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Montag, 19. Oktober 2020

MyLife 1975 -1977

1975 - 1977 Bundeswehr / Lehre

Das Jahr 1975 war in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt. Zum 1. Januar wurde ich per Gesetz volljährig, da das Alter hierfür von 21 auf 18 Jahre herab gesetzt wurde. Nach einem halben Jahr Wehrdienst war ich nun Gefreiter. Das bedeutete allerdings lediglich, dass ich nun als GvD den Unteroffizier vom Dienst UvD vertreten und damit morgens der Kompanie in den Fluren das obligatorische „Kompanie aufstehen“ zurufen durfte. Zwar machte mir das Marschieren im Gelände nicht viel aus, ich schoss auch passabel, Aber es  passierten immer wieder Fehler. Das Funktionieren auf Kommando funktionierte nicht bei mir und körperlich war ich vielen Kameraden unterlegen. Ein Offenbacher Kamerad mit dem Namen Knust machte sich über unsere nordhessische Aussprache lustig und schikanierte mich damit. Es war nicht der einzige Vorfall. Irgendwann wurde in der Stabskompanie ein Wäschekellerwart gesucht. Die Wahl fiel auf mich. Doch das machte die Situation nicht leichter. Zwar konnte ich nun nach dem morgendlichen Appell in meinen Keller weg treten, um meine Zeit abzusitzen, aber ich war nun viel öfter mit Wachestehen dran. Das bedeutete oft auch Wochenenddienst, noch weniger Zeit zuhause. Die Rückkehr am Sonntagabend (bis 22 Uhr) war der blanke Horror. Angstzustände plagten mich den ganzen Abend, oft hatte ich das Gefühl, gar nicht mehr bei mir zu sein, völlig zu zerfallen. Ich musste mir Tabletten holen, den Namen des Medikaments habe ich  vergessen. Es war im übrigen nicht selten, dass sich Soldaten selbst das Leben nahmen. Paradoxerweise war ich Sonntagabends meist einer der ersten, der in der Kaserne eintraf. Die meisten meiner Stabskollegen trudelten später ein oder waren Heimschläfer. Ich fand schon einmal ein Stück Kochwurst, die auf der Türklinke platziert war, Einer dieser Stabskameraden war ein fetter ekliger Kerl. Er lies überall seine Pornoheftchen herum liegen, deren Sinn mir nicht klar war. Ich fand sie zum Kotzen. Mein Dienst bestand nun darin, zu bestimmten Zeiten, frische Bettwäsche und andere benötigte Artikel wie Schnürsenkel für die Springerstiefel auszugeben. Ich selbst hatte nur die gewöhnlichen Knobelbecher an. Ab un an musste die dreckige Wäsche dann zum Magazinhof gefahren werden, wo es auch alle anderen Utensilien für die Soldaten gab. Konnte ich alles Gewünschte besorgen, stand ich gut da, wenn nicht, wurde gemeckert. Ich hatte den Gesamtbestand ohne Inventur übernommen, ein Fehler, der sich noch rächen sollte.

Kehrseite meiner Versetzung in die Stabskompanie war das häufige Wache schieben, entweder am Kasernentor oder als Streife im Munitionslager Ehlen. Besonders wenn die Truppe zu Übungen draußen war, gab es viele Einsätze, oft jeden zweiten Tag. Der Ablauf war immer gleich: von 12 Uhr mittags bis 12 Uhr mittags am Folgetag im Rhythmus zwei Stunden Wache, zwei Stunden Bereitschaft und zwei Stunden  Schlaf (nachts). Am Tor musste man die meist per Auto Ankommenden militärisch grüßen, kontrollieren und dann, wenn  alles in Ordnung war, die Schranke öffnen. Immer spielte die Angst mit, den Falschen zu kontrollieren, eine höheren Dienstgrad, den man kannte, den hatte man durchzuwinken. Im Munitionslager lief man Doppelstreife mit scharfer Munition, das Ganze war etwas mulmig, da zu dieser Zeit die RAF auch Einrichtungen der Bundeswehr, insbesondere auch Munitionslager angreifen konnte. Es ist ein paar mal geschehen, aber wir hatten Glück. Ich hatte mit dem permanenten Wachdienst schon so meine Probleme. So kam es dann zu einem Zwischenfall, als nach dem Ende eines Wachdienstes um 12:00 Uhr mittags die Gewehre noch mal zur Übergabe gesichert werden  mussten. Dabei hat sich anscheinend bei meinem Gewehr wieder ein Verschluss nicht richtig verriegelt. Jedenfalls löste sich bei der Kontrolle  ein Schuss, der in die Luft ging und niemanden gefährdete. Das Malheur  hätte mich allerdings trotzdem auch in den Bau bringen können. Ich hatte insofern Glück im Unglück und wurde „nur“ mit zusätzlichen Wachdiensten bestraft, getreu dem Prinzip „Lerning by doing“. An sich lief ich lieber Streife im Munitionslager Lager, weil man da seine Ruhe hat vor irgendwelchen Vorgesetzten und keine Kalamitäten mit angeblich fälschlicherweise kontrollierten Personen. Meine Zeit bei der Bundeswehr kann ich durchaus als verlorene Zeit bezeichnen, da sich im Jahr 1975 die Situation am Arbeitsmarkt geändert hatte. Von der Zeit der Vollbeschäftigung ging es nun los mit erhöhten Arbeitslosenzahlen. Statt ungefähr 200.000 Arbeitslosen waren es bald so circa 800.000 und das erschwerte mir natürlich die Suche nach einer Lehrstelle. Die musste ich ja parallel zu den zu der letzten Zeit bei der Bundeswehr erledigen. Gelernt habe ich das Schießen mit allen Waffen: Panzerfaust, MG3, G3, Uzi (Maschinenpistole und Pistole. Wirklich beeindruckt hat mich die Uzi, mit der man praktisch ohne Rückstoß aus der Hüfte Dauerfeuer schießen kann. Eine israelische Entwicklung, sie soll auch dann noch einsatzfähig sein, wenn sie in den Dreck gefallen ist. Aber was half mir das für den Alltag und schon gar nicht für meine musikalischen Ambitionen.

Meine Bundeswehrzeit sollte natürlich auch noch mit einem kleinen Knallbonbon enden. Ich wurde bei der Übergabe meines Wäschekellerbestandes beschuldigt, dass etwas abhandengekommen sein sollte. Ich konnte schlecht das Gegenteil beweisen, weil ich ja keine Anfangsinventur mit erlebt habe und man verlangte nun von mir auch nachträglich noch durch die Bundeswehrverwaltung die Bezahlung dieser angeblich verloren gegangenen Gegenstände. Das muss man sich vorstellen, die Verwaltung wollte Geld von mir, obwohl ich nur mein Entlassungsgeld hatte und keineswegs klar war, ob ich im Anschluss selber Geld verdienen würde. In der Rückschau muss ich sagen, nicht nur dieser letzte Punkt hat mich zu einem Gegner des Militärdienstes gemacht. Es war zwar damals, also 1974/75,  schon die Rede von moderner Menschenführung, aber in der Praxis wehte der preußische Geist durch die Kasernen. 

 Ich selbst sah mit eigenen Augen, wie Kameraden, die körperlich noch schlechter dran waren als ich, geschliffen und kaputt gemacht wurden. Es ging nicht darum, die am besten geeigneten Soldaten für die zugedachte Aufgabe zu finden, sondern um unbedingten Gehorsam, auch wenn es keinen Sinn machte. Im Ernstfall verliert man so Kriege, das zeigt unsere deutsche Geschichte eindrucksvoll.


