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1996 - I

Der einsame Wanderer trifft unterwegs auf einen jungen Mann. Er will rasten, setzt  sich und der Junge gesellt sich zu ihm. Wie war Dein Weg bisher? fragt voll Interesse
der Junge den Alten. Interessant, sagt der Alte, ich habe viel gesehen, aber eigentlich auch nichts und jetzt fehlt mir der Trieb zum Weitergehen, ich möchte schlafen und bin müde. Wenn es interessant war, versäumst Du dann nichts im Schlaf? Nein, sagt der Alte: ich sah viel Neues, aber es war immer das Gleiche: Fragen, Antworten der Menschen, Verhalten. Die, die nicht gleich sind, z.B. Kranke, Irre, Betrunkene, sind nicht sie selbst. Sie durchschauen vielleicht für einen Moment die Welt, aber Du kannst nicht mit Ihnen reden.
Der Junge grübelte unzufrieden. Diese Aussichten gefielen ihm nicht. Wahrscheinlich setzte der Alte so einen Gleichmut auf, der auf alle auch so wirkte und das schon beim ersten Anblick.
Darauf der Alte in Erregung: Als junger Mann glaubte ich mich attraktiv und schlau, mächtig und stark, phantasievoll und kühn. Voll Unternehmungsgeist wollte ich alles, aber ich fand weder Frau noch Brot auf Dauer. Alle sagten nur: Du bist ein Wanderer, Du brauchst uns nicht. Bleib’ ein bisschen hier und sieh’, wie wir uns amüsieren, doch dann geh’ weiter. Es scholl nur so aus den schönen Mündern der Fräulein und den mächtigen Unanschaulichen, bis ich gelähmt war und nichts gegen den Zustand tun konnte, als zu wandern. Ja, ich glaubte alles und entwickelte Spaß daran und bald hörte ich ihn nicht mehr, den ätzenden Spott. In meinen Ohren entwickelte sich ein eigener Klang und meine Welt wurde harmonisch. Doch allmählich wird der Gang beschwerlich.
Der Junge war nachdenklich geworden. Sollte es das Ende auch seiner Geschichte werden? Der Alte bot ihm nun an, mit ihm zu trinken. So saßen sie, an einen starken Baum gelehnt nebeneinander inmitten des Vogelgesangs und des Insektengebrummes und dem Rauschen der Blätter. Ab und zu ein nervöses Reh..
Sie rauchten, schwiegen und genossen gemeinsam. Das leben ist ein klarer Schluck Nichts, sagte der Alte schließlich, trank etwas und murmelte: der schmeckt verdammt gut. Er wankte von dannen und der Junge freute sich auf die nächste Wanderung. –

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