Montag, 29. August 2011

1999 - III


Mein lieber Fabricius

Er blickte auf und sah zu seiner Rechten den Herkules über den kahlen Sträuchern. Links gleißte die Wintersonne über der Dönche. Vor ihnen im Schnee versteckten sich ungefähr 40 x 40 cm Platz für die letzte Ruhe. Das hätte nicht sein müssen, sagte der Vater. Sie gingen noch ein Stück über den ehemaligen Truppenübungsplatz, heute eine zum Spazieren ein wie gemachtes Stück Landschaft. Vater wusste nicht, dass der Sohn hier seine Grundausbildung erhalten hatte, mehrmals in Schlammpfützen zum Hinlegen gezwungen und hinterher ausgemergelt und ausgepumpt zum Foto mit der Kompanie genötigt wurde. Auch die damaligen Kasernen dienen nun einer anderen Bestimmung. Sie kamen an einer Bank vorbei, die einen schönen Ausblick auf das Gelände gewährte. Hier habe ich früher oft mit Deiner Mutter gesessen, kam knapp über seine Lippen. Ein Stich ins Herz des Sohnes. „Zuletzt nicht mehr, da hat sie ja nichts mehr gemacht.“ Der Blick reichte von hier bis zum VW-Werk nach Baunatal und wie oft mochten die Eltern hier gesessen haben an warmen Sommerabenden? Die Autobahn führt durch das Bild und durchkreuzt das Panorama von Ost nach West. Die Autobahn nach Dortmund, auf der er oft genug fuhr, sehnsüchtige Blicke auf die grauen Betonkästen werfend, auf das, was einmal den Rahmen für eine einfache Familie bildete. Die Siedlung war, auf dem Hügel liegend, gut zu sehen auf der Durchreise. Fast ein Vierteljahrhundert war vergangen, da er, mit nicht viel mehr als ein bisschen Bettwäsche und ein Paar Tassen aus dem „Haus“ seiner Eltern ausgezogen war, nachdem klar war, dass der Vater kein Einsehen in neue Zeiten gewinnen wollte, ferner eher gewillt schien, seine eigene, autoritäre, Erziehung wohlwollend weiter zu geben. Er tauschte ein halbes „Kinderzimmer“ gegen eine möblierte Altbaubude ein, die allerdings den Vorzug hatte, in der Nähe einiger Studentenkneipen zu liegen. Dort fand er im Kreis seiner ehemaligen Schulkollegen so eine Art Ersatzzuhause. Sie spielten in einem über einer ehemaligen Werkstatt gelegenen Raum einen aussichtslosen Blues nach dem anderen. Eine echte Perspektive hatte die Band nicht, außer ein paar Tonbandaufnahmen blieb nichts übrig. „Blues Unlimited“ „Du müsstet doch noch einige Tonbänder von mir haben.“ Sagte er zu seinem Vater. Der meinte, seine Musik sei es ja nicht gewesen, er hätte die Bänder überspielt. Wieder ein Stich, alles war noch zuhause. Weder die Eisenbahn, noch die Bänder hatte er beim Auszug mitgenommen, nie daran denkend, dass der Vater Gegebenes weiter als sein eigen betrachten würde. Nun wusste er, Wolfgang, dass dieser Mann, sein Vater, alle Spuren vernichten würde, alles was je für ihn interessant wäre, vernichten und alle Informationen zurück halten würde. Spurlos wie seine eigene Existenz, die Politik der verbrannten Erde ins Persönliche umgesetzt. Wolfgang, Mensch, was haben wir bloß von unseren Kindern, hörte er die Klage seiner Mutter im Ohr. Was hatte er von seinen Eltern? Wolfgang steht nun an einem Reihenurnengrab, gerade noch die anonyme Verbrennung und Bestattung der Mutter verhindernd. Und irgendwann wird sich der Vater auf eigenen Wunsch hin anonym bestatten lassen, als letzten Gruß an seinen Sohn. Diese anonyme Seelenlosigkeit kotzte ihn an, ihn, den Wolfgang. Der seinen Namen nach dem Namen des Bruders seines Vaters erhalten hatte. Noch nicht einmal der Name gehörte ihm. Denn Wolfgang war tot. Ihm geriet die Decke eines Krankenhauses in Rom zum Verhängnis. Er war dort wegen seiner Verletzungen während der Kämpfe um Monte Cassino untergebracht und bei einer Bombardierung stürzte diese ein.
Wolfgang, der mittlere Sohn eines pommerschen Geschäftsmannes, nahm sich des jüngsten Sprosses der Familie mehr an als der älteste Bruder. Und so war eben dieser Wolfgang in guter Erinnerung geblieben und mit grossen Erwartung verbunden gewesen. 

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