es mich mir nicht nehmen kurz vor dem Zieleinlauf an der Bockenheimer Warte beide Arme hoch zum Zeichen meines Sieges hoch zu nehmen. Diese Geste wurde nur von mir völlig fremden Menschen beobachtet und, denke ich, amüsiert zur Kenntnis genommen. Mich umziehen und ab in die Bahn nach Glauburg-Stockheim, dem Stockheimer Lieschen, nach hause zu Mecky zum Abendspaziergang, das war es.
Dem endgültigen Ziel, meiner Rente, kam ich am 27.6.2016 näher, als ich problemlos meinen Rentenantrag einreichte. In der Firma lief ohnehin nichts so, wie man es brauchte. Selbst der Betriebsrat hatte mittlerweile vor dem Herausgeber kapituliert. Die ihm zustehenden Rechte auf Information sowie die weiteren, eigentlich per Betriebsverfassungsgesetz abgedeckten Rechte, z.B. auf Freistellung eines Betriebsrats, wurden nicht durchgesetzt. So etwas wurde zwar immer wieder von der Redaktion des Hauses thematisiert, aber der neue Vorsitzende des Betriebsrats war gar nicht in der Lage, so etwas durchzusetzen, wobei die Schuld nicht allein bei ihm lag. Einen Betriebsausschuss gab es ja nicht und obwohl bereits Betriebsratsmitglieder bestimmt waren, die mit der Geschäftsführung in Kontakt treten sollten, kam dies nach Widerstand von oben gar nicht erst zustande. Aber das passte für mich ins Bild, schließlich verhinderte dieser Betriebsrat schon seit eh und je die Wahl eines Behindertenvertreters. Insofern hielt sich meine Trauer über das Ende meiner Berufstätigkeit in engen Grenzen. Als ich Michael verspätet zu seinem 61. Geburtstag gratulieren wollte, schrieb ich am 12.7.2016:
"Ich bin jetzt wieder in Arbeit, werde es aber wohl nur noch bis zum 30.9. sein. Danach geht es in die Rente, der Antrag ist schon gestellt."
Dennoch war ich emotional sehr zerrissen. Eine Fahrt für ein paar Tage in den Odenwald brachte mich an die Grenze meiner Möglichkeiten. Wir fuhren am 22.7.2016 über Hanau ab und stoppten vorher noch in Hanau-Wilhelmsbad, um Mecky auszuführen. Hier war ich immer gern und das machte die Weiterfahrt nicht einfacher. Über die zweispurig ausgebaute B43a ging es weiter auf der B45. Auch hier war zügige Fahrweise notwendig und das fiel mir schon schwer. Zum Schluss wurde uns die direkte Zufahrt nach Hesselbach-Hesseneck zur gebuchten Ferienwohnung durch eine Baustelle versperrt. Wir mussten einen weiten Umweg nehmen und wussten teilweise nicht, wo wir waren, da es auch keinen Satellitenempfang für das Navi gab. Der eigentliche Grund für unsere Reise war, dass Niklas um die deutsche Jugendmeisterschaft im Minigolf in Weinheim spielte und mit seiner Familie in Beerfelden untergekommen war. In Hesseneck angekommen, fragte ich mich, warum wir immer in den Allgäu fahren mussten, denn auf dem Hochplateau, auf dem der kleine Ort lag, sah es aus fast genauso aus. Es war ein schönes verlängertes Wochenende. Am 24.7. war das Turnier bereits vorbei und wir trafen uns in Beerfelden zu einem gemeinsamen Ausflug mit Schifffahrt auf dem Neckar, die uns bis nach Eberbach zur Schleuse führte und zurück nach Hirschhorn. Niklas hatte sich über die mitgebrachten Marken T-Shirts gefreut und ich selbst trug auch eins. Am nächsten Tag ging es wieder nach hause und meine Erleichterung, als ich Hanau-Steinheim erreichte, war riesengroß.
In der Firma musste ich Farbe bekennen. Zwar hatte ich noch keinen endgültigen Rentenbescheid, aber die Bearbeitung lief. Die Überraschung bei Kollege B. war einigermaßen groß. Wohl auf seine Initiative hin, machte man mir das Angebot, ab 1.10. als Minijobber noch weiterhin zur Verfügung stehen zu können. Bei der Festlegung meiner zu leistenden Stundenanzahl wirkte er natürlich mit. Welchen Beleg dafür brauchte ich noch, dass zwischen uns eben nicht alles geblieben war wie vorher. Die monatliche Stundenzahl betrug nun 23,5 Stunden, für die ich 450 € verdiente. Das war nicht schlecht. Ich hatte das den Umstand zu verdanken, dass man sicher froh war, ein Gehalt weniger auf der Kostenstelle zu haben, sich aber andererseits mein Knowhow noch weiterhin sicherte. Eine Win-Win-Situation für beide Seiten.
