Mittwoch, 21. November 2012

ISRAEL

2. März 1981
Abflug aus Frankfurt, beweise, dass ich nicht zu feige bin, nach Tel Aviv zu fliegen.
Ankunft 19.30 Uhr Ortszeit, nachdem ich das Gepäck bekommen habe, wechsle ich Geld, finde die Touristinformation nicht und verlasse den Flughafen. Statt den Bus zu nehmen, lasse ich mich mit einem Taxi für 96 Schekel in die Hayarkon Street fahren. Vorher wäre mir in dem Gewimmel von Taxifahrern, die dauernd auf mich einredeten, fast wäre mein Rucksack verloren gegangen! Wir werden (ein Mädchen aus Yorkshire ist auch dabei) zu einem privaten Jugendhotel gefahren.  Die Betten sind elendig, Frühstück gibt es nicht, dafür zahle ich nochmals 39 Schekel.
3. März 1981
Am anderen Morgen stehe ich sehr früh auf, dem Rat eines sehr netten Engländers folgend, und erreiche das Kibbutz-Office für Volontäre. 
Dort bin ich einer der ersten Volontäre und soll nach Massada fahren. Das liegt in der Gegend, die ich als ersten Wunsch geäußert hatte. Die Volontäre seien dort sehr zufrieden, die körperliche Arbeit tue mir gut. Die Formalitäten sind schnell erledigt, da ich meine Versicherung bereits abgeschlossen habe und nicht, wie die anderen, den Betrag, der niedriger ist als in Deutschland, erst auf der Bank einzahlen muss. Mein Bus geht erst um 12.00 Uhr, so lasse ich das Gepäck zunächst im Office und sitze am Strand von Tel Aviv mit meinen Gedanken über die verlorene Beziehung.  
Es muss schon ungefähr 11.00 Uhr gewesen sein, als ich in Englisch angesprochen werde. Ein Typ mit langen Haaren will von mir die Uhrzeit wissen und wir kommen ins Gespräch. Ich erzähle ihm, dass ich nach Massada fahre. Er kennt sich gut aus, ist seit zwei Jahren nicht mehr in Deutschland gewesen und sagt mir einiges über Massada. Obwohl er sagt, das es gut sei, veranlassen mich zwei Dinge, zum Office zurückzugehen. Der Kibbutz liegt an der Grenze und außerdem scheint die Arbeit schwer zu sein. Er kommt mit mir zum Office und amüsiert sich offensichtlich über meine Befürchtungen. In meinen Augen waren die Nachteile jedoch schwerwiegend genug, um auf Änderung zu drängen. Zurück im Office fand ich nun auch die Sekretärin vor, die etwas freundlicher war als ihr Chef. Ich bat sie, mich doch in ein anderes Kibbutz zu vermitteln mit der Begründung, ich wolle nach Gilboa, vielleicht nach Tel-Josef oder En Harod. Das waren die einzigen Namen von Kibbutzen in der Gegend, die ich kannte. In Tel-Josef war ein Platz frei und ich machte mich sofort auf den Weg zur Busstation, von wo aus ich fast ohne Wartezeit nach Afula weiterfuhr. Im Ganzen war ich froh, nach Tel-Josef zu kommen. 

Tel-Josef, warum? Meine verflossene Flamme schwärmte davon, dort hatte sie ihre unvergessene erste Liebe kennengelernt und mir schien das nun ein geeigneter Ort, um meine Wunde zu kurieren. Vielleicht wollte ich auch nur noch ein bisschen darin rumrühren. Denn die Hoffnung, dass es Leute gab, die sie kannten, war wohl eine der Motivationen. Tel-Josef wurde in den Zwanziger Jahren gegründet. Da das Land eigentlich sumpfig gewesen war und von den jüdischen Siedlern erst trocken gelegt werden musste, standen die Häuser für die Volontäre auf Pfählen. Sie waren aus Holz und im Winter mit Holzöfen in jedem Haus zu beheizen. Obwohl eigentlich, mit Etagenbetten ausgestattet, schliefen in der Regel nicht mehr als zwei Volontäre in jedem Haus. 
Gleich nach der Ankunft wurde mir das Zimmer zugewiesen und ich bekam meine Arbeitskleidung, blaues Hemd und Hose sowie Stiefel. Die Volontäre arbeiten 6 Stunden am Tag 6 Tage lang von 7 Uhr morgens bis 1 Uhr mittags, nachmittags und der Samstag (Shabbat) ist frei.  