Souvenir aus meiner Bundeswehrzeit: die Erkennungsmarke 

Ich habe ja bereits geschildert, unter welchen Umständen ich mich zuhause befand. „Mein Zimmer“ war wieder ein Elternschlafzimmer und ich sollte nun wieder mit meinem allmählich pubertierenden Bruder in einem Zimmer schlafen. Privatsphäre gleich Null. Mit dem 30.9.1975 steckte ich in neuen Schwierigkeiten. 

Meine Lehrstellensuche war sehr schwierig gewesen, wenngleich erfolgreich. Mein Kumpel Bernd O. formulierte einmal „Alle haben gesucht, einer hat gefunden.“ Die Situation war mittlerweile so, dass mit einem mittelmäßigen Abitur Abschluss keine guten Lehrstellen zu bekommen waren. Viele Bewerbungen gingen ins Leere, beziehungsweise ich bekam die Stellen einfach nicht. Ich konnte dann ein Volontariat bei der Buchgroßhandlung Döll beginnen. Würde ich mich bewähren, so bekäme ich eine dar. Diese Firma wurde mir allerdings von meinem Mentor, Rudolf Ulrich, nicht gerade empfohlen. Er war sogar dagegen, als ich dort anfing. Ich sah keine andere Möglichkeit , um sozusagen selbstständig werden zu können und das war für mich eine zwingende Notwendigkeit, Denn ich musste Geld verdienen. Nur so konnte ich mir den Auszug aus der elterlichen Wohnung erlauben. Denn mein Vater war ja der Meinung und sagt es mir ganz deutlich: „Für dich nehme ich mir keine größere Wohnung.“ Aber er vertrat noch andere Meinungen. Zum einen wollte er mir von meinem eventuellen Verdienst ein Taschengeld zuteilen, zum anderen mir die Offenlegung seines Verdienstes für den Bafög-Antrag verweigern. Somit wusste ich, es gibt für mich nur den Weg zu Hause auszuziehen. Ich wusste aber auch, dass das Lehrgeld dafür nicht ausreichen würde.  Helfen könnte mir hier unser Freund der Familie, der „Ullrich“, der war gegen den Beginn einer Ausbildung bei Döll, weil dort ein angeblich Schwuler arbeitete.

Um also diesen Auszug von zu Hause finanziell stemmen zu können, brauchte ich die finanzielle Unterstützung ab dem Beginn meiner Lehre. Zunächst hatte ich ab 1. Oktober das Volontariat für vier Monate und bekam ich circa 800 DM im Monat. Die kam nun, nach einem Gespräch mit meinem Vater, von meinem Mentor Rudolf Ulrich. Mein Vater und ich lösten so unsere gegenseitigen Meinungsverschiedenheiten. Zu meiner großen Erleichterung zahlte mir Rudolf monatlich einen Betrag von circa 400 €, solange ich in der Ausbildung war.

 Ja, damit waren die Weichen gestellt und ich suchte mir ein möbliertes Zimmer in Kassel. Mein Vater hatte eigentlich vorgehabt, mir eine geeignete Unterkunft zu suchen, weil er der Meinung war, das richtige würde ich wohl nicht finden. Ich war aber schneller und unterschrieb einen handschriftlichen Mietvertrag bei Herrn Faustig in der Kölnischen Straße. Das war ein Altbau und ein Zimmer mit hohen Wänden und einem Waschbecken drin. Es gab eine Gemeinschaftstoilette. Sehr viel habe ich von zu Hause nicht mitgenommen, ein paar Bestecke, meine Kleidungsstücke, also mein Besitz war jedenfalls überschaubar. Meine Lehre im Ausbildungsberuf Buchhändler konnte jedenfalls am 1.2.1976 beginnen. Ich war mittlerweile auch umgezogen.

Mein Vermieter muss früher  ein stattlicher dunkelhaariger Mann gewesen sein. Nun war er grau bis weißhaarig, besaß einen Collie und hatte einen Faible für klassische Musik. Ich saß  in meinem hohen Zimmer und studierte die STVO für meine Führerscheinprüfung. Das Entlassungsgeld von der Bundeswehr sorgte für die Finanzierung. Ich roch nun an der Freiheit. Entdeckte günstigeLebensmittel im städtischen Discounter, gehe mit meinen Kumpels im fußläufig erreichbaren Studentenlokal, dem  „Hobel“ abends mein Bier trinken und besaufe mich eines Abends mit dem anderen Miter der Wohnung Faustig mit einer großen bauchigen Flasche Sangria. Gerhard T. Ist noch immer arbeitslos, Bernd O. studiert,  mittlerweile in Göttingen und kennt die Jutta. Die meint, als ich meine Führerscheinprüfung bestanden hatte, dass ich ihr Auto fahren könne. Damit steht sie erst mal allein da. Mein Vater will mir seinen Wagen nicht anvertrauen. Dabei hatte ich nur zwanzig Fahrstunden gebraucht, die Prüfung aber vorsichtshalber auf einem Automatic-Auto, einem VW 1600, gemacht. 

In der Firma bestätigt sich die Befürchtung Ullrichs bezüglich des Rufs. Es geht recht locker zu. Dabei war der Chef ein ehemaliger U-Boot-Fahrer, der von seinem Hinterzimmer einen guten Blick auf den Hof hatte und er sah sofort, wenn Lieferungen ankamen. Ich war zunächst mal dem Lagerleiter zugeordnet. und meine Aufgabe war es, die Pakete auszupacken, die Vorbestellungen von Kunden zuzuordnen, sogenannte „Verzettelungen“, und natürlich die Lieferscheine mit dem tatsächlichen Eingang gegen zu haken. Über eine Wendeltreppe stürmte mein Chel, ein Herr Fuchslocher, zu mir herunter und schlitzte mit einem abgebrochenen Messer die Pakete auf und warf mir die Bücher auf den Packtisch. Er muss sich wie ein U-Boot-Kommandant gefühlt haben und das wär seine Lieblingsbeschäftigung. Er rief mir dann die Zahlen zu und ich hatte zu reagieren. Dann wurden die Sendungen ans Lager geschickt bzw. die Vorbestellungen zur Fakturierung gegeben. 

Ansonsten merkte ich schnell, dass ich einen Beruf gewählt hatte, in dem das weibliche Geschlecht in der Überzahl war. Vorerst blieb das für mich ohne Folgen, auch wenn Monika Schäfer reimte: „Herr Dreyer, mein Befreier.“ Ich hatte mich erst mal selbst zu befreien. Das spitzbübische Gesicht von Frl. Kanne aus der Bestellabteilung/Taschenbuch bleibt in meiner Erinnerung, sie flirtete gern und ich genoss das. Der Umgang mit den Kollegen war auch sehr locker. Mittags wurde meist bei ein paar kleinen Bieren und Bockwurst mit Brötchen im Göttinger Hof bei Herrn Machmar Skat gedroschen. Da ich selten alle Karten behalten konnte, die schon gespielt waren, war ich gegen die recht professionellen Spieler meist nicht sehr erfolgreich. Alles in allem lief also alles recht gesellig ab. In der Berufsschule kam ich gut mit dank meiner kaufmännischen Schulausbildung. 

Ich mag ein Jahr bei Herrn Faustig gewohnt haben, ich suchte mir selbstständig eine neue Bleibe und wohnte danach in der Friedrich-Ebert-Straße 145. Ich lebte schon ziemlich selbstständig, wusch Unterwäsche und Strümpfe im Handwaschbecken selbst, hatte ja nun eine Naßzelle zur Verfügung und brachte größere Wäschestücke zur Wäscherei Welschers, die ich schon seit Kindertagen kannte. Lediglich zum Mittagessen fuhr ich sonntags zu meinen Eltern, die sich dafür bezahlen ließen. Ich war im Grunde jedes Mal froh, wenn ich die angespannte Atmosphäre der elterlichen Wohnung in Helleböhn verlassen konnte. In Helleböhn war ich nie heimisch gewesen, nun war ich wieder im Vorderen Westen der Stadt ansässig. Da wo ich einst aufgewachsen war, in der Nähe des Bebelplatzes. 