Unsere Reisetätigkeit ging weiter. Im August waren wir wieder einmal in Lemgo, die Gedanken an eine Immobilie in Lemgo kam auf. Im Juli hatte ich bereits ein Foto unseres Hauses in Kilianstädten gemacht, um eine Verkaufsanzeige vorzubereiten. Im September fuhren wir dann nach Oberstdorf, dieses Mal mit Mecky.
Das Ende in der Firma war sehr diskret. Ich selbst hatte noch gute Erinnerungen daran, wie schwer es für mich in der Vergangenheit gewesen war, bei Einladungen meinerseits überhaupt jemanden motivieren zu können, dieser zu folgen. Das wollte ich mir zum Abschluss unbedingt ersparen, davon abgesehen, dass die Auswahl eines Personenkreises zum einen von der Firma zahlenmäßig begrenzt war und zudem immer heikel gewesen wäre. Ich hatte bei meinen Festivitäten immer Mühe gehabt, meine eingekauften Getränkelos zu werden und konnte sie dann meist zuhause selbst trinken. Natürlich traf ich mich abends noch einmal mit meinem spanischen Ex-Kollegen José auf eine gute Flasche Rotwein. Wir philosophierten wie immer und er nahm wie immer ein paar Börsen-Zeitungen mit nach hause. Natürlich wollten wir in Kontakt bleiben. Die Firma plante ganz offensichtlich keine offizielle Verabschiedung meiner Wenigkeit. So blieb es mir nur, an meinem letzten Vollzeit-Arbeitstag noch einmal eine Massage am Nachmittag zu nehmen. Wegen Urlaubs von Kollegen hatte ich auch am 30.9. noch gearbeitet. Es blieb letztlich bei einem erfolglosen Anruf unseres Geschäftsführers. Es war Freitag und schon am folgenden Montag würde ich meinen ersten Einsatz als Urlaubsvertretung absolvieren. Es war also auch noch kein endgültiger Abschied, wenngleich für mich ein sehr bedeutender Einschnitt.
Nun hatte ich mich hauptamtlich um Mecky zu kümmern, schließlich war er offiziell mein Hund. Viele redeten aber in seiner Erziehung mit. Dazu kam, dass Mecky absolut kein Anfängerhund war. Wie Patrizia schon gesagt hatte, er ist ein Schisser, aber einer, der forsch mit erhobenem Schwanz durch die Gegend geht und alles anbellt, was ihm nicht passt. So landeten wir bei einer Hundeschule und Hundetrainerinnen. Meine Bekannte schied da schon längst aus, ihre Versprechungen konnten wir nicht wahrnehmen. Zu konservativ war uns die von ihr favorisierte Erziehungsmethode. Generell waren in den von uns besuchten Hundeschulen fast nur große Hunde, was im freien Spiel für unseren Hund immer wieder zu gefährlichen Kollisionen führen konnte. Zudem durchschaute Mecky schnell die angebotenen Aufgaben. Er schauspielerte ganz gut, um zuhause wieder genauso zu sein, wie er immer war, ein Hund mit Herz und Charakter. Die üblichen Hundespielereien mochte er nicht. Lediglich ein bisschen mit mir zerren, das war es. Seine Stimmung kippte manchmal schnell. Sah es manchmal so aus, als würde er mit unserem Nachbarskind gut auskommen, so fiel er schnell wieder in die Bellerei zurück. Es blieb uns nichts übrig, als solche Situationen zu meiden, wollten wir ihn nicht mit Leckerlies dick füttern. Unsere Wanderungen machte er problemlos mit und verhielt sich im vertrauten Umfeld immer ruhig. So wanderten wir im Oktober von Düdelsheim über die Steinerne zum Glauberg und zurück in eigener Regie. Die Mitarbeit im Odenwaldklub hatten wir aufgegeben. Da suchte man erst Leute, die aktiv im Verein eine Funktion übernehmen wollten und als ich mich als Kassenwart meldete, hieß es in einer Versammlung, man müsse sich doch erst kennenlernen. Ein Phänomen in vielen Wandervereinen, die Alten können nicht mehr, halten aber die Stellung, blockieren Nachrücker. Mein Rentnerdasein hatte also begonnen. Am Heiligabend waren wir mit Mecky am Mainufer und hörten uns das beeindruckende Frankfurter Stadtgeläut an. Mecky parierte die Menschenmassen erstaunlich gut. Seine Heimat waren nun die Kilianstädter Felder, die wir im Winter sogar ganz allein in der Dunkelheit, nur von meiner Stirnlampe beleuchtet, genossen.
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