1975 - 1977 Bundeswehr / Lehre
Das Jahr 1975 war in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt. Zum 1. Januar wurde ich per Gesetz volljährig, da das Alter hierfür von 21 auf 18 Jahre herab gesetzt wurde. Nach einem halben Jahr Wehrdienst war ich nun Gefreiter. Das bedeutete allerdings lediglich, dass ich nun als GvD den Unteroffizier vom Dienst UvD vertreten und damit morgens der Kompanie in den Fluren das obligatorische „Kompanie aufstehen“ zurufen durfte. Zwar machte mir das Marschieren im Gelände nicht viel aus, ich schoss auch passabel, Aber es passierten immer wieder Fehler. Das Funktionieren auf Kommando funktionierte nicht bei mir und körperlich war ich vielen Kameraden unterlegen. Ein Offenbacher Kamerad mit dem Namen Knust machte sich über unsere nordhessische Aussprache lustig und schikanierte mich damit. Es war nicht der einzige Vorfall. Irgendwann wurde in der Stabskompanie ein Wäschekellerwart gesucht. Die Wahl fiel auf mich. Doch das machte die Situation nicht leichter. Zwar konnte ich nun nach dem morgendlichen Appell in meinen Keller weg treten, um meine Zeit abzusitzen, aber ich war nun viel öfter mit Wachestehen dran. Das bedeutete oft auch Wochenenddienst, noch weniger Zeit zuhause. Die Rückkehr am Sonntagabend (bis 22 Uhr) war der blanke Horror. Angstzustände plagten mich den ganzen Abend, oft hatte ich das Gefühl, gar nicht mehr bei mir zu sein, völlig zu zerfallen. Ich musste mir Tabletten holen, den Namen des Medikaments habe ich vergessen. Es war im übrigen nicht selten, dass sich Soldaten selbst das Leben nahmen. Paradoxerweise war ich Sonntagabends meist einer der ersten, der in der Kaserne eintraf. Die meisten meiner Stabskollegen trudelten später ein oder waren Heimschläfer. Ich fand schon einmal ein Stück Kochwurst, die auf der Türklinke platziert war, Einer dieser Stabskameraden war ein fetter ekliger Kerl. Er lies überall seine Pornoheftchen herum liegen, deren Sinn mir nicht klar war. Ich fand sie zum Kotzen. Mein Dienst bestand nun darin, zu bestimmten Zeiten, frische Bettwäsche und andere benötigte Artikel wie Schnürsenkel für die Springerstiefel auszugeben. Ich selbst hatte nur die gewöhnlichen Knobelbecher an. Ab un an musste die dreckige Wäsche dann zum Magazinhof gefahren werden, wo es auch alle anderen Utensilien für die Soldaten gab. Konnte ich alles Gewünschte besorgen, stand ich gut da, wenn nicht, wurde gemeckert. Ich hatte den Gesamtbestand ohne Inventur übernommen, ein Fehler, der sich noch rächen sollte.
Kehrseite meiner Versetzung in die Stabskompanie war das häufige Wache schieben, entweder am Kasernentor oder als Streife im Munitionslager Ehlen. Besonders wenn die Truppe zu Übungen draußen war, gab es viele Einsätze, oft jeden zweiten Tag. Der Ablauf war immer gleich: von 12 Uhr mittags bis 12 Uhr mittags am Folgetag im Rhythmus zwei Stunden Wache, zwei Stunden Bereitschaft und zwei Stunden Schlaf (nachts). Am Tor musste man die meist per Auto Ankommenden militärisch grüßen, kontrollieren und dann, wenn alles in Ordnung war, die Schranke öffnen. Immer spielte die Angst mit, den Falschen zu kontrollieren, eine höheren Dienstgrad, den man kannte, den hatte man durchzuwinken. Im Munitionslager lief man Doppelstreife mit scharfer Munition, das Ganze war etwas mulmig, da zu dieser Zeit die RAF auch Einrichtungen der Bundeswehr, insbesondere