Freitag, 26. Oktober 2012

Und nu: Glauchau

Der Plan, einmal nach Glauchau zu fahren, war nicht neu. Auch nicht neu, war der Wunsch,
es nicht zu tun. Man kommt nicht zufällig nach Glauchau. Und die Personen aus meiner Familie, die dort einmal gelebt haben, hielten sich mit Informationen zurück.
Der Weg in den Westen erfolgte sicher für viele nicht ganz freiwillig aufgrund des Einrückens der Roten Armee als Folge der Aufteilung Deutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. 
Ziel einer Glauchaureise war es nun, die beiden bekannten Adressen des Urgroßvaters und des Großvaters zu finden und sich so manches Bild zu machen.
Wir wählten als Anreiseart die Deutsche Bahn. Die Reise sollte von Frankfurt am Main über Fulda nach Weimar und dann nach Glauchau gehen. Da unser Zug bereits in Fulda zu spät ankam, erfolgte die Reise aber über Erfurt und Altenburg/Lehndorf. 
Der Glauchauer Bahnhof ist sehr schlicht gehalten. Außer einer historisch anmutenden Bahnhofsuhr sind im Bahnhofsgebäude mehr oder weniger weiße Wände zu sehen.
Die ursprünglichen Stuckdecken sind weg und lediglich ein kleines Stehcafé und eine Buch- und Zeitschriftenhandlung hauchen der kleinen Halle ein bisschen Leben ein.
Es regnete draußen passend dazu und zum Glück stand wenigstens ein Taxi vor dem Ausgang.
Die durchaus freundliche Fahrerin klärte uns darüber auf, dass in Glauchau nur Rentner leben würden und da nichts los sei. Auch der Einwurf eines Mitreisenden, dass hier seine Eltern geheiratet hätten, beeindruckte die Dame nicht sonderlich. Das „Deutsche Haus“ am Marktplatz sei das einzig gute.
So eingestimmt ratterten wir über das helle Kopfsteinpflaster der August-Bebel-Strasse in Richtung Hotel Meyer, einer ehemaligen Weberei in der Agricolastraße. 
Ein erster Rundgang führte uns zum Marktplatz, wo wir in besagtem „Deutschen Haus“ Kaffee trinken wollten. Die Kuchenauswahl am Nachmittag war jedoch nicht so ansprechend, sodass wir uns nicht zum Bleiben entschließen konnten. Wir fanden den Weg zu einem Stehcafé, gerade noch rechtzeitig bevor die Öffnungszeit um 17 Uhr endete. Wir wurden dennoch ausgesprochen freundlich bedient. Im Tresen sah ich eine mir unbekannte  Spezialität vor mir liegen. Sie schien die hügelige Vorgebirgslandschaft simulieren zu wollen, in der Glauchau liegt. Der Aufläufer ist etwas goldgelb Gebackenes, rund und gewellt. Er wird mit heißer Butter und Zucker und/oder Konfitüre bestrichen und ist ein länger haltbares Gebäck. Aufläufe vor allem an Menschen sollten wir an diesem Tag nicht mehr sehen.
Bei anhaltendem Nieselregen passierten wir die Stelle, an der früher das Nicolaitor stand,
die Umrisse der Durchfahrt rot gepflastert. 
Leer gefegt präsentiert sich die Leipziger Straße, die wir auf unserem Weg zurück ins Hotel besichtigen. Es ist die Einkaufstraße von Glauchau. Doch neben leeren Läden hindert uns vielfach der frühe Ladenschluss an weiteren Einkäufen.
Am nächsten Tag nun wollen wir gut gestärkt zwei Adressen anlaufen. Der erste Weg führt uns zur Körnerstraße. Wir befinden uns in der Oberstadt und passieren auf dem Weg dorthin eine Straße mit dem schönen Namen „Hoffnung“. 
Gewisse Erwartungen haben sich in uns breit gemacht. Erzählungen in der Familie nach, haben meine Mutter und ihre Geschwister in einer Villa gewohnt und in einem Garten mit einem großen Baum gespielt. Als wir die Körnerstrasse erreichen und vor dem Haus Nr. 9 stehen, erkennen wir, dass es sich um ein gut gepflegtes Mehrfamilienhaus mit angebauten Holzbalkonen handelt. Es gibt auch einen Garten mit einem nicht ganz so großen Baum und einigen Gartenhütten. Der Bürgersteig vor dem Haus ist, wie in Glauchau vielfach, nicht asphaltiert sondern besteht aus platt gewalzter Erde mit Steinchen und Sand darin, begrenzt durch Steine. Wir fotografieren uns, das Haus und was wir für wichtig halten und tun bei so, als handele es sich um eine Glauchauer Sehenswürdigkeit. In diesem Haus hat 1936 mein Urgroßvater gewohnt, sein Sohn scheint jedoch, obwohl in der Hirschgrundstraße gemeldet,
seine Familie auch hier untergebracht zu haben. 
Nun pilgern wir also weiter in der Hoffnung, die erwartete Villa vorzufinden, in Richtung Hirschgrundstraße. Wir sehen, das Glauchau ein großes Klinikum hat und folgen der abschüssigen Hirschgrundstraße bis zum Eckhaus Nr.51. Zu unserer Enttäuschung steht das Haus leer und macht einen verfallenden Eindruck. Putz bröckelt von der Außenwand, die Hausnummer scheint noch aus den Tagen unserer Vorfahren übrig geblieben zu sein. 
Im Erdgeschoß stehen ein paar alte Stühle und ein grüner Kachelofen. Durch die Doppelfenster aus Holz lässt sich das schlecht fotografisch dokumentieren. 
Hier also war der Großvater bzw. Vater 1936 gemeldet. Neue Hoffnung keimt in uns auf,
vielleicht handelt es sich gar nicht um besagtes Haus, vielleicht ist hier nach dem Krieg neu gebaut worden. Wir bereuen es, einige Passanten nicht angesprochen zu haben. Eine ältere Frau mit Fahrrad spricht uns an, aber wir lassen sie ziehen.
Schließlich entfernen wir uns von dem mal hellbraun bis gelblich verputzten Haus nicht ohne die obligatorischen Siegerfotos zu machen. Jawoll, wir waren da, aber was hat es uns gebracht? Mir gelingt es dennoch auf dem Weg zur nahe gelegenen Sparkasse in der Sonnenstraße einen alten Mann anzusprechen. Er hat es eigentlich eilig, gibt uns aber dennoch Auskunft. Wir fragen ihn, wann das Haus in der Hirschgrundstraße 51 denn gebaut worden sein könnte. Nach einigem Überlegen meint er, das sei vor dem Krieg gewesen. Ist sich sehr sicher, in der DDR-Zeit habe man ja nischt gehabt. Daher der Verfall.
Meine Internetrecherche ergibt später, dass nach dem Krieg an dieser Stelle auch keine neuen Sozialwohnungen entstanden sind. Mich erinnert der Baustil auch eher an die Zwanziger/Dreißiger Jahre.
Die Hoffnung auf eine Villa zerstört, haben wir nun aber immerhin die Gewissheit, das Haus, in dem der Großvater/Vater mal wohnte, gesehen zu haben. 
Nun wird uns unser Weg weiter zum Gründelteich führen, den wir nach dem Abstieg vom Gründelberg erreichen werden. Wir sind also beim touristischen Teil angelangt und wollen auch noch den Stausee und das Schloss sehen.
Es gibt verschiedene Pfade vom Gründelberg hinunter, einige durchaus mit starkem Gefälle
und steilem Ausblick. Hat in diesem Gelände die Mutter ihre Streiche vollbracht? Ein gewisser Witz scheinen den Menschen hier gegeben, auch wenn wir gelegentlich auf mürrische Zeitgenossen treffen. Wie benutzen jedenfalls die Gründelallee, überqueren die Albertsthalerstraße und gelangen dort über den Naundorfer Wiesenweg zum Stausee, ohne auf ein geöffnetes Lokal zu treffen.
Nach kurzer Besprechung fällt der Entschluss, zurück zum Ort zu gehen. Denn ob das Lokal im Ortsteil Hölzel geöffnet hat, das erscheint uns ungewiss.
Wir nehmen nun die andere Seite des Wegs um den Gründelteich, passieren die wohl längst geschlossene Parkschänke am Gründelhaus und laufen entgegen des Ratschlags eines Einheimischen (se müssen über den Berg nüber) den Hammerdammweg, der uns links an einem großen Kleingartengelände und rechts an dem sumpfigen kleinen Teich Richtung Mühlberg führt. Hat sich mein Großvater in diesem Kleingartengelände versteckt, als er von den Russen gesucht wurde? Möglich scheint es mir. 
Wir erreichen den Mühlberg und den gepflasterten Aufstieg zum Schloss. 
Dort rasten wir ausgiebig bei einem italienischen Lokal. Als wir es betreten und vom etwas mürrischen Kellner angesprochen werden, geben wir zu verstehen, dass wir eigentlich nur mal gucken wollen und lieber draußen Platz nehmen. Na, dann gucken Se mal, meinte der Kellner recht schmallippig. Zum Glück wurden wir von einem sehr freundlichen, einen osteuropäischen Dialekt sprechenden, Kellner bedient. Hier konnte nicht nur der Akku meiner Kamera aufgeladen werden. Die eine oder andere Familiengeschichte ging uns durch den Kopf und gestärkt betraten wir später den Innenhof des Schlosses Glauchau, wobei uns der Unterschied zwischen den Schlössern Forder- und Hinterglauchau nicht bewusst wurde. 
Für 5 € hätten wir an einer Ausstellungseröffnung teilnehmen können, wir wurden darüber aufgeklärt, als wir uns verbotener Weise Zutritt zur Kirche des Schlosses verschafft hatten.
Jedenfalls strömten für Glauchauer Verhältnisse Menschenmengen an uns vorbei. So wird Professor Schnürpel (der Künstler) es verkraftet haben, dass wir uns weiter in Richtung Ort bewegten, vorher jedoch einen Abstecher in die Georgenkirche machten. 
Zwei alte Damen begrüßen uns sehr freundlich und ermuntern uns, die Kirche genauer anzusehen, nachdem wir eingetreten waren. Sie standen uns für unsere Fragen gern zur Verfügung und als eine der beiden erwähnte, dass sie auch für die Familienforschung arbeitet,
waren Hemmungen genommen und es entwickelte sich ein sehr interessantes und anrührendes Gespräch. Schnell war der Gedanke aufgekommen die Eltern/Großeltern könnten hier geheiratet haben, die Kinder hier getauft worden sein. Was sich nun später bestätigte.
In Glauchau wurde erst 1903 eine weitere Kirche in der Unterstadt gebaut. Die Georgenkirche aber war durch den Brand 1712 fast völlig zerstört worden und musste neu aufgebaut werden. Dies obwohl fast alle Bürger der Stadt ebenfalls ihre Häuser verloren hatten. Doch ein Gotteshaus war den Bürgern wichtig. So konnten sie sich ihre eigenen Plätze in der Kirche erkaufen und damit die Finanzierung ermöglichen. Im Zweiten Weltkrieg blieb die Georgenkirche von Beschädigungen verschont, obwohl in den letzten Kriegstagen aufgrund deutschen Widerstands amerikanische Artillerie Glauchau unter Beschuss nahm. Das Schloss wurde beschädigt und viele Einwohner verloren noch Angehörige, als ein Güterzug am Glauchauer Bahnhof bombardiert und getroffen wurde. Vor weiteren Bombenschäden blieb Glauchau im Wesentlichen verschont. 
Werner Löbel aus Kassel war als Flüchtling aus Ostpreußen nach Kriegsende auch in Glauchau und schreibt dazu: "Hier eine kurze Einflechtung im Zeitverlauf. Ich erinnere mich, dass in Glauchau am Bahnhof eine Bretterwand mitten auf der Straße aufgebaut war, die Straße mit den umliegenden Gebäuden diente den Russen als Militärkommandantur und Besatzungskaserne."

Die aktuelle Situation ist vom Exitus der jungen Bevölkerung geprägt. Die Textilindustrie, die hier einst heimisch war, ist fast völlig verschwunden. Während früher Webereien und Färbereien Arbeitsplätze boten, sind es heute Betriebe der Autozuliefererbranche, die sich im Gewerbegebiet positioniert haben. Übrig blieb nur der in den Dreißiger Jahren geschaffene in Stausee, der Frischwasser für die Textilbetriebe bereit stellte. Dazu wurde die Zwickauer Mulde in den Naundorfer Wiesen angestaut.

Die Geschäftsleute in der Stadt beklagen die Situation durchaus plakativ, vor allem den Mangel an Parkplätzen.
Die Zukunft wird hier aber der Pflege älterer Menschen gehören. Gegenüber unserem Hotel wird ein historisches Gebäude zum Pflegeheim umgebaut. 
Nachdem wir im Ratshof tatsächlich ein offenes Lokal, ein Eiscafé, fanden, dürfen wir die Öffnungszeiten des Fremdenverkehrsamtes bewundern. Am Wochenende ist es lediglich am 1. Samstag im Monat von 8-12 Uhr geöffnet. Es ist Samstagnachmittag und die offensichtlich Pause machende Putzfrau hat es sich auf einem der Beratungsarbeitsplätze gemütlich gemacht. Sie überwacht nun, ob wir uns nicht doch noch Eintritt verschaffen.
Offensichtlich finden nicht allzu viele Touristen den Weg nach Glauchau. So ist auch der mit historischen Bildern Glauchaus geschmückte Laden auf dem Marktplatz am Samstag gar nicht auf. Das Café gegenüber der Georgenkirche war zwar offen, aber man hatte eine geschlossene Gesellschaft.
Dass Fremde durchaus eine herzige Begrüßung erfahren können, bemerkte ich auf dem Rückweg ins Hotel. Als ich eine junge Familie durch ein Portal mit der Aufschrift „Freizeitparadies“ gehen sah und mich noch über diese Bezeichnung für eine kleine Grünanlage wunderte, drehte sich der junge Mann um, während ein Autofahrer uns mit „Du Orschloch“ anrief, was ich geistesgegenwärtig mit „Super, klor, danke!“ kommentierte und zunächst dem jungen Mann zurechnete. Wir hatten gar nicht damit gerechnet, dass auf der Straße auch Autos fahren und die Agricolastraße als Fußgängerweg missbraucht.  Sie scheint aber auch wirklich nicht die Pulsader von Glauchau zu sein. 
Vielleicht aber, so ging es mir durch den Kopf, ist „Du Orschloch“ einfach nur ein nett gemeinter Gruß, den sich die Einheimischen gerne sagen.
Es heißt hier ja auch „Guden Toch“ statt „Guten Tag“, Thüringen lässt grüßen und ein reines Sächsisch ist es sicher nicht, was hier gesprochen wird. Also versuche ich mich gegenüber Einheimischen nicht als Nachmacher des Sächsischen zu präsentieren.
Am Abend machen wir noch einen Spaziergang durch die Agricolastraße, die in weiten Bereichen von leerstehenden und verfallenden Häusern geprägt ist zur Lichtensteiner Straße (Grenzstein Glauchau / St.Egidien) bis wir uns dem sowieso geschlossenen Bismarckturm nähern. Dann treten wir den Rückweg durch die ausgedehnte Kleingartenanlage vorbei an der „Gaststätte Gartenfreunde“, die demnächst auch geschlossen haben wird und als öffentliche Gaststätte auch gar nicht erkennbar ist, und stoßen an der Lungwitzer Strasse wieder auf die Stadt. 
Nach einem erholsamen Abend im wirklich empfehlenswerten Hotel Meyer traten wir nun am Folgetag die Heimreise an. Unser Taxifahrer konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als ich ihm von der Begegnung mit dem Autofahrer vom Vortag und seinem „sächsischen Gruß“ erzähle. 
Nun standen wir also wieder am Bahnhof und unterhielten uns über die Umstände, unter denen die Großeltern bzw. Eltern Glauchau verlassen mussten. Ob sie 1948 auch den Zug nach Göttingen genommen haben?
Glauchau erscheint mir wie ein verwunschenes Städtchen. Schon geografisch hat es alles, was man braucht: Fluss, Tal, Berg, von allem etwas, von nichts zuviel. Eine gewisse Ordnung, eine Ober- und eine Unterstadt. Die Leute haben Geduld und eine gewisse Sanftmut, sind freundlich, manchmal mürrisch, nie unverschämt und haben ein Beharrungsvermögen. Hätte es meine Mutter hier ausgehalten?  
Mutter war stets ungeduldig und als die Familie im Aufnahmelager Friedland ankam, hat sie versucht, sich vorzudrängen. Dabei war sie zunächst erfolgreich, wurde dann aber mit der ganzen Familie ans Ende der Schlange zurück geschickt. 
Ja, der Schalk saß ihr stets im Nacken und wenn es etwas von ihr übrig geblieben ist, dann sicher ihr Lachen, das alle, die sie kannten, in Erinnerung behalten werden.     
Was aber werde ich von Glauchau in der Erinnerung behalten? Es erscheint mir wie ein Traum, durch diese Straßen zu laufen, fast traumatisch. Die Realität kann mir hier nichts anhaben. Ich habe das Gefühl, da waren außer unserer kleinen Gruppe noch mehr Menschen in dieser Stadt, die ihre Erinnerung suchten.
„Das könnte schon möglich sein.“ würde meine Mutter dazu sagen und vermutlich versonnen schauen, wenn ich ihr etwas von Glauchau erzählen würde.  





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