Donnerstag, 22. November 2012

Gold - XXVIII


Nun bekomme ich ein Riesenproblem, Vater will nach hause. Er meint, ich hätte sicher seinen Sachen im Auto, er will nun aufstehen. Ich versuche ihm zu helfen, das Gitter kriege ich notdürftig herunter. Wenn er erst mal steht, wird er sicher merken, dass er nicht laufen kann, denke ich. Dann kommen mir Bedenken, er ist schließlich angeschlossen und ich habe keine Ahnung, wie man das alles transportabel macht. Ich kann ihm nicht helfen. Also störe ich die Schwesternrunde mit der Alarmmeldung: mein Vater will aufstehen, darf er das? Meine Frau sitzt draußen im Flur, hat verzichtet, das Zimmer zu betreten. Nach kurzer Zeit erscheinen drei Schwestern im Zimmer. Vater hat sich aufgesetzt, die Füße auf dem Boden, sein Nachthemd ist verrutscht, er hat sonst nichts an. Die Schwestern sprechen mich nicht an, sie umringen Vater, links und rechts eine, die andere bereit seine Beine zu greifen. Mir bleibt nichts übrig, als die Szene zu beobachten. Schließlich verlasse ich das Zimmer. Die Tür steht offen. Ein Tumult aus Kommandos und Zurechtweisungen an meinen Vater ergeht. Eine berlinisch gefärbte Stimme schnauzt meinen Vater an: „Ja ja, ich weiß es ist alles scheiße, wir sind auch scheiße!“ „Aber Du musst essen, bevor Du aufstehen kannst!“ „Verstehst Du das?“
Zwischendrin höre ich die Stimme meines Vaters, dessen Widerstand schwächer wird. Als die Schwestern das Zimmer verlassen, sage ich: danke! Ich habe nicht das Gefühl gehört zu werden. Wieder zurück im Zimmer versuche ich Egon, so heißt er, die Situation zu erklären. Dass er sich erholen muss von seiner Erkrankung, dass er essen soll und dass er erst dann das Laufen wieder üben kann. 
Ich habe Vater Bilder mit gebracht und zum ersten Mal blättert er die durch, die DIN-A-4 – Seiten sind allerdings sehr unhandlich. Sie sind hübscher als der andere, meint Egon. Mit dem anderen ist mein Bruder gemeint. Ich lasse ihm die Fotos da. Sein Essen steht immer noch unangetastet auf dem Nachtschrank. Er will nicht essen und schon gar nicht in meiner Gegenwart. Eine jüngere Schwester erscheint zum Blutdruckmessen, alles in Ordnung. Sie betrachtet die Bilder und meint, man müsste sie ausschneiden und sie will eine Schere holen. Wir sehen, dass Egons Fingernägel nicht geschnitten sind. Zum Glück sieht das auch der Krankenpfleger, der von meinem Vater fast euphorisch begrüßt wird. Er will sich darum kümmern. So scheint der Besuch doch noch ein versöhnliches Ende zu nehmen. Uns wird aber klar, dass
es so nicht weiter gehen kann. Mich ärgert es immer noch, das ich die Haftcreme verlegt habe. Zum Abschied gebe ich ihm wieder die Hand.
Egon will das alles immer vorweg nehmen und verabschiedet sich innerlich schon vorher. "Das Du Dich jetzt um mich kümmerst, hätte ich nicht gedacht." Sagt er. Ich frage mich und versuche meine Verwunderung zu ordnen. Wer hätte es sonst tun sollen und warum nicht ich? Schnell treten aber die praktischen Probleme in den Vordergrund. Ale ich Vater sage, daß ich in zwei Wochen wieder komme, wird er still. Ich schaffe es nicht öfter, versuche ich zu erklären. Er meint auch, die seien hier mit ihm fertig. Die Ärzte wären schon da gewesen. Darauf gründete er seine Hoffnung auf Entlassung. Wieder muß ich die obligatorische Erklärung geben. Er soll erneut nach Bad Wildungen kommen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er da klar kommen soll. Schließlich drücke ich seine immer noch feste Hand. Seine körperliche Verfassung gefällt mir weniger gut. Wir sind auf dem Flur und überlegen, ob es in Kassel so etwas wir die "Grünen Damen" gibt. Das sind in Frankfurt Damen, die ehrenamtlich in ein Krankenhaus gehen, um Patienten zu besuchen und für sie Besorgungen zu machen. Wir beschließen beim Pförtner nachzufragen, werden aber abschlägig beschieden. So etwas scheint man sich in Kassel nicht einmal vorstellen zu können. 

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