auch Munitionslager angreifen konnte. Es ist ein paar mal geschehen, aber wir hatten Glück. Ich hatte mit dem permanenten Wachdienst schon so meine Probleme. So kam es dann zu einem Zwischenfall, als nach dem Ende eines Wachdienstes um 12:00 Uhr mittags die Gewehre noch mal zur Übergabe gesichert werden mussten. Dabei hat sich anscheinend bei meinem Gewehr wieder ein Verschluss nicht richtig verriegelt. Jedenfalls löste sich bei der Kontrolle ein Schuss, der in die Luft ging und niemanden gefährdete. Das Malheur hätte mich allerdings trotzdem auch in den Bau bringen können. Ich hatte insofern Glück im Unglück und wurde „nur“ mit zusätzlichen Wachdiensten bestraft, getreu dem Prinzip „Lerning by doing“. An sich lief ich lieber Streife im Munitionslager Lager, weil man da seine Ruhe hat vor irgendwelchen Vorgesetzten und keine Kalamitäten mit angeblich fälschlicherweise kontrollierten Personen. Meine Zeit bei der Bundeswehr kann ich durchaus als verlorene Zeit bezeichnen, da sich im Jahr 1975 die Situation am Arbeitsmarkt geändert hatte. Von der Zeit der Vollbeschäftigung ging es nun los mit erhöhten Arbeitslosenzahlen. Statt ungefähr 200.000 Arbeitslosen waren es bald so circa 800.000 und das erschwerte mir natürlich die Suche nach einer Lehrstelle. Die musste ich ja parallel zu den zu der letzten Zeit bei der Bundeswehr erledigen. Gelernt habe ich das Schießen mit allen Waffen: Panzerfaust, MG3, G3, Uzi (Maschinenpistole und Pistole. Wirklich beeindruckt hat mich die Uzi, mit der man praktisch ohne Rückstoß aus der Hüfte Dauerfeuer schießen kann. Eine israelische Entwicklung, sie soll auch dann noch einsatzfähig sein, wenn sie in den Dreck gefallen ist. Aber was half mir das für den Alltag und schon gar nicht für meine musikalischen Ambitionen.
Meine Bundeswehrzeit sollte natürlich auch noch mit einem kleinen Knallbonbon enden. Ich wurde bei der Übergabe meines Wäschekellerbestandes beschuldigt, dass etwas abhandengekommen sein sollte. Ich konnte schlecht das Gegenteil beweisen, weil ich ja keine Anfangsinventur mit erlebt habe und man verlangte nun von mir auch nachträglich noch durch die Bundeswehrverwaltung die Bezahlung dieser angeblich verloren gegangenen Gegenstände. Das muss man sich vorstellen, die Verwaltung wollte Geld von mir, obwohl ich nur mein Entlassungsgeld hatte und keineswegs klar war, ob ich im Anschluss selber Geld verdienen würde. In der Rückschau muss ich sagen, nicht nur dieser letzte Punkt hat mich zu einem Gegner des Militärdienstes gemacht. Es war zwar damals, also 1974/75, schon die Rede von moderner Menschenführung, aber in der Praxis wehte der preußische Geist durch die Kasernen.
Ich selbst sah mit eigenen Augen, wie Kameraden, die körperlich noch schlechter dran waren als ich, geschliffen und kaputt gemacht wurden. Es ging nicht darum, die am besten geeigneten Soldaten für die zugedachte Aufgabe zu finden, sondern um unbedingten Gehorsam, auch wenn es keinen Sinn machte. Im Ernstfall verliert man so Kriege, das zeigt unsere deutsche Geschichte eindrucksvoll.
Ich habe ja bereits geschildert, unter welchen Umständen ich mich zuhause befand. „Mein Zimmer“ war wieder ein Elternschlafzimmer und ich sollte nun wieder mit meinem allmählich pubertierenden Bruder in einem Zimmer schlafen. Privatsphäre gleich Null. Mit dem 30.9.1975 steckte ich in neuen Schwierigkeiten.