Das Lager der Volontäre war etwas abseits des eigentlichen Kibbutz gelegen, die Kibbutzniks wohnten in Steinhäusern und nur gelegentlich hatten Volontäre engeren Kontakt oder wurden sogar in deren Wohnungen aufgenommen. 
Außer einigen Deutschen, die so wie ich nur einen Monat bleiben wollten, gab es u.a. Amerikaner, Engländer und Südafrikaner, die die Aufenthaltsdauer aus persönlichen Gründen so lange wie möglich hinauszögerten. Prinzipiell gabe es eine Aufenthaltserlaubnis nur für maximal drei Monate. Länger ging nur mit Zustimmung der Kibbutzverwaltung und Erteilung eines Verlängerungsvisums. 
Während die Deutschen meist religiöse Gründe für Ihren Aufenthalt angaben, Waren einige Amerikaner aus der Armee desertiert und auf der Flucht.   
Meine Arbeit bestand nun darin, morgens zur Grapefruiternte auszurücken. Die Bäume waren zum Glück nicht zu hoch, denn das Abreißen der Früchte von unten war nicht gern gesehen. Der Stiel in der Mitte der Frucht sollte nicht heraus gezogen werden. Am Vormittag gab es immer noch ein kleines Picknick zwischen drin. 
Gespräche zwischen Einheimischen und Volontären kamen je nach Herkunftsland zustande. Mit einem südafrikanischen Volontär wurde oft über von beiden Ländern erprobte Waffensysteme gesprochen.
Palästinenser kamen eigentlich nicht vor, wir sahen sie nicht und hörten immer nur von den "Indianern". 
Das meint wohl soviel wie die Eingeborenen. 
Natürlich gab es auch den Innendienst. Wer Küchendienst hatte, musste in der Regel den Abwasch besorgen. Wenn ich mit meinen Stiefelabsätzen durch die Küche knallte, erntete ich etliche angstvolle Blicke. Ältere Frauen, die dort arbeiteten hatten an deutsche Stiefelträger offensichtlich keine guten Erinnerungen. Meine Aufgabe war aber nur das Reinigen der Kübel in den großen Waschbecken.  
Auch der Kuhstall hatte mal einen neuen Anstrich nötig. An diesen Arbeitstag erinnere ich mich noch sehr intensiv wegen des Geruchs und der Dunkelheit. Somit war die Ernte draußen immer noch das beste.
Das Leben bot nicht viel Aufregendes, schnell relativierte sich die idealistische Geisteshaltung der Anfangstage. Nachmittags lagen die Volontäre in der Sonne und das Anfang März. Das frühe Aufstehen setzte mir jedoch arg zu und die Küche brachte nicht unbedingt zu Kräften.
Das vertraute Graubrot half etwas, aber ansonsten überwog das Abgebot an frischer Kost: Quark, Milch und Salate, Obst. Alles natürlich aus eigenem Anbau bzw. eigener Erzeugung. Wurst im vertrauten Sinne fand ich nicht, wenn es Fleisch gab, war es blutleer und fade. Zu den Spezialitäten der Küche, z.b. Fischköpfen fehlte mir der Zugang. 
Zu den Highlights gehörte noch die Zapfstelle für Mineralwasser. 
Es gab zwar Taschengeld, aber das war nicht zu reichlich bemessen, schließlich mussten das abendliche Bier und die Zigaretten bezahlt werden. Es gab eine kleiner Bar, in der wir uns trafen und schon bald wurde ich dort persönlich angesprochen: „Jetzt kommt das Leben.“ Aber immerhin bekam ich Komplimente für mein Englisch: „They teach you a proper English“.
Wir blieben unter uns und hatten auch nicht den Überblick über das, was
tatsächlich alles im Kibbutz hergestellt wurde. 
Denn nicht in jedem Bereich durften Volontäre arbeiten. Es ist passiert, dass Frauen z.b. drei Wochen „Dish wash“ machen mussten, ohne das diesbezügliche Beschwerden Erfolg hatten.  
Das Kibbutz war nachts bewacht und so fühlte ich mich wie in einem Lager in einem Lager. Eine Bedrohung durch eine fremde Umwelt lag immer in der Luft. Im Grunde lebten die Kibbutzniks an der Frontier. Wir erlebten nie kriegerische Handlungen, insgesamt schien diese Gegend jetzt ruhig (zwischen Afula und Bet She‘an).
Israel war groß geworden die Grenzen verschoben und wohl niemand dachte an die Rückgabe von erobertem Land. Wenn es eine politische Stimmung gab, so war die nach deutschen Maßstäben gemessen, ungefähr sozialdemokratisch. 