Das Jahr 1977 änderte so einiges für mich. Bisher war ich hauptsächlich mit meinen Kumpels Bernd O. und Gerhard T. unterwegs gewesen. Durch Bernd hatte ich in Göttingen eine mit Bassseiten bespannte Gitarre kaufen können. Das kam mir sehr entgegen, denn ich wollte einen harten, melodischen Bass spielen. Jack Bruce war mein Vorbild, Ein paar Bluesgriffe hatte ich von Bernd gelernt, der quasi als Leadgitarrist bei uns fingierte und am ehesten halbwegs Gitarre spielen konnte. Zu uns kam noch als Rhytmusgitarrist Lothar A., auch er war nicht besonders musikalisch begabt. Unser Schlagzeuger, Gerhard T. trommelte meist hinter uns her, anstatt den Takt vorzugeben. Unsere Musik hörte sich an, als ob wir vor dem Schlagzeug wegliefen. Unsere Sessions verewigten wir auf etlichen Tonbändern. Einige waren internem Besitz, Vater hat sie Jahrzehnte nach meinem Auszug grußlos und ohne zu fragen vernichtet. Seine gefärbten Hände nach dem Abwickeln des Bandmaterials von den Spulen bleiben mir wohl immer in Erinnerung. Unser Repertoire war sehr eingeschränkt, neben stundenlangen Bluessessions, spielten wir mal was von Pink Floyd und mal was von Credence Clearwater Revival, Bad Moon Rising. Ich übernahm den Gesangspart dank Gestell mit Mikrofon. Wie gut alles hätte klingen können, das erfuhren wir, als mein Jugendfreund Detlef Glänzer mal das Schlagzeug übernahm. Er spielte in einer Tanzkapelle und verstand sein Handwerk. Als mit Wolfgang R. ein guter Gitarrist eine Gastrolle übernahm, machte mir  mein Bass auf einmal Spaß. Das er bei mir als einzigem Stammmitglied ein gewisses Talent saht, ehr mich noch heute und überraschte mich damals sehr. Im Großen und Ganzen denke ich aber das, was mein Onkel Siegward einmal sagte: die Musik soll man denen überlassen, die es können. Wir hatten während der ganzen Zeit eine Zuhörerin, das war die Feundin von Lothar A, Karin G. 

Unsere Übungsstunden endeten meistens im Ysenburg-Eck bei Currywurst mit Pommes und Bier. Dennoch hatte ich nicht mehr soviel Zeit. Durch meine neue Wohnlage ging ich nun öfter ins Kneipenviertel an der Goethestraße mit den Studentenkneipen „Knösel“ und „Fiedel“.Wenn hier der Abend noch nicht zu Ende gehen sollte, ging es weiter in die „Hacienda“ in der Schönfelder Steaße. Dort konnte ich auch ohne Freundin tanzen. Es wurde getrunken, geraucht (nicht nur Zigaretten) und ich war dabei. Fremde Mädchen anzutanzen und hinterher wortlos die Bühne für das nächste Bier zu verlassen, es war das Größte für mich. Gegenüber gab es Knoblauchspieße für den Hunger zwischen durch. Und alles konnte ich fußläufig erreichen. Stairway to heaven, die Stimme von Robert Plant hätte ich auch gern gehabt.

Tatsächlich trug die Gesamthochschule Kassel viel dazu bei, dass studentisches Leben in die etwas miefige und autoritätshörige Arbeiter- und Beamtenstadt kam. In der „Fiedel“ trafen sich Einheimische und auswärtige junge Leute beim Apfelwein, beim Appelkorn und dem Licher Bier jeder nach Belieben. Manchmal gab es Livemusik, im Sommer stand man draußen, man hörte Bernies Autobahnband zu und irgendjemand baggerte immer. Ich hatte neue Bekannte, letztlich eine ganze Clique netter Typen nebst manchmal weiblichen Begleiterinnen. Mein Star war für mich Thomas K., ein kleiner Dunkelhaariger mit Schnäuzer. Sein Grinsen fand ich ebenso legendär wie seinen Verdienst. Ich habe mir, glaube ich, später nur deswegen mir mühselig einen Schnauzbart wachsen lassen, weil er einen hatte. Auch das lässige Hochziehen des Oberlippenbartes beim angedeuteten Grinsen schaute ich mir von ihm ab. Er hatte eine sehr nette Freundin namens Urta, die aus dem nordhessischen Umland stammte. Jedes Mal, wenn ich durch Jesberg fahre, muss ich dran denken. Thomas fuhr einen weißen Minicooper, arbeitete bei der Labdeskreditkasse und verdiente dort laut eigener Aussage 2000,- DM. zudem wohnte er in Wehlheiden, einem Stadtteil, den ich recht anheimelnd fand (ebenso seine Altbauwohnung). Für mich waren die Kneipenkontakte das Leben, möblierte Zimmer sind nicht besonders aufregend, wenn man allein ist. 

Im Sommer wollte ich erstmals allein in Urlaub fahren. Nun lockte mich die weite Welt, die hieß Norddeutschland. Mit Rucksack machte ich mich auf den Weg, mir schwebte es vor, Karin G., die Freundin unseres Gitaristen Lothar A. in Grömitz zu besuchen, wo sie in den Freien jobbte. Ein Ziel braucht man schließlich. Ich trampte also zunächst einmal bis Zu irgendeinem Hamburger Autobahnkreuz und lernte die Entfernungen bis zum nächsten öffentlichen Verkehrsmittel kennen, denn ich wollte in der Jugendherberge auf St. Pauli übernachten. Der Abend reichte für den Besuch einer Spelunke, wo ich aber freundlich behandelt wurde. Am nächsten Tag fuhr ich weiter nach Lübeck, hier spielte ich abends in einer Kneipe mit wildfremden Typen Karte, die waren echt nett, aber ich musste auch hier um zehn Uhr abends in der Jugendherberge sein. Mit dem Bus ging es weiter nach Grömitz, wo ich Karin bei der Arbeit fand. Sie freute über meinen Besuch, konnte mir aber keine Übernachtungsmöglichkeit bieten. Wenig begeistert war ihr Chefin von meinem Auftauchen. Die Besuchssituation bei der Arbeit war äußerst ungünstig, sodass ich beschloss, nach Kiel weiter zu reisen. Die Stadt fand ich wenig anziehend, ich lief irgendwo am Hafen herum und war wiederum in der Jugendherberge. Immerhin fand ich am nächsten Tag eine Möglichkeit, bis zur dänischen Grenze mitzufahren. Ich wusste, dass es auf der dänischen Seite der Flensburger Förde in Kollund eine Jugendherberge gab und beschloss, dahin zu wandern. In der Unterkunft angekommen, stellte ich schnell fest, dass in Dänemark in den Jugendherbergen eine Trennung der Geschlechter nicht erfolgte. Auch die strengen Zeitregelungen gab s nicht. Man war eigentlich frei bis auf die Tatsache, dass man in einer Sammelunterkunft schlief. Die Mädchen in meinem Zimmer waren ziemlich albern und kicherten für meinen Geschmack zu viel.