Meine Lehrstellensuche war sehr schwierig gewesen, wenngleich erfolgreich. Mein Kumpel Bernd O. formulierte einmal „Alle haben gesucht, einer hat gefunden.“ Die Situation war mittlerweile so, dass mit einem mittelmäßigen Abitur Abschluss keine guten Lehrstellen zu bekommen waren. Viele Bewerbungen gingen ins Leere, beziehungsweise ich bekam die Stellen einfach nicht. Ich konnte dann ein Volontariat bei der Buchgroßhandlung Döll beginnen. Würde ich mich bewähren, so bekäme ich eine dar. Diese Firma wurde mir allerdings von meinem Mentor, Rudolf Ulrich, nicht gerade empfohlen. Er war sogar dagegen, als ich dort anfing. Ich sah keine andere Möglichkeit , um sozusagen selbstständig werden zu können und das war für mich eine zwingende Notwendigkeit, Denn ich musste Geld verdienen. Nur so konnte ich mir den Auszug aus der elterlichen Wohnung erlauben. Denn mein Vater war ja der Meinung und sagt es mir ganz deutlich: „Für dich nehme ich mir keine größere Wohnung.“ Aber er vertrat noch andere Meinungen. Zum einen wollte er mir von meinem eventuellen Verdienst ein Taschengeld zuteilen, zum anderen mir die Offenlegung seines Verdienstes für den Bafög-Antrag verweigern. Somit wusste ich, es gibt für mich nur den Weg zu Hause auszuziehen. Ich wusste aber auch, dass das Lehrgeld dafür nicht ausreichen würde. Helfen könnte mir hier unser Freund der Familie, der „Ullrich“, der war gegen den Beginn einer Ausbildung bei Döll, weil dort ein angeblich Schwuler arbeitete.
Um also diesen Auszug von zu Hause finanziell stemmen zu können, brauchte ich die finanzielle Unterstützung ab dem Beginn meiner Lehre. Zunächst hatte ich ab 1. Oktober das Volontariat für vier Monate und bekam ich circa 800 DM im Monat. Die kam nun, nach einem Gespräch mit meinem Vater, von meinem Mentor Rudolf Ulrich. Mein Vater und ich lösten so unsere gegenseitigen Meinungsverschiedenheiten. Zu meiner großen Erleichterung zahlte mir Rudolf monatlich einen Betrag von circa 400 €, solange ich in der Ausbildung war.
Ja, damit waren die Weichen gestellt und ich suchte mir ein möbliertes Zimmer in Kassel. Mein Vater hatte eigentlich vorgehabt, mir eine geeignete Unterkunft zu suchen, weil er der Meinung war, das richtige würde ich wohl nicht finden. Ich war aber schneller und unterschrieb einen handschriftlichen Mietvertrag bei Herrn Faustig in der Kölnischen Straße. Das war ein Altbau und ein Zimmer mit hohen Wänden und einem Waschbecken drin. Es gab eine Gemeinschaftstoilette. Sehr viel habe ich von zu Hause nicht mitgenommen, ein paar Bestecke, meine Kleidungsstücke, also mein Besitz war jedenfalls überschaubar. Meine Lehre im Ausbildungsberuf Buchhändler konnte jedenfalls am 1.2.1976 beginnen. Ich war mittlerweile auch umgezogen.
Mein Vermieter muss früher ein stattlicher dunkelhaariger Mann gewesen sein. Nun war er grau bis weißhaarig, besaß einen Collie und hatte einen Faible für klassische Musik. Ich saß in meinem hohen Zimmer und studierte die STVO für meine Führerscheinprüfung. Das Entlassungsgeld von der Bundeswehr sorgte für die Finanzierung. Ich roch nun an der Freiheit. Entdeckte günstigeLebensmittel im städtischen Discounter, gehe mit meinen Kumpels im fußläufig erreichbaren Studentenlokal, dem „Hobel“ abends mein Bier trinken und besaufe mich eines Abends mit dem anderen Miter der Wohnung Faustig mit einer großen bauchigen Flasche Sangria. Gerhard T. Ist noch immer arbeitslos, Bernd O. studiert, mittlerweile in Göttingen und kennt die Jutta. Die meint, als ich meine Führerscheinprüfung bestanden hatte, dass ich ihr Auto fahren könne. Damit steht sie erst mal allein da. Mein Vater will mir seinen Wagen nicht anvertrauen. Dabei hatte ich nur zwanzig Fahrstunden gebraucht, die Prüfung aber vorsichtshalber auf einem Automatic-Auto, einem VW 1600, gemacht.
In der Firma bestätigt sich die Befürchtung Ullrichs bezüglich des Rufs. Es geht recht locker zu. Dabei war der Chef ein ehemaliger U-Boot-Fahrer, der von seinem Hinterzimmer einen guten Blick auf den Hof hatte und er sah sofort, wenn Lieferungen ankamen. Ich war zunächst mal dem Lagerleiter zugeordnet. und meine Aufgabe war es, die Pakete auszupacken, die Vorbestellungen von Kunden zuzuordnen, sogenannte „Verzettelungen“, und natürlich die Lieferscheine mit dem tatsächlichen Eingang gegen zu haken. Über eine Wendeltreppe stürmte mein Chel, ein Herr Fuchslocher, zu mir herunter und schlitzte mit einem abgebrochenen Messer die Pakete auf und warf mir die Bücher auf den Packtisch. Er muss sich wie ein U-Boot-Kommandant gefühlt haben und das wär seine Lieblingsbeschäftigung. Er rief mir dann die Zahlen zu und ich hatte zu reagieren. Dann wurden die Sendungen ans Lager geschickt bzw. die Vorbestellungen zur Fakturierung gegeben.