Es gab jemanden, der zuständig war für die Belange der Volontäre und das war im Großen und Ganzen der einzige Ansprechpartner. 
Ab und zu sah ich mich nachmittags in der Gegend um, kam bis zum Kibbutz Nir David und fand diesen natürlich viel schöner als Tel-Josef. Die Wochenenden bestanden ja nur aus einem Tag, der am Freitagabend mit dem Shabat-Essen begann. 
Am Samstag irgendwo hinzufahren war recht witzlos, die Busse verkehrten nicht so wie an den Werktagen und in den Orten gab es dann kein Leben. 
Manche Volontäre machten trotzdem Ausflüge, hatten aber Mühe, am Samstagabend wieder im Camp zurück zu sein. 
Es war mir insgesamt zu anstrengend. Meine Flamme hatte keinen so überragenden Eindruck im Kibbutz hinterlassen. Es erinnerte sich kaum einer an sie. Hier kam ich also auch nicht weiter. 
Es blieb bei kleinen nachmittäglichen Ausflügen in die nähere Umgebung: Afula und Bet She’an, wo es ein römisches Amphitheater zu sehen gab.    
Die rein israelischen Städte sagten mir nicht besonders zu. Es fehlte die Historie, alles hatte den gleichen, provisorisch wirkenden Stil. Weisse Flachdachzweckbauten ohne sonderlich gepflegte Umgebung, Tel Aviv hatte schon ähnlich gewirkt, nur größer, aber eben ohne die Vorzüge westlicher Großstädte. 
In Afula gab es an der Bushaltestelle einen Imbiss, wo ich zum ersten Mal Falafel probierte, das kulinarische Highlight meines Israelurlaubs. 
Die Tage verstrichen und ich bezweifelte, die volle Zeit hier hinter mich zu bringen. Das Fasching auch im Kibbutz gefeiert wurde, war eine neue Erfahrung. Die Kibbutzniks „adoptierten“ die Volontäre und statteten diese mit „Kostümen“ aus. Die besten Kostüme wurden dann prämiert. Ich betrieb insgesamt auch hier einen minimalistischen Aufwand. Mit Hut und Jacke und als klassischer Cowboy tat ich das, was ich am besten konnte: abhängen. Sehr zum Leidweisen eines amerikanischen Mädels aus L.A., die fand das alles viel lustiger als ich. 
Sie biss sich ebenso die Zähne aus wie das nette Schweizer Mädel, als wir nachmittags mal Richtung Nir David unterwegs waren. Wir wanderten und verliefen uns, aber schafften es doch zum Glück wieder zurück nach Tel-Josef.
Als sie dann abends in meine Hütte stolperte und Feuer für die Zigarette brauchte, gab ich ihr welches und das war’s..
Irgendwie stand mir der Sinn nach besserer Organisation, die Anlage von Nir David imponierte mir ebenso wie Hefzi Bah mit seinem japanischen Garten. Es war vielleicht doch ein Fehler, nach Tel-Josef gegangen zu sein, mir fehlte die Unvoreingenommenheit.
Ich musste also zur Kibbutzverwaltung und holte mir am 24. März meine Bestätigung über den Aufenthalt in Tel-Josef ab. 
Ich fuhr nach Nir David, nahm Abschied von allen Bekannten und bemühte mich dort um Aufnahme. 
Das war auch kein Problem, es gab zwar ein paar Fragen wegen des Wechsels, aber die Frau von der dortigen Verwaltung akzeptierte meine Gründe. 
Ich wurde dem Zimmer eines jungen Franzosen zugeteilt. Der Tag der Ankunft im Kibbutz ist ja arbeitsfrei, so hatte ich den Nachmittag Zeit, alles zu erkunden. 
Alles war besser als in Tel-Josef, so wohnten die Volontäre in Steinhäusern, aber auch straffer organisiert. So gab es Dienstpläne für die Volontäre und die Teilnahme an verschiedenen Veranstaltungen mit den Kibbutzniks war für die Volontäre Pflicht.
Schön und gut, das hörte sich eher nach mehr Aufwand an, war ich vom Regen in die Traufe gekommen? Die Stimmung schein hier eher sozialistisch zu sein.         
Ich ging zurück auf das neue Zimmer. Hier säuselte mich mein französischer Zimmernachbar an und äußerte unverhohlen seine Bewunderung für mich. 
Ich musste zurück, vermisste sofort die alten Holzhäuschen im Volonteers Camp von Tel-Josef und alle vertrauten Gesichter dort. 
So erklärte ich es auch der Frau von der Kibbutzverwaltung: ich habe Freunde dort. Sie verstand, es war kein Problem.
Nun fuhr ich also am gleichen Tag zurück nach Tel-Josef, wo meine Rückkehr  
großes Erstaunen weckte. Volontärinnen standen auf gepackten Koffern und wollten auch weg, konnten nicht mehr zurück. 
Mir war es egal, den Fehler musste ich so schnell wie möglich gut machen.   
Dieses Mal erwischte ich ein Häuschen auf der anderen Seite des Platzes, näher zur Toilette, das sollte sich bald als gut erweisen. Denn schon am Abend kam jemand in der Bar auf die Idee, israelischen Rotwein zu trinken. Ich schmecke noch heute das Fruchtfleisch auf meiner Zunge. Am nächsten Tag bekam ich Durchfall und musste mich krank melden. Im Medical Center bekam ich Kohletabletten, aber ich konnte keine Nahrung mehr bei mir behalten. Obwohl ich schon so gut wie nichts mehr zu mir nahm, musste ich jede Nacht mehrfach die Örtlichkeiten aufsuchen und Wasser von mir geben. Jede Kleinigkeit von Essen löste sofort Geräusche im Bauch aus, die mich fast unverzüglich zur Toilette zwangen. Nicht immer schaffte ich das in der Nacht. Zu allem Überfluss regnete es jetzt öfter. Der Boden weichte auf und die Holzhäuser boten keinen Schutz gegen die feuchte Luft. Da ich nicht mehr arbeiten konnte, quälte mich die Zeit und die Einsamkeit tagsüber. Ich wusste, ich würde es nicht mehr lange aushalten. Es galt zu warten, bis der Durchfall nachließ, also möglichst nicht mehr essen, und dann die letzte Kraft zu sammeln, um nach hause zu entkommen. Ich hatte Angst, nun aber richtig. Am 28. März war es soweit, ich teilte der Verwaltung meine Abreise mit, eine neue Bescheinigung brauchte ich ja nicht. Es könnte höchstens passieren, dass ich am Flughafen nach den Gründen für meine Abreise vor Monatsfrist gefragt werden würde. 
Ich nahm den Bus nach Afula, von dort aus weiter nach Tel Aviv-Yaffo (Ben- Gurion-Flughafen). Mein Flug nach Frankfurt ging erst am nächsten Vormittag.
Also verbrachte ich die Nacht auf den Gepäckförderbändern liegend, schlafend so gut es ging. Die Toilette brauchte ich nicht mehr und nach Tel-Aviv hatte ich keine Sehnsucht. Tatsächlich kam die Frage nach dem „Warum?“, die ich aber überzeugend beantworten konnte. So verließ ich das biblische Land am 29.März 1981.
Im El-AL-Jumbo saß ich neben zwei amerikanischen Damen, die zunächst nach Israel gereist waren und sich nun auf ihre Europarundreise freuten. Sie fanden mich wohl recht nett, aber davon hatte ich nicht viel, da ich meisten Teils wieder döste. Über Grenzschutzbeamte mit Maschinenpistolen in der Hand habe ich mich wohl nie wieder so gefreut, wie beim Ausrollen des Jumbos in Frankfurt. 
Die Amerikanerinnen fanden natürlich auch die sehr nett. 
Mein Gewicht war beim Rückflug etwa um 12 Kilo geschwunden und es dauerte Jahre, bis ich wieder den Stand von vor der Reise erreichen würde. Ein Jahr später hatte ich gerade erst 4 Kilo aufgeholt. 
Meine Flamme schlief nicht mehr in meiner Wohnung, hatte nur noch ihre Möbel dort. Sie kehrte ebenfalls nach Tel-Josef noch im gleichen Jahr zurück. Nach drei Wochen „Dishwash“ verließ sie den Kibbutz und ging nach Hefzi-Bah. Es trieb auch sie immer wieder nach Tel-Josef, obwohl die Arbeit im anderen Kibbutz „besser“ war. Sie traf dort einige Volontäre, die mich kannten und schrieb mir unter anderem: 
„Jane und Debbie verstehen nicht, dass Du nicht zu Ihnen geschrieben hast.“
Die Verdrängung der Kibbutz-Erlebnisse und mein gesundheitlicher Zustand mögen mich daran gehindert haben. Außerdem zählte ich im Kaufhaus M. Schneider die Besucher des Restaurants und las aufmerksam Anzeigen aller Art  in der Frankfurter Rundschau. 

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