 

Quelle: Hotel Fakkelgarden / Kollund

Die Herberge lag nahe der Förde und war von etwas Wald umgeben, aber ich wollte doch ans richtige Meer und wanderte am nächsten Tag zurück zum Grenzübergang, in der Hoffnung weiter trampen zu können. Da hatte ich Glück, ein junges Paar nahm mich mit und sie wollten zur Insel Römö. Ich glaube, sie war die treibende Kraft bei der Idee, mich mitzunehmen. Jedenfalls setzten sie mich auf der Insel ab, mit dem Tipp, in der Jugendherberge zu übernachten. Ich ging den Rest des Weges nach Havneby, wo sich mein neues Zuhause befand. In der Nähe des Hafens wurde ich von einem alten Mann angesprochen, der mich fragte, warum ich allein unterwegs wäre. Das sei nicht gut, er würde das kennen. Mir war das unverständlich, ich fühlte mich eigentlich wohl in meiner Haut. War dabei mich und meine Freiheit zu genießen. Die Herberge war wohl ehemals einen Scheune gewesen, zumindest was den großen Raum anging, in dem gemeinsam gekocht und gegessen wurde. Viele waren hier offensichtlich Dauergäste. Ein älterer Bewohner wetterte dauernd gegen das gegenüberliegende „Deutsche Reich“, in das er auf keinen Fall zurück kehren wollte. Ich verstand das nur teilweise, die deutsche Regulierungswut war mir allerdings bekannt. Ich hatte allerdings bald neue Bekannte, eine junge Frau aus Quickborn mit ihrem kleinen Sohn. Wenn ich hier von jung schreibe, so muss ich ergänzen, dass ich natürlich jünger war als die hier beschriebenen Personen. Sie jedenfalls nahm mich ein bisschen unter ihre Fittiche. Der Weg an den Strand von Römö ist ziemlich weit. Ein Auto hilft da manchmal. Ich machte einen Ausflug nach Ribe, wo mir der Dom in Erinnerung ist. In der nächsten Stadt, Esbjerg, und in der ganzen Gegend wird viel Fisch verarbeitet, was man auch riechen kann. Gemeinsam schipperten wir während einer Butterfahrt nach Sylt zum Lister Hafen. Wie anders wirkte das alles auf uns, der Trubel dort, unsere Idylle auf Römö. Wir sahen die abendlichen Lichter am Hafen und vielleicht entstand hier ihr Gedanke, nach List in die Jugendherberge weiter zu reisen. Im nach hinein kann man verstehen, dass eine junge Mutter mit ihrem Kind die geordneten Verhältnisse in einer deutschen Jugendherberge dem in der Herberge von Römö vorzieht und ich kam der Heimat ein Stück näher. So quartierten wir uns entsprechend in List ein, besuchten den dortigen Strand tagsüber, abends landete ich in einer der wenigen Kneipen. Ihr Urlaub ging zu Ende. Sie fragte mich, ob ich öfter solche Reisen machen würde. Sie fand das wohl verwunderlich. Jedenfalls kam ich bis Quickborn mit, wo sie mich an der Autobahn absetzte. Von dort fand ich eine Mitfahrmöglichkeit mit einem sehr redseligen Typen nach Bremen. Das war eigentlich nicht meine Richtung, aber näher nach Hause. Er wohnte in einer größeren Siedlung und dachte wohl, ich würde bei ihm übernachten. Ich machte mich aber auf den Weg zum Bahnhof und fuhr mit dem Zug nach Kassel zurück. Irgendwie war mein Bedarf an Freiheit und Abenteuer gedeckt. 

Zurück in Kassel stellte ich fest, dass ich vermisst worden war. Ich hatte niemanden, auch Bernd nicht, über meine Reiseabsicht informiert. Es überraschte auch, dass ich Karin G. besucht hatte. Ich war einfach ein bisschen naiv und mir selten über die Folgen meiner Handlungen im Klaren. So erzählte ich meinem Bruder einmal, er könne jederzeit meinen Kumpel Bernd in der Schäfergasse besuchen, wenn er mal in der Stadt sei. Bernd hatte mittlerweile eine eigene kleine Wohnung und nannte einen weißen Käfer sein eigen. Bernd O. war Einzelkind, kam wie ich aus einfachen Verhältnissen, hatte aber im Gegensatz zu mir Eltern,  die alles für ihn taten. So konnte er in Göttingen studieren, er war für den Bund nicht tauglich. Was das Verantwortungsbewusstsein anging, war er mir deutlich voraus. Das ich von Ullrich unterstützt wurde, das sahen meine Musikerkollegen immer als Ausgleich für die Mängel meines Elternhauses. Bernd ärgerte sich manchmal über mein Verhalten, ohne mit mir zu brechen. War ich gut drauf, glaubte ich, alle anderen müssten es auch sein. Wenn nicht, war es mir egal, ob es anderen gut ging. 

Ergänzend zu meiner Berufsschulausbildung ergab sich im Sommer auch noch die Möglchkeit, einen Lehrgang an Buchhändlerschule in Frankfurt am Main zu besuchen, der allerdings privat finanziert werden musste. Die Kosten übernahm, wie schon einige Male in meinem Leben, Rudi Ullrich. Esswaren eine schöne Zeit, die mich zum ersten Mal für länger in meine spätere Heimat Frankfurt führte. Wir waren sehr modern untergebracht, die Schule gab es ja erst seit wenigen Jahren. Die Autoren der DDR waren sehr beliebt, ich erinnere mich an einen weiblichen Fan von Jurek Becker. Ich selbst las Rainer Kunze, Die wunderbaren Jahre. Allerdings war ich von Herman Hesse sehr beeindruckt, mein früherer Deutschlehrer hatte ihn zwar als „Dünnbrettbohrer“ bezeichnet, aber mit dem dünnen Brett kam ich gut zurecht. Wir, die Schüler waren oft auf dem Lohrberg und wurden von einem unserer Lehrer auch mal nach Alt-Sachsenhausen mitgenommen. Die sommerliche Atmosphäre in den typischen Lokalen mit den Holzbänken und dem Ebbelwoi beeindruckte mich sehr. Wie anders war das Leben hier im Vergleich zu dem, was ich kannte. Ab und zu wurde schuleigene Mensa zur Disco und ich tanzte öfter mit einem Mädchen aus Idar-Oberstein, verliebte mich auch sehr, ohne auf die entsprechende Gegenliebe zu treffen, was mir nicht so viel ausmachte. Wenn „Hotel California“ von den Eagels lief, tanzte ich trotzdem gern.

Auch diese Liebelei blieb also ohne Folgen. Bernd meinte schon, dass er eine Freundin von mir gern mal kennenlernen würde. Ullrich wollte mich ja immer mit seiner Nichte Jackie bekanntmachen, die mit ihrer Familie in Detroit lebte. Ab und zu kamen sie zu Besuch und da war er immer regelrecht aus dem Häuschen. 1977 sollte ein letzter Besuch stattfinden, denn mein Mentor Rudolf Ullrich, war tot. Gestorben am 24.10.1977 und aufgefunden worden am Grab seiner Mutter. Fast jedes Mal, wenn wir uns sahen, sagte er: „Wenn ich mal nicht mehr bin,..“. Rudi Gottfried Ullrich war ein nervöser Mensch. Wenn er mir bei den Hausaufgaben half und ich etwas nicht gleich verstand, dann heulte er. Der Druck, mit ihm arbeiten zu müssen, war für mich als Kind erheblich. Nach meiner Geburt hatte er meinen Eltern angekündigt, dass er sein Leben lang für mich sorgen wolle. Anfangs wohnte er noch in seinem Haus in der Hugo-Preuß-Straße 18 1/2. Man fuhr mit der Straßenbahnlinie 3 zum Druseltal (Endhaltestelle) und lief ein Stück zurück, bis es auf der linken Seite eine Auffahrt hoch ging. Ullrich wohnte ganz oben. Er hatte mir in seinem Haus mal eine Sammlung aufgespießter Schmetterlinge gezeigt, was mir ziemlich unheimlich war. Vergessen werde ich allerdings nie, dass man von seinem Grundstück aus durch ein Tor direkt in den dahinter liegenden Wald gehen konnte. Wenn ich heute irgendwo einen namens Zilpzalp höre, muss ich daran denken. Dieser Wald erschien mir idyllisch und der Gesang dieses Vogels war dort fast immer zu hören. 
Ich weiß nicht, ob ihm das Haus von Anfang an gehörte oder ob er es von seinem Schwager, Karl Eisenberg geerbt hatte, jedenfalls verkaufte er es, um für meine Eltern ein Haus mit Garten in der Auerstraße 10 zu kaufen, in Absicht, sich dort unter dem Dach häuslich einzurichten und  im späteren Alter den Familienanschluss zu genießen. Das ging jedoch schief. Meine Mutter hatte nicht die Absicht, jemanden zu versorgen, mein Vater wollte sich nicht in die Gartenarbeit hinein reden lassen. Nach nur zwei Jahren waren Haus (heute würde man Doppelhaushälfte dazu sagen) und 800qm großer Garten waren für meinen Bruder und mich verloren. Ullrich hatte wieder einmal falsch investiert. Denn auch das Geld, was er einem Holländer für seine Unternehmung gegeben hatte, das sah er nie wieder. 
Er zog dann in eine kleine Wohnung in Wolfsanger, die zu einem größeren Wohnkomplex gehörte, in dem „Betreutes Wohnen“ angeboten wurde. Die Vorsorge war nicht ganz unbegründet. Rudi, wie ich ihn hier mal nenne, hatte bereits einen Herzinfarkt überstanden und litt an Leukämie. Auch im Wolfsanger besuchte ich ihn in einigermaßen regelmäßigen Abständen. Anders als mein Vater wollte ich nicht immer Geld. Wir unterhielten uns gut und waren vor allem politisch oft einer Meinung. Nun stand ich vor der polizeilich versiegelten Tür seiner Wohnung und musste unverrichteter Dinge gehen. Die letzte Postkarte, die ich ihm geschrieben hatte, fand ich später auf seinem Schreibtisch. Ob er sie noch gelesen hatte, das weiß ich nicht. Ich wollte ihn eigentlich ein paar Tage früher besuchen und hatte ihm geschrieben, dass ich den Termin nicht halten konnte und meinen Besuch verschieben muss. Eine Frau Köhler war ihm seit Jahren im Haushalt behilflich, ob sie meinen Vater, meinen Bruder Frank und mich in die Wohnung gelassen hat oder die Hausverwaltung, das weiß ich nicht mehr. Jedenfalls durften wir noch einmal hinein. Ullrich hatte mir versprochen, dass ich, wenn er einmal nicht mehr wäre, seine alten Komplettausgaben von Goethe und Schiller erben würde. Daraus wurde nichts, denn die Wohnung war von allem Wertvollen geräumt. An Literatur blieb mir nur ein kleines Reklamheftchen. Fast symbolhaft war es, dass Frank die Deckenlampe auf den Kopf fiel, während wir in der Wohnung noch nach brauchbaren Sachen suchten.


Es kamen noch zwei, drei persönliche Gegenstände dazu, aber das Wesentliche für mich war, dass, wie mir Sein Anwalt Dr. Dithmar mitteilte, ich bis zum Ende meiner Lehrzeit am 31.1.1978 weiterhin finanziell unterstützt werden würde. Ich hörte noch, dass die Familie wohl geäußert hatte, es sei schade, dass man den Jungen Mann, der so von Rudi unterstützt worden war, nicht kennengelernt habe. Bei der Beerdigung waren weder mein Vater, noch ich, anwesend. Rudi sprach immer davon, dass er verbrannt und anonym begraben werden wollte. Ich suchte Jahre später auf dem Kasseler Hauptfriedhof nach dem Gräberfeld.. Tatsächlich wurde die Urne im Familiengrab Eisenberg auf dem Friedhof in Kassel-Wahlershausen  bestattet.

Was bleibt, das sind die Stunden, in denen wir uns austauschten über die Welt allgemein und die Politik im Besonderen. Rudi Ullrich hat mir in entscheidenden Phasen meines schulischen Daseins geholfen. Später und auf dem Gymnasium ging es nicht mehr. Er war beruflich ein Techniker, der mit dem Rechenschieber genauso gut umgehen konnte, wie mit dem Zirkel. Er war vorausschauend, sprach Mikrochips, auf denen man etwas speichern konnte. Er schrieb manches auf seinem braunen Papier mit dem Soldatenkopf. Eine Evidenz für ein Soldatsein im zweiten Weltkrieg gibt es nicht. Ob es eine andere Frau als seine Schwester in seinem Leben gab, ist unbekannt. Meine Mutter vermutete einmal, er habe eine jüdische Geliebte gehabt. Ich habe lange gebraucht, um seine Rolle in meinem Leben für mich zu definieren. Er war mein Mentor und mein geistiger Vater. Wenn mein Vater gegenüber meiner Mutter oft von mir als „Dein Sohn“ sprach, hat mich das zeitweise sehr verunsichert. In der ersten Zeit der Bekanntschaft meiner Eltern hatte Mutter schließlich auch noch andere Verehrer. Aber zurück zu Rudi: er ist trotz seines beruflichen Aufstiegs ein einfacher Mann geblieben, der sich wenig leistete. Er trank nicht, er rauchte nicht. „Safety First!“, das war sein Motto. Das hatte er von der amerikanischen Firma übernommen, für die er mal gearbeitet hatte. Gereist ist er hauptsächlich in Deutschland. Die deutsche Teilung hat auch ihn getroffen. Er hatte Verwandtschaft in Thüringen, sein Geburtsort Asbach liegt nahe der hessischen Grenze bei Witzenhausen. Im Rahmen des kleinen Grenzverkehrs durfte er ab und zu den Eisernen Vorhang passieren. Die Dankbarkeit meiner Eltern für seine Unterstützung jedweder Art hielt sich in Grenzen, denn  stets wurden ihm unterschwellig irgendwelche Motive für sein Tun unterstellt. Damit hatte ich nichts am Hut.

Die Erinnerung ändert sich manchmal. In einem Text aus dem Jahr 1998 schrieb ich ein Portrait über ihn, dass kleine Abweichungen enthält. Sein Geburtsort ist allerdings wie oben stehend durch Urkunden belegbar.

https://wolfgang-dreyer.blogspot.com/2020/10/Der Ullrich kommt.html

Das Leben ging weiter, Kneipenbesuche mit Kollegen lockerten mein Leben auf und ich konnte froh sein, nicht wie meine Mutter es sich gedacht hatte, eine Beamtenlaufbahn eingeschlagen zu haben. Ich hatte mich bei etlichen Behörden beworben, ohne Erfolg. Zuletzt blieb noch eine Bewerbung bei der damaligen Wehrbereichsverwaltung IV, bei der mich mein Großvater, Gerhard Keßler, unterstützen sollte. Meine Mutter mochte ihren Vati, wie sie ihn nannte. Er war Amtmann und hatte sich seine Beamtenlaufbahn nach Ansicht seiner Familie durch seine Mitgliedschaft als Kassenwart bei der SA „versaut“. Sie Wirsing immer wieder auf unsere angebliche Ähnlichkeit hin, bis er sich breit schlagen ließ, meine Bewerbung zu unterstützen. Ich erhielt jedoch trotzdem eine Absage mit der Begründung, so einen Soldaten wie mich könne man nicht gebrauchen. Meine, von meinem Vater unterstützte und erfolgreiche Weigerung, für angeblich veruntreute Gegenstände der Bundeswehr, finanziell aufzukommen, war aktenkundig. Der Staat hatte zurück geschlagen trotz Protektion, von der ich allerdings nicht sicher bin, ob sie tatsächlich erfolgte.  Erfolgreich für mich war nur eine der wenigen Aktionen, wo mir mein Vater den Rücken stärkte.

Eines Abends saß ich beim Weihnachtsessen im Kollegenkreis in einer Wehlheider Kneipe. Bevor das Essen kam, gab es eine Runde Malteser-Schnaps nach der anderen. Ich hatte einen leeren Magen und mir wurde so schlecht, dass ich nach Hause gebracht werden musste, bevor das Essen kam. Da saßen nun gleich mehrere Mädchen in meiner möblierten Bude, ohne das ich davon etwas gehabt hätte. Ich konnte froh sein, den nächsten Tag wieder zu überstehen. Der Alkohol spielte sowohl bei Döll als auch in meinem Cliquenkreis um Thomas eine große Rolle. Ob es abendliche Kneipenbesuche mit Kollegen waren, die auch mal in einer Nachtbar endeten oder das feucht-fröhliche Weihnachtsfeiern in der Kneipe, viele tranken und ich vertrug zum Glück nicht so viel. Trotz meines Alleinseins waren meine Versuche, eine feste Freundin zu finden eher nicht existent. Die Alternative “Sex gegen Geld” war für auch keine. Auch meine Kollegen bei Döll konnten daran nichts ändern. Mit Wolfgang W., einem ehemaligen Z12-Soldaten der Bundeswehr stolperte ich durch die Bordelle im Frankfurter Bahnhofsviertel anlässlich einer Dienstreise. In einer Kasseler Bar sprach mich ein bezahltes Mädchen an. Sie war sehr hübsch Hund sehr nett. Aber ich zog mich sofort zurück, was sie offenbar schade fand. Sex ohne Liebe, das war keine Option für mich. Da feierte ich lieber mit meiner Clique, je unverbindlicher die Kontakte waren, desto besser. Im Sommer hatte unsere ganze gemischte Gruppe beiderlei Geschlechts noch zusammen auf einer Wiese gekickt, Nun hieß es, schnell von zuhause weg am Heiligabend und ab die Kneipen, die offen waren, Motto “Kreuzberger Nächte sind lang.” Ansonsten trafen wir uns öfter in der Wohnung von Thomas, Eines schönen  Abends saßen wir in froher Runde und hörten Rory Gallagher. Seine Musik ging mir direkt ins Blut. Musik sollte im nächsten Jahr noch wichtiger für mich werden. 
Ich sehe mich mit einem Aschenbecher im Takt auf den Tisch schlagend zur Live-Version von
 “Going to my  Hometown”. Musikalisch war ich aber auch bei Ian Anderson und Jethro Tull zuhause, Das war meine Stimme, so wollte ich singen und dieses Gefühl kannte ich: ^Skating away on the thin ice of the new day.”
















Samstag, 19. September 2020

MyLife 1971 - 1974

 Mittlere Reife und Wirtschaftsabitur / Wehrdienst 

Bis zur Abschlussfeier unserer Realschulklasse war ich bereits mit meinem ersten handschriftlichen Teil, der sich mit dem Erlebten von in 1955 bis hierhin beschäftigte, gekommen. 

Diese fand in der Wohnung unserer Klassenlehrerin, Frl. Schäfer, in der Kölnischen Straße statt. Sie war eine blonde, hochgewachsene, Frau, die viel von meiner Intelligenz hielt. Ich solle doch mein Wissen preis geben. Nur ich wusste allerdings, dass ich gar nicht soviel wusste. Mündlich war ich sowieso nicht stark und beschränkte mich auf das Notwendige. Ich war also schüchtern und zurückhaltend und auch meine Eltern trauten mir die Knutscherei mit Mädchen nicht zu, die am Abend des 10. Juli stattgefunden hatte. Ich jedenfalls war selig, obwohl mir ein Kamerad ein Bein in den weg gestellt hatte, als ich in ein anderes Zimmer von Fräulein Schäfers Wohnung eindringen wollte. Aber das mit dem Bein im Weg sollte mir in meinem Leben noch öfter passieren. Der Täter jedenfalls gehörte nicht zu den Jungen, die ohne Hemd küssenderweise von den Mädchen geduldet wurden. Dafür beobachtete mich der dicke Kerl in den nächsten Jahren immer, wenn ich von der elterlichen Wohnung zur Bushaltestelle ging. Er hing dann immer am Fenster einer Wohnung in der Meißnerstrasse in Helleböhn. 

Da meine Eltern mich abholten, verließ ich die Wohnung von Fräulein Schäfer allein und sollte das Fräulein (so nannte man früher Frauen, die unverheiratet waren) jedenfalls nicht wieder sehen. Die Klasse 10c, zu der ich gehörte, hatte geschlossen die Empfehlung für das Gymnasium bekommen. Die meisten entschieden sich für das humanistische Friedrichsgymnasium in Kassel. Ich dagegen wollte, auch nach Anraten meines Mentors Rudolf Ullrich, das Wirtschaftsgymnasium beglücken.

Doch zuvor kamen die langen Sommerferien und die Gewissheit, dass ich meine einmalig geküsste Jugendliebe Cony nicht wiedersehen würde. Liebeskummer kann qualvoll sein, vor allem wenn man dazu noch einen autoritären Vater hat, der die Familie in Angst und Schrecken versetzte, wenn er nach hause kam. Vater war nicht begeistert von meinen Plänen, auf ein Gymnasiums zu gehen, Mutter dagegen protzte mit meiner angeblichen Intelligenz bei ihrer in Mainz lebenden Familie herum.

Was ich nicht wusste, dass war, dass alle meine Mitschüler von der Realschule beim Friedrichsgymnasium  bereits als geieignet gemeldet waren und daher nicht in eine Aufnahmeprüfung mussten. Ich dagegen sollte mich erst Einer solchen Prüfung stellen, da keine Empfehlung für mich bei der Friedrich-List-Schule vorlag. Ich saß also in dieser Prüfung, hatte bereits ein schlechtes Gefühl, als plötzlich die Tür aufging und der Direktor der Schule, Herr Reichelt, mich aus dem Raum holte. Warum ich denn nicht gesagt hätte, dass meine Realschule mir attestiert hatte, dass ich für das Gymansium qualifiziert sei. Man habe dies von meiner Schule erfahren. Warum sie mit meiner Schule, der Anette-von-Troste Hülshoff-Schule, Kontakt aufgenommen hatten, war mit schleierhaft. Wenn ich heute so drüber nachdenke, war es vermutlich dem Umstand zu verdanken, dass meine Mitschülerin Cony ebenfalls das Wirtschaftsgymnasium besuchte, was ich bald erfahren sollte. Konnte ich mir was darauf einbilden? 

Meine Eltern räumten für die Dauer meiner Gymnasialzeit ihr Schlafzimmer und schliefen im Wohnzimmer. Jeden Abend klappten sie dort die Wohnzimmercouch aus. Trotz allem vorgegebenen Stolz schickte mich meine Mutter zum Einkaufen. In erster Linie waren dies Alkohol und Zigaretten, so wie früher aber in steigender Menge. Aber zunächst mal war ich froh, mich zurück ziehen zu können, denn mein jüngerer Bruder klebte wie eine Klette an mir, konnte aber manchmal auch recht aggressiv werden.

In „meinem Zimmer“stand nun eine Musiktruhe, Radio, Plattenspieler und Fernsehen in einem und Stereo. es entstanden hier viele meiner Bleistiftzeichnungen und auch Tagebucheinträge. Später hatte ich dann noch einen aufklappbaren Plattenspieler. Da hörte ich meine Musik. Ein Bekannter meiner Eltern meinte, das sei keine Musik. 



Aus England hatte ich eine Doppel-LP der Beatles mitgebracht. Die hörte ich sehr gern und versetzte mich dabei gern in die Rolle eines Sängers, George Harrison war mein Favorit. Naturgemäß hatte mich die Auflösung der Beatles getroffen. Mittlerweile ich war aber auch bei Deep Purple gelandet (Fireball). Soul und Blues waren ebenfalls auf meinem Programm. Die englischen Texte der Songs brachten meine ohnehin vorhandene Affinität zur englischen Sprache voran. So war dies neben Geschichte das einzige Hauptfach, in dem ich mit einer Zwei benotet wurde. Das es keine Eins wurde, das lag an meinem verhaltenen mündlichen Fähigkeiten. Während andere Mitschüler einfach drauf los plapperten, meldete ich mich nur, wenn ich ganz sicher war, das Richtige zu sagen, Leider waren sich dann meistens auch andere sicher. Sicher war ich mir auch in Bezug auf  Conny nicht. Sie wurde von vielen umschwärmt, was mich misstrauisch machte. Es war natürlich kein Wunder, dass alle sie ansahen. Ihre frauliche Figur kam in Hotpants und Overknee-Stiefeln sehr gut zum Tragen. Dazu blonde und später grau gefärbte Haare, geht für einen pubertierenden Jungen mehr? Wir flirteten fast drei Jahre lang mit den Augen und so mancher Blick hat mich getötet. Es brachte mich jedoch nicht dazu, sie anzusprechen. Auch als sie mal bei einer Wanderung hinter mir zum Ausdruck brachte, dass sie einen Jungen aus ärmeren Verhältnissen nehmen würde, gab mir das nicht mehr Selbstbewusstsein. Sie hat das aus ihrer Sicht mit Recht später kritisiert, ja gebrandmarkt. Klar war nur eins, die meisten Mitschüler kamen aus besseren Verhältnissen als ich. Sie als Tochter eines Bauunternehmers interessierte sich und schrieb einmal über Bertolt Brecht, Die heilige Johanna der Schlachthöfe. Das imponierte mir sehr. 

Nach sechs Stunden Schule kam ich meistens völlig kaputt und hungrig zuhause an. Manchmal ging ich jedoch mit zwei Schulkameraden in die Stadt zum Poolbilliardspielen. Sie wurden mir zu Freunden fast bis zum Ende meiner Kasseler Zeit. Beide kamen aus einfacheren Verhältnissen. Bernd O. hatte jedoch den Vorteil, Einzelkind zu sein. Gerhard T. ebenfalls. Wir hatten einige ältere Schüler in unserer Klasse, die über den zweiten Bildungsweg (Hessenkolleg) die Mittlere Reife gemacht hatten. Sie waren rhetorisch meist vorn, kamen aber als Freunde kaum in Frage.

Unsere Lehrer waren ein Stück Zeitgeschichte. Der Direx Reichelt gab ab und zu noch Unterricht in kaufmännischen Rechnen, Er empfahl uns nebenbei, wenn wir mal einen guten Rotwein trinken wollten, den Château-Neuf-du-Pape, was uns damals noch nicht sehr interessierte. Zu den älteren Lehren zählte auch Dr. Arnold. Er unterrichtete Volkswirtschaftslehre und war Buchautor. Wenn er mal keine Lust hatte, ließ er uns einfach in seinem Buch lesen, während er vorn am Pult vor sich hin dämmerte. Das waren Stunden der leichteren Art. In Deutsch hatte ich ein besonderes Kaliber: Herr Maraun. Der wird mir auf immer in Erinnerung bleiben mit der bedeutsamen Frage: „Sind Sie eigentlich so blöd oder tun Sie nur so?“ Tja, schwere Frage. Aber damit waren die Weichen gestellt. Ich tänzelte am Abgrund, denn ich war stets in Gefahr, eine Fünf zu kassieren und ich auch in Mathe schlecht stand, waren Versetzung und Abi immer gefährdet. Die gute Mann spielte im übrigen Orgel nach eigenem Bekunden in einer ebenfalls eigenen Kapelle. Aber er wurde übertroffen von unserem Mathelehrer Hugo Habicht, so nannten wir ihn wegen seinem Haarkranz. Den richtigen Namen habe ich vergessen. Im letzten Schuljahr vergaß ich nie, das Klassenzimmer zu verlassen, wenn Mathe auf dem Plan stand, was in den letzten Zeugnissen mit einer Fünf belohnt wurde. Der Lehrer hatte kein pädagogisches Talent und auch nicht den Willen, schlechteren Schülern etwas beizubringen, einfach langweilig diese Dialoge mit seinen Lieblingsshülern. Besser lief es für mich in BWL. Hier hatte ein Herr Schmidt mit Kinnbart das Sagen und er ließ uns an seinen sozialdemokratisch geprägten Ansichten über die Wirtschaft teilhaben. Obwohl auch BWL sehr mathematisch sein kann, kam ich gut mit und es reichte für eine Drei im Abiturzeugnis. Ein anderes Hauptfach lag mir noch besser: Englisch. Obwohl ich von Grammatik wenig begriff, machte ich gefühlsmäßig vieles richtig. Vor allem meine Aussprache war gut, das merkte auch Frau Wächter, bei der wir auch Geschichte hatten. Meine Auslandsaufenthalte in England, zuletzt 1972, waren also doch nützlich. Finanziert hatte sie Rudolf Ullrich, für uns in der Familie „der Ullrich“. Er war von Beruf Ingenieur, Selfmademan mit Kontakt nach USA. Seine Nichte Jackie (lebte mit ihrer Familie in Detroit) wollte er mir gern vorstellen, zu sehen bekommen habe ich sie nie. Dafür hatte ich neben Englisch in der Ferienschule in Poole/England die kurzen Röcke der Frau meiner Gastgeberfamilie gesehen. Aber das ist eine andere Geschichte. Geschichte wurde ebenfalls von Frau Wächter unterrichtet und immerhin kamen wir bis zum Ersten Weltkrieg und ich zu einer weiteren Zwei im Abi. Aus Quellen der Bundeszentrale für politische Bildung konnten wir im Unterricht heraus arbeiten, dass Kaiser Wilhelm II. ganz offensichtlich den Krieg wollte und das deutsche Reich somit nicht einfach so herein geschlittert ist. Die Auswertung der einzelnen Quellen fand ich sehr aufschlussreich, dieErkenntnis war für die Siebziger Jahre nicht so selbstverständlich. Meine Hausarbeit für das Abitur schrieb ich über „Die Emanzipation der Afroamerikanier durch ein sozialistisches System“. Das sollte mir später nicht nützen. Es entsprach durchaus dem Geist der Zeit, sich für Mindeheiten einzusetzen und die Geschehnisse in den USA beschäftigten mich sehr. Ich las Eldridge Cleaver, Soul on Ice etc. 

Da baute ich nun mit der Durchschnittsnote 3,4 mein Wirtschaftsabitur. Das brachte mir die allgemeine Hochschulreife ein und eine ungewisse Zukunft. Krasser als mein schulisches Dasein konnte ein Unterschied zum Leben zuhause nicht sein. Mein Vater schwärmte bereits vom Barras für mich und der Kampf um meine langen Haare sollte bald entschieden werden. Als Soldat müsste ich mir die Haare schneiden lassen. Bereits im Mai 1974 endete mein Schülerdasein und auch das mir großzügig überlassene  Elternschlafzimmer ging wieder in die eigentliche Bestimmung über. Trotz aller Schwierigkeiten, die ich zuhause hatte, wollte ich auch als Rekrut in Kassel bleiben und stellte einen Heimschläferantrag, der auch genehmigt wurde. Gemustert war ich bereits und leider auch für tauglich befunden. Warum einem dabei in den Hintern geguckt wurde, ist mir bis heute schleierhaft. Die Bundeswehr glaubte, aus Abiturienten Offiziere machen zu können. Wenn sie mein sportliches Unvermögen gesehen hätten, wäre ihnen dieses Unterfangen komisch vorgekommen. Im Sportabitur brauchte ich für 3000m über 25 Minuten und mir war am Ende schwarz vor Augen.

Die Zeiten waren also ungewiß für Mischung die Zeit sollte noch einmal stehen bleiben, als sich unsere Abiturklasse noch einmal traf. Ich wußte, dass dies unwiderruflich das letzte Mal war, dass ich Conny sehen würde. Wir saßen in großer Runde, fast wie im Klassenzimmer in einem separaten Raum eines Lokals an der Querallee. Der Abend war schon fortgeschritten, Alkohol genug getrunken, als irgendwann ein Satz von ihr fiel, der mich traf. „Das Schwein ist ja so unauffällig.“ Wenn es ironisch oder enttäuscht gemeint war, ich konnte damals nichts damit anfangen. Sehr schnell verließ ich den Ort meiner Blamage und flüchtete nach hause, wo mich mein Vater später mit offenen Augen schlafend im Bett liegend fand. Bei Licht..Mein Liebesgebäude war eingestürzt, sie hatte mich lächerlich gemacht. Ich war nicht mehr der große Held, der Liebende im Hintergrund, der aus was?  wartete. Ich war ein harmloser Trottel. Das änderte in der Folgezeit nichts an einer vagen Hoffnung des Wiedersehens, die sich erst mit den Jahren legte. 

Mein Vater indes schuf wieder einmal Tatsachen: „Du bleibst in der Kaserne.“ Damit war die Heimschäferei vom Tisch. Nur am Wochenende durfte ich kommen. So zog ich denn am 1.7.1974 in die Lüttich-Kaserne Kassel, in der nur ein paar Jahre zuvor noch belgische Soldaten stationiert waren. Eine dreimonatige Grundausbildung bei den Funkern stand an. 

Diese Ausbildung sollte sich schon bald als für mich ungeeignet erweisen. Hatte ich mich gerade damit abgefunden, meine Individualität in der Kleiderkammer abgegeben zu haben und die Haare kontrolliert kurz tragen zu müssen, fehlte mir beim ein oder anderen körperlichen Drill die Kraft. Ich konnte nicht eine Holzwand hoch steigen und auf der anderen Seite herunter springen, geschweige denn mich irgendwo hoch ziehen. Ein Ausbilder formulierte das mal so: „Dreyer, irgendein Klops ist immer dabei.“. Neben den verschiedensten Leibesübungen, gern auch im Gelände der naheliegenden Dönche, wurden wir an fast allen Waffen, inklusive der Panzerfaust ausgebildet. Die Standardwaffe war jedoch das Schnellfeuergewehr G3, dass auch auf Einzelschuss eingestellt werden konnte. Das spielte bald eine tragende Rolle. Als wir auf dem Truppenübungsplatz in Schwarzenborn ein Nachtschießen mit dem Infrarotzielgerät durchführten, machte mich der Aufseher am Schießstand derart nervös, dass ich einen Handgriff vergaß und das Gewehr nicht gesichert, aber mit scharfer Munition geladen war. Die Folge war, dass sich ein Schuss in die Dunkelheit löste. Schreckensbleich kam der Unteroffizier aus dem Dunkel gerannt, der war gerade mit dem Auswerten der Schießergebnisse an der Scheibe beschäftigt gewesen. Ich wurde nun zur Sau gemacht, nicht etwa die Aufsicht. Zur Strafe durfte ich nun Wache schieben, damit war ich noch gut bedient. Aber meine Karriere als Funker war nach der Grundausbildung vorbei. Ich wurde zum Jägerbatallion 42 in die Wittichkaserne versetzt und tauschte das Schiffchen gegen ein grünes Barett ein. Mein Vater hätte mich zu gern in der Ausgehuniform gesehen, die ich  gezwungenermaßen bei der Formalausbildung tragen musste. Über den Sinn mancher militärischen Gebräuche bin ich mir im Grunde bis heute nicht im Klaren. Zwar fand ich den Radetzkymarsch toll, wenn er in alten Filmen gespielt wurde und vor allem die Idee und vollem Wichs mit der ganzen marschierenden Truppe manches Mädchenherz zu begeistern, aber in der Realität erschien mir das alles sehr nervend. Vater selbst war nie beim Militär. Als Jahrgang 1929 hatte er das Glück, nicht mehr in Hitlers letztes Aufgebot berufen zu werden. Seine beiden Halbbrüder jedoch, dienten beide. Der Lieblingsbruder Wolfgang, dessen Name ich trage, liegt am Gardasee auf dem Soldatenfriedhof in Costermano begraben. Er fiel nach einer Verletzung, die er bei der Schlacht um Monte Cassino erlitten hatte, einem alliierten Bombenangriff in einem Krankenhaus in Rom zum Opfer. Während der überlebende Bruder seine Kriegserlebnisse durchaus melancholisch vearbeitete, in dem er ein Gedicht dazu schrieb, war die Begeisterung meines Vaters für das Militär ungebrochen. So war sein Ansinnen, dass ich mich verpflichten sollte, nur logisch. Doch da fiel mir eine patente Lösung ein. Ich behauptete einfach, ich hätte wegen einer Verpflichtung als Zeitsoldat nachgefragt, man hätte dies aber abgelehnt Vater glaubte das, sein Vertrauen in mich war sowieso nicht besonders. 

Meine soldatische Wirklichkeit stand im krassen Gegensatz zu seinen Vorstellungen. „Tapfer und Treu“ war das Motto des Jägerbatallions 42, dem Verein, dem ich bis zum Ende meiner Dienstzeit angehören sollte. Die Jäger waren laut Theorie eine Eliteeinheit, die hinter den feindlichen Linien operieren sollte. In der Praxis waren es die „Spatenpaulis“, die so genannt wurden, weil sie ständig im Gelände unterwegs waren. Entsprechend körperlich gebaut waren die meisten Kameraden, nur leider war der Verstand weniger ausgeprägt vorhanden. „Kung-Fu Fighting“ war ein Hit des Jahres und das war das, was viele auch wollten. In der Gesellschaft dieser Keuler ging meine Seele vollends baden. Mich als langen Lulatsch hatte nan schnell zum MG-Schützen auserkoren. Mit dem MG3 auf der Schulter ging es oft durch die Wälder rings um Kassel. Zu mehrtägigen Übungen wurde oft herausgefahren. Die in der Kaserne gebliebene Besatzung hatte dann oft mit scharfer Munition Wache zu stehen. Beides begeisterte mich nicht besonders. 

Ich war froh, in meiner knappen Freizeit, noch den Kontakt zu meinen beiden Kumpels Bernd und Gerhard T. zu haben. Wir wollten Bluesmusik machen und Bernd war so etwas wie der Leader der Truppe.

Inoffiziell hatten wir den Namen „Blues Unlimited“ und spielten in einem Raum über einer Autowerkstatt in der Weserstraße. Musiker wie John Mayall oder Alexis Korner war unsere Heroes. Und damit war meine Lebensrealität anno 1974 weit weg von irgendwelchen Kasernen.