Freitag, 30. November 2012

Gold - XXXV

Er bittet mich um Erlaubnis, etwas Beruhigendes geben zu dürfen und die Arme zu fixieren. Das alles soll nur vorübergehend sein. Schweren Herzens erteile ich die Erlaubnis. Wieder vergehen einige Tage bis ich am Wochenende, dieses Mal mit Auto und Haftcreme, eine Fahrt nach Bad Orb unternehmen kann.
Als wir die Tür öffnen, sagt Vater zu mir: "Was machst Du mit mir?"
Ohne große Begrüßung, ich bin erst einmal konsterniert. Er hat hier ein Einzelzimmer und es riecht muffig. Vermutlich war das Fenster schon länger nicht mehr offen. Er redet nur zögerlich und wenn, dann sagt er, dass die hier gegen ihn seien. Seinen Katheder empfindet er als Unverschämtheit. Ich sehe neben seinem Bett einen Rollstuhl. Ich versuche erneut, ihn besser zu stimmen und zu trösten. "Wenn Du aufstehen kannst und mir sagst, daß Du nach hause gehen kannst, dann habe ich bestimmt nichts dagegen." Die Wohnung, meint er, die wäre doch wohl noch da? Als ich das bejahe, meint er, daß das auch so bleiben soll. Ich deute an, daß wir das überlegen müssen, mehr nicht. Das Wetter ist mild in diesem Januar und die schöne Umgebung lockt zum Ausgang. Die Schwestern sind hier osteuropäischer Herkunft. Ich gehe zum Schwesternzimmer, zum einen, weil ich der schlechten Luft entfliehen und zum anderen weil ich die Schwester bitten möchte, mir bei einer Ausfahrt mit dem Rollstuhl behilflich zu sein. Ohne große Umschweife fragt sie meinen Vater, ob er mit dem Rollstuhl nach draußen will. Er sagt sofort ja. Sie schafft es ohne meine Hilfe, Egon in den Rollstuhl zu bugsieren. So verlassen wir etwas unsicher sein Zimmer, denn auch das Rollstuhl schieben will gelernt sein. Im Aufzug angekommen, scheint er sich im Spiegel zu sehen. Seine Zähne sind nicht richtig fest im Mund. Er sieht ausdruckslos aus. Entweder sieht er sich nicht oder er begreift nicht, daß er sich selbst sieht. Wir suchen ein ruhiges Plätzchen, erst in der Cafeteria, bis wir merken, daß es am besten wäre, allein mit ihm irgendwo zu sitzen. Das Problem beim Schieben, daß er einen Fuß nicht auf dem Raster stehen hat, sondern auf dem Boden schleifen läßt. Das macht das Schieben schwer und ich habe Angst, ihn zu verletzen. Anscheinend aber gleitet der Hausschuh gut über den überwiegend glatten Boden. Wir finden schließlich einen leeren Aufenthaltsraum, ein Fernseher steht darin. 

Ich habe das Gefühl, er denkt über irgend etwas nach. Täuscht uns, um im nächsten Moment den Versuch des Aufstehens zu wagen. Ich gerate innerlich in Panik, weil ich weiß, daß ich die Situation nicht beherrsche. Wieso nimmt er seinen Fuß nicht hoch und warum spricht er nicht, wenn ich ihn was frage? Da sitzen wir beide sprachlos neben einander. Quälend lange, bis ich es nicht mehr aushalte. Ich will mit ihm zurück auf das Zimmer, so schnell wie möglich. Trotz des offensichtlich schlechten Zustands meines Vaters drängen sich Leute vor uns in den Aufzug. Wir warten bis ein leerer Aufzug kommt. Ich fahre Egon bis neben das Bett. Nun brauche ich die Schwester wieder. Im Schwesternzimmer sage ich ihr, das Vater sich über seinen Katheder beschwert hat. Sie erwidert daraufhin nur lakonisch, daß mein Vater inkontinent sei und es nicht merke, wenn er müsse. Angesprochen auf seine angebliche Aggressivität, sagt sie nur, das sei bei alten Leuten hier normal, das komme öfter vor. Wiederum schafft sie es allein, meinen Vater ins Bett zu setzen und zu legen. Er fällt erleichtert nach hinten und muß noch ein Stück hoch gezogen werden. Das ist schwer. Immerhin spricht er nun wieder. Redet über eine kleine Wohnung mit Küche, ein Zimmer vielleicht, scheint sich doch mit einer Veränderung anzufreunden. Bemerkt, dass es nun für mich nicht mehr so weit sei. Ich erkläre ihm den Fernseher, den er hier für sich allein hat. Zeige ihm den Nachtisch, der noch ungeöffnet da steht. Es sieht so aus, als nähme er das alles erst jetzt zur Kenntnis. Nachdem wir die Wäsche kontrolliert haben, es ist Schmutzwäsche darunter, und seine sonstige persönliche Habe auch da ist, scheint erst mal wieder alles im Lot. (Die Bilder wurden nicht geschnitten, die Fingernägel wenigstens.) Die Schmutzwäsche nehmen wir mit, hier wird er nun wieder auch was brauchen. Vielleicht sollte ich in der Woche mal hinfahren, sonst wird es knapp. Mir wird allmählich klar, dass durch die Verlegung ich der einzige Anker bin, den Egon in einer ihm fremden Welt noch hat. Nachdem ich die Position des Kopfteils für ihn eingerichtet habe, legt er sich nach der Verabschiedung auf die Seite. Den Fernseher habe ich eingestellt, vielleicht schaut er ein bißchen. Er ist zu schwach für längere Gespräche.
Wie immer ist an den Wochenenden kein Arzt zu sprechen. Ich kenne den Namen der Ärztin hier, aber was nutzt das, sie hat keinen Dienst. 

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