Ansonsten merkte ich schnell, dass ich einen Beruf gewählt hatte, in dem das weibliche Geschlecht in der Überzahl war. Vorerst blieb das für mich ohne Folgen, auch wenn Monika Schäfer reimte: „Herr Dreyer, mein Befreier.“ Ich hatte mich erst mal selbst zu befreien. Das spitzbübische Gesicht von Frl. Kanne aus der Bestellabteilung/Taschenbuch bleibt in meiner Erinnerung, sie flirtete gern und ich genoss das. Der Umgang mit den Kollegen war auch sehr locker. Mittags wurde meist bei ein paar kleinen Bieren und Bockwurst mit Brötchen im Göttinger Hof bei Herrn Machmar Skat gedroschen. Da ich selten alle Karten behalten konnte, die schon gespielt waren, war ich gegen die recht professionellen Spieler meist nicht sehr erfolgreich. Alles in allem lief also alles recht gesellig ab. In der Berufsschule kam ich gut mit dank meiner kaufmännischen Schulausbildung.
Ich mag ein Jahr bei Herrn Faustig gewohnt haben, ich suchte mir selbstständig eine neue Bleibe und wohnte danach in der Friedrich-Ebert-Straße 145. Ich lebte schon ziemlich selbstständig, wusch Unterwäsche und Strümpfe im Handwaschbecken selbst, hatte ja nun eine Naßzelle zur Verfügung und brachte größere Wäschestücke zur Wäscherei Welschers, die ich schon seit Kindertagen kannte. Lediglich zum Mittagessen fuhr ich sonntags zu meinen Eltern, die sich dafür bezahlen ließen. Ich war im Grunde jedes Mal froh, wenn ich die angespannte Atmosphäre der elterlichen Wohnung in Helleböhn verlassen konnte. In Helleböhn war ich nie heimisch gewesen, nun war ich wieder im Vorderen Westen der Stadt ansässig. Da wo ich einst aufgewachsen war, in der Nähe des Bebelplatzes.
Das Jahr 1977 änderte so einiges für mich. Bisher war ich hauptsächlich mit meinen Kumpels Bernd O. und Gerhard T. unterwegs gewesen. Durch Bernd hatte ich in Göttingen eine mit Bassseiten bespannte Gitarre kaufen können. Das kam mir sehr entgegen, denn ich wollte einen harten, melodischen Bass spielen. Jack Bruce war mein Vorbild, Ein paar Bluesgriffe hatte ich von Bernd gelernt, der quasi als Leadgitarrist bei uns fingierte und am ehesten halbwegs Gitarre spielen konnte. Zu uns kam noch als Rhytmusgitarrist Lothar A., auch er war nicht besonders musikalisch begabt. Unser Schlagzeuger, Gerhard T. trommelte meist hinter uns her, anstatt den Takt vorzugeben. Unsere Musik hörte sich an, als ob wir vor dem Schlagzeug wegliefen. Unsere Sessions verewigten wir auf etlichen Tonbändern. Einige waren internem Besitz, Vater hat sie Jahrzehnte nach meinem Auszug grußlos und ohne zu fragen vernichtet. Seine gefärbten Hände nach dem Abwickeln des Bandmaterials von den Spulen bleiben mir wohl immer in Erinnerung. Unser Repertoire war sehr eingeschränkt, neben stundenlangen Bluessessions, spielten wir mal was von Pink Floyd und mal was von Credence Clearwater Revival, Bad Moon Rising. Ich übernahm den Gesangspart dank Gestell mit Mikrofon. Wie gut alles hätte klingen können, das erfuhren wir, als mein Jugendfreund Detlef Glänzer mal das Schlagzeug übernahm. Er spielte in einer Tanzkapelle und verstand sein Handwerk. Als mit Wolfgang R. ein guter Gitarrist eine Gastrolle übernahm, machte mir mein Bass auf einmal Spaß. Das er bei mir als einzigem Stammmitglied ein gewisses Talent saht, ehr mich noch heute und überraschte mich damals sehr. Im Großen und Ganzen denke ich aber das, was mein Onkel Siegward einmal sagte: die Musik soll man denen überlassen, die es können. Wir hatten während der ganzen Zeit eine Zuhörerin, das war die Feundin von Lothar A, Karin G.
Unsere Übungsstunden endeten meistens im Ysenburg-Eck bei Currywurst mit Pommes und Bier. Dennoch hatte ich nicht mehr soviel Zeit. Durch meine neue Wohnlage ging ich nun öfter ins Kneipenviertel an der Goethestraße mit den Studentenkneipen „Knösel“ und „Fiedel“.Wenn hier der Abend noch nicht zu Ende gehen sollte, ging es weiter in die „Hacienda“ in der Schönfelder Steaße. Dort konnte ich auch ohne Freundin tanzen. Es wurde getrunken, geraucht (nicht nur Zigaretten) und ich war dabei. Fremde Mädchen anzutanzen und hinterher wortlos die Bühne für das nächste Bier zu verlassen, es war das Größte für mich. Gegenüber gab es Knoblauchspieße für den Hunger zwischen durch. Und alles konnte ich fußläufig erreichen. Stairway to heaven, die Stimme von Robert Plant hätte ich auch gern gehabt.
Tatsächlich trug die Gesamthochschule Kassel viel dazu bei, dass studentisches Leben in die etwas miefige und autoritätshörige Arbeiter- und Beamtenstadt kam. In der „Fiedel“ trafen sich Einheimische und auswärtige junge Leute beim Apfelwein, beim Appelkorn und dem Licher Bier jeder nach Belieben. Manchmal gab es Livemusik, im Sommer stand man draußen, man hörte Bernies Autobahnband zu und irgendjemand baggerte immer. Ich hatte neue Bekannte, letztlich eine ganze Clique netter Typen nebst manchmal weiblichen Begleiterinnen. Mein Star war für mich Thomas K., ein kleiner Dunkelhaariger mit Schnäuzer. Sein Grinsen fand ich ebenso legendär wie seinen Verdienst. Ich habe mir, glaube ich, später nur deswegen mir mühselig einen Schnauzbart wachsen lassen, weil er einen hatte. Auch das lässige Hochziehen des Oberlippenbartes beim angedeuteten Grinsen schaute ich mir von ihm ab. Er hatte eine sehr nette Freundin namens Urta, die aus dem nordhessischen Umland stammte. Jedes Mal, wenn ich durch Jesberg fahre, muss ich dran denken. Thomas fuhr einen weißen Minicooper, arbeitete bei der Labdeskreditkasse und verdiente dort laut eigener Aussage 2000,- DM. zudem wohnte er in Wehlheiden, einem Stadtteil, den ich recht anheimelnd fand (ebenso seine Altbauwohnung). Für mich waren die Kneipenkontakte das Leben, möblierte Zimmer sind nicht besonders aufregend, wenn man allein ist.
Im Sommer wollte ich erstmals allein in Urlaub fahren. Nun lockte mich die weite Welt, die hieß Norddeutschland. Mit Rucksack machte ich mich auf den Weg, mir schwebte es vor, Karin G., die Freundin unseres Gitaristen Lothar A. in Grömitz zu besuchen, wo sie in den Freien jobbte. Ein Ziel braucht man schließlich. Ich trampte also zunächst einmal bis Zu irgendeinem Hamburger Autobahnkreuz und lernte die Entfernungen bis zum nächsten öffentlichen Verkehrsmittel kennen, denn ich wollte in der Jugendherberge auf St. Pauli übernachten. Der Abend reichte für den Besuch einer Spelunke, wo ich aber freundlich behandelt wurde. Am nächsten Tag fuhr ich weiter nach Lübeck, hier spielte ich abends in einer Kneipe mit wildfremden Typen Karte, die waren echt nett, aber ich musste auch hier um zehn Uhr abends in der Jugendherberge sein. Mit dem Bus ging es weiter nach Grömitz, wo ich Karin bei der Arbeit fand. Sie freute über meinen Besuch, konnte mir aber keine Übernachtungsmöglichkeit bieten. Wenig begeistert war ihr Chefin von meinem Auftauchen. Die Besuchssituation bei der Arbeit war äußerst ungünstig, sodass ich beschloss, nach Kiel weiter zu reisen. Die Stadt fand ich wenig anziehend, ich lief irgendwo am Hafen herum und war wiederum in der Jugendherberge. Immerhin fand ich am nächsten Tag eine Möglichkeit, bis zur dänischen Grenze mitzufahren. Ich wusste, dass es auf der dänischen Seite der Flensburger Förde in Kollund eine Jugendherberge gab und beschloss, dahin zu wandern. In der Unterkunft angekommen, stellte ich schnell fest, dass in Dänemark in den Jugendherbergen eine Trennung der Geschlechter nicht erfolgte. Auch die strengen Zeitregelungen gab s nicht. Man war eigentlich frei bis auf die Tatsache, dass man in einer Sammelunterkunft schlief. Die Mädchen in meinem Zimmer waren ziemlich albern und kicherten für meinen Geschmack zu viel.
Die Herberge lag nahe der Förde und war von etwas Wald umgeben, aber ich wollte doch ans richtige Meer und wanderte am nächsten Tag zurück zum Grenzübergang, in der Hoffnung weiter trampen zu können. Da hatte ich Glück, ein junges Paar nahm mich mit und sie wollten zur Insel Römö. Ich glaube, sie war die treibende Kraft bei der Idee, mich mitzunehmen. Jedenfalls setzten sie mich auf der Insel ab, mit dem Tipp, in der Jugendherberge zu übernachten. Ich ging den Rest des Weges nach Havneby, wo sich mein neues Zuhause befand. In der Nähe des Hafens wurde ich von einem alten Mann angesprochen, der mich fragte, warum ich allein unterwegs wäre. Das sei nicht gut, er würde das kennen. Mir war das unverständlich, ich fühlte mich eigentlich wohl in meiner Haut. War dabei mich und meine Freiheit zu genießen. Die Herberge war wohl ehemals einen Scheune gewesen, zumindest was den großen Raum anging, in dem gemeinsam gekocht und gegessen wurde. Viele waren hier offensichtlich Dauergäste. Ein älterer Bewohner wetterte dauernd gegen das gegenüberliegende „Deutsche Reich“, in das er auf keinen Fall zurück kehren wollte. Ich verstand das nur teilweise, die deutsche Regulierungswut war mir allerdings bekannt. Ich hatte allerdings bald neue Bekannte, eine junge Frau aus Quickborn mit ihrem kleinen Sohn. Wenn ich hier von jung schreibe, so muss ich ergänzen, dass ich natürlich jünger war als die hier beschriebenen Personen. Sie jedenfalls nahm mich ein bisschen unter ihre Fittiche. Der Weg an den Strand von Römö ist ziemlich weit. Ein Auto hilft da manchmal. Ich machte einen Ausflug nach Ribe, wo mir der Dom in Erinnerung ist. In der nächsten Stadt, Esbjerg, und in der ganzen Gegend wird viel Fisch verarbeitet, was man auch riechen kann. Gemeinsam schipperten wir während einer Butterfahrt nach Sylt zum Lister Hafen. Wie anders wirkte das alles auf uns, der Trubel dort, unsere Idylle auf Römö. Wir sahen die abendlichen Lichter am Hafen und vielleicht entstand hier ihr Gedanke, nach List in die Jugendherberge weiter zu reisen. Im nach hinein kann man verstehen, dass eine junge Mutter mit ihrem Kind die geordneten Verhältnisse in einer deutschen Jugendherberge dem in der Herberge von Römö vorzieht und ich kam der Heimat ein Stück näher. So quartierten wir uns entsprechend in List ein, besuchten den dortigen Strand tagsüber, abends landete ich in einer der wenigen Kneipen. Ihr Urlaub ging zu Ende. Sie fragte mich, ob ich öfter solche Reisen machen würde. Sie fand das wohl verwunderlich. Jedenfalls kam ich bis Quickborn mit, wo sie mich an der Autobahn absetzte. Von dort fand ich eine Mitfahrmöglichkeit mit einem sehr redseligen Typen nach Bremen. Das war eigentlich nicht meine Richtung, aber näher nach Hause. Er wohnte in einer größeren Siedlung und dachte wohl, ich würde bei ihm übernachten. Ich machte mich aber auf den Weg zum Bahnhof und fuhr mit dem Zug nach Kassel zurück. Irgendwie war mein Bedarf an Freiheit und Abenteuer gedeckt